— Meine größte Freude seid ihr Kinder, weißt du das? Und vor allem du, erzähl das aber nicht den Mädchen.
Bei uns oben herrschte mehrheitlich die Meinung, Tante Peprl hätte es dort unten schön ruhig, und wegen ihrer Hüftprobleme sei es auch ihr Wunsch gewesen, nicht so weit oben zu wohnen. Sie selbst sprach so ähnlich darüber.
Was für ein Glück, meinte sie, daß sie trotz der schrecklichen Wohnungsnot in Prag so nah bei uns wohnen könne. Manchmal versuchte sie über ihre Existenz sogar zu scherzen — in der Art, wie sie es aus der oberen Familienetage kannte.
— Ich trainiere hier unten schon für den Friedhof.
Weit und breit gab es in Prag keine Familie wie die unsere. Die anderen Brutzellen der Gesellschaft waren wesentlich übersichtlicher. Ich konnte mir lange Zeit trotzdem keine anderen Existenzumstände vorstellen und hatte auch gar keinen Grund dazu. Meine Normalität sah so aus, daß ich pausenlos und intensivst von lauter mir zugewandten Frauen umgeben war. Diese fragten mich zwischendurch nicht nur nach meinem allgemeinen Befinden, sondern auch nach ganz speziellen Dingen, die in anderen Familien, wie ich annahm, kaum abgefragt wurden. Unter Umständen bekam ich mehrmals am Tag folgendes zu hören:
— Hast du heute schon gekackt, Georg?
— Immer schön im Sitzen essen! Sonst rutscht dir alles gleich nach unten, und du bekommst dicke Beine.
— Hast du heute schon… groß, sag mal?
Jedesmal war ein anderer Akzent dabei, manchmal kam die Frage aus Versehen auf Ungarisch.
— Kakiltäl ma mär, Georg?
Für ihre Penetranz konnte ich meine Damen problemlos bestrafen — mit harmlosen Lügen über eine langandauernde Verstopfung oder über Blut im Urin. Die kurze Erstarrung, die nach solchen Scherzen die ganze Wohnung durchfuhr, war erfrischend. Zu den mich liebenden Frauen konnte ich bald auch meine beiden Cousinen rechnen, die wesentlich schneller reiften als ich und auch in ihrer Fürsorglichkeit schnelle Fortschritte machten. Dabei war eine von ihnen jünger als ich. Der Vater dieser beiden Kleinode, mein Onkel ONKEL, konnte mir als Gegenspieler und männlicher Konkurrent niemals gefährlich werden. Ich allein war das männliche Prachtstück unseres Geschlechts.
Die Schar der fraulichen Wesen um mich herum wurde noch durch etliche, nicht bei uns wohnende Großmütter verstärkt. Manche von ihnen waren allerdings nur virtuelle Großmütter, weil sie enkellos geblieben waren. Bei diesen zusätzlichen und ausnahmslos großbusigen Wesen handelte es sich um die Mütter der geflüchteten oder verstoßenen Männer. Diese oft schon verwitweten oder eben alleinstehenden älteren Damen kamen, weil sie auf die lebenslustige und anziehende Gemeinschaft in unserer Wohnung nicht verzichten wollten. Sie schlugen sich logischerweise auf die Seite der Majorität und wetterten offen gegen ihr eigenes Fleisch und Blut, vor allem aber gegen ihre neuen Schwiegertöchter.
— Er war so ein süßer Junge! Leider ist er immer wieder an schlechte Freunde geraten — und jetzt an diese Frau.
Renata, die Mutter des Onkels, hielt sich, wenn es um ihren einigermaßen präsenten Sohn ging, mit Kritik selbstverständlich zurück. Die übrigen freundlichen Geschöpfe hießen Grete, Sidla und Ludmila, wobei die letztere eine echte Großmutter von mir war — der zu ihr gehörende Sohn war mein mißratener Vater. Alle diese Omas und Fast-Omas kamen zu uns in erster Linie natürlich wegen uns Kindern, wollten uns wachsen und reifen sehen, und sie wurden in der Reihe der großen Dreizehn alle schon einmal aufgezählt. Besuchsweise kam zu uns noch die in dieser Aufzählung ebenfalls vorkommende Zilli, die öfter aus ihrer Kleinstadt nach Prag reiste und bei uns dann einige Tage wohnte — bei extremen Wetterverhältnissen waren es manchmal Wochen, ihr Häuschen war etwas baufällig. Zilli war nicht — wie Tante Bombe — die ehemalige Geliebte eines Anwaltskollegen meines Großvaters Schornstein, sie stand auf der Wertskala bedeutend höher. Sie war die LEIBLICHE GELIEBTE dieses Großvaters und war eine kleine und wunderschöne Dame. Ihre edle Herkunft sah man ihr sofort an. Über meinen Großvater Schornstein muß man unbedingt folgendes wissen — er war in unserer Familie das präsenteste aller Phantome, obwohl er schon lange vor dem Krieg gestorben war. Er konnte zwar nicht mehr zum Leben erweckt werden, dafür hatte er genügend Zeit, wie mir oft versichert wurde, uns allen vom Himmel aus zuzusehen.
Zilly und ihre ehemalige Rivalin — meine Hauptgroßmutter Lizzy — verstanden sich prächtig. Zilly und Lizzy waren seit langem die engsten Vertrauten, die alten Wunden hatten sich sogar schon vor dem Krieg gewandelt oder verflüchtigt. Die beiden Frauen konnten sich stundenlang unterhalten, abendelang über die wunderbaren Extravaganzen und unerhörten Scherze ihres geliebten Mannes und genauso geliebten Liebhabers austauschen. In seiner Kanzlei hatte Joseph Schornstein nur stundenweise gearbeitet, möglichst nur vormittags. Dann ging er ins Cafehaus Royal, um seine Freunde, mitunter auch seine Frau zu treffen und mit ihnen allen seine Spaße zu treiben. Zum Skifahren in die Alpen fuhr er am liebsten mit seiner Geliebten — also mit der sportlicheren Zilly. Mit Zillys Ehemann ging er regelmäßig fechten. Die beiden Männer waren die besten Freunde.
Wenn ich in Gedanken durch die vielen Räume unserer Prager Wohnung streife, überkommt mich das Gefühl, daß es dort vor Lustemissionen pausenlos geflimmert haben muß. Egal, wohin ich ging, traf ich eine Frau, die mich anlächelte und von mir begeistert war. Ich wurde oft ungebremst und unkontrolliert von physisch spürbaren Glückswellen überflutet. Auch der wunderbare Duft dieser Frauen muß mich stark gemacht und geformt haben. Wie man heute genau weiß und farbfleckig illustrieren kann, unterlaufen gerade die Duftreize die großhirnrindliche Prüfinstanz, strömen ungefiltert in das limbische System und beschießen mitunter munter auch den Schwanz.
Die Schattenseite meines Erwachsenwerdens war dadurch vorgezeichnet: Außerhalb der Wohnung wurde ich vollkommen anders behandelt. Ich wurde mit giftigen Düften traktiert, mit steifen Gesichtszügen abgebügelt, mit verständnislosen Blicken in den Boden gestampft. Und wenn ich jemanden zu bedürftig anglotzte, konnte dieser böse Fremdling auch furchtbar feindselig werden. Ich hörte trotzdem nicht auf zu hoffen. Zum Ausgleich schmiß ich manchmal Steine in provokant wirkende Fensterscheiben.
Meine Bereitschaft zu lieben war mir sicher anzusehen, und ich wurde bei der ersten Gelegenheit, die sich anbot, und ohne daß ich die auf mich zukommende Gefühlseruption vorausahnen konnte, eines Tages zum Lustknaben erwählt. Es war bei einer Busfahrt, die vom Schriftstellerverband — dem Arbeitgeber meiner Mutter — organisiert worden war und bei der die aufgeweckte Jugend historisch wertvolle Burgen und Schlösser besichtigen sollte. Der Tag zog sich hin, die Besichtigungen waren langweilig, und wir entfernten uns immer weiter von unserer mütterlichen Großstadt. Die Rückfahrt war dann endlos. Auf den besten Plätzen — als diese galten selbstverständlich die auf der hinteren Sitzbank, weil sie von den mitfahrenden Erwachsenen am schlechtesten zu überblicken waren — versammelten sich einige geschlechtlich akzelerierte Mädchen, die das Pech hatten, keine adäquat entwickelten Jungs bei der Hand zu haben. Als es dunkel wurde, sprachen sie mich und meinen ebenfalls niedlich aussehenden Freund an und luden uns zu sich nach hinten. Dann legten sie los. Wir — klein wie wir waren — saßen abwechselnd auf den Schößen der liebeshungrigen und zahlenmäßig überlegenen Schriftsteller- und Lektorentöchter und wurden pausenlos bearbeitet — das heißt geküßt, liebkost, weitergereicht und zurückgezerrt. Es war unendlich schön, und ich hoffte, der Fahrer würde sich verfahren, nie wieder nach Prag zurückkommen und mein Glück, die unbeschreibliche Süße in meiner Brust, ewig andauern lassen. Die Mädchen eroberten vor allem meinen Kopf und meinen Mund, ich persönlich nahm mir vor allem ihre Oberkörper vor. Diese waren so wunderbar warm, außerdem fehlten ihnen die üblichen Angst-, Scham- und Schutzschranken. Meine Hände griffen bald nach den mir damals gewaltig vorkommenden Brüsten, und ich registrierte zum ersten Mal ihre Positions- und Konsistenzunterschiede. Die eigentliche Entdeckung war aber eine ganz andere: Kein einziges der Mädchen hatte etwas dagegen, dort so zielgerichtet angefaßt zu werden. Ich war voll und ganz in meinem Element, ahnte allerdings voller Unglauben, daß es doch eine Art Abschluß, ein grausames Ende und einen Zustand danach geben würde.
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