Natürlich konnte ich selbst auch nicht anders, als mich jeden Abend mühsam die Geländepunkte des zwanghaften Spiels entlangzuhanteln, bis mein Bewusstsein endlich losließ und in bedeutungsvollen Unsinn versank. Der täglich von mir verlangte Abstieg in die Traumwelt hatte zu dieser Zeit weder etwas Beruhigendes noch etwas Aufregendes für mich. Ich fantasierte sehnsüchtig von einer Welt, in der man niemals schlafen musste. Eine Welt ohne erleuchtete Türspalte, die mit einem Ruck zugeklappt werden konnten.
— Angenehme Träume!
Manchmal trieb ich meine Mutter mit meiner Bettelei, dieses oder jenes Wort der Einschlafliturgie noch einmal zu wiederholen, damit das Protokoll auch wirklich eingehalten wurde, so zur Verzweiflung, dass sie ausfällig wurde und mir drohte, die Tür von außen zu versperren, wenn ich nicht sofort Ruhe gab. Natürlich weinte ich dann, so gerade noch hörbar , wie ich konnte, einige Minuten lang, damit sie merkte, wie sehr sie mich mit ihrer Drohung eingeschüchtert hatte, bis sie zurück kam und eine dem feierlichen Vokabular des Einschlafrituals entsprechende Entschuldigung aufsagte, die ich sie dann, angetrieben von der kraftspendenden Wirkung gestillter Tränen, noch ein paar Mal wiederholen ließ.
Und schließlich Nummer vier. Meinen ersten Regenschirm bekam ich — ich erinnere mich genau — mit fünf Jahren. Als ich ihn sah, nahm ich ihn zuerst gar nicht als Schirm wahr. Für den Bruchteil einer Sekunde, für jene kurze Zeitspanne, die wir den ersten Blick nennen und später gern für die größten Fehlentscheidungen unseres Lebens verantwortlich machen, für diesen flüchtigen Moment war er etwas anderes, beinahe Lebendiges, ein Mysterium an Struktur, das sich in seltsamer Spreizgebärde auf dem Küchenfußboden niedergelassen hatte und mich mit einem einzigen ausgefahrenen Fühler anstarrte, auf dessen Spitze ein blendendes Korn Sonnenlicht balancierte. Wie konnte etwas nur so aussehen? Mit diesem langen, am Ende geringelten Schwanz, mit dieser breiten Hutkrempe aus schwimmhäutig bespanntem Stoff und dem sonderbaren Muster, das ihn bedeckte: eine Wolke von weißen Punkten, von denen manche durch dunkelblaue Linien verbunden waren. Erst ein paar Tage später begriff ich den Sinn dieser Verzierung. Ging man unter dem Schirm durch den Regen, konnte man in eine reizvolle Miniatur des nächtlichen Sternenhimmels blicken. Sein erstes Loch bekam der kleine Kinderregenschirm übrigens in der Umgebung der Plejaden, einem blassen Schönheitsfleck der Milchstraße, der aus ungefähr tausend Sternen besteht und für das ungeschulte Auge leicht mit einer verunreinigten Brille oder einer Glaskörpertrübung zu verwechseln ist.

Der Riss war in meinem sechsten Lebensjahr aufgetaucht, gegen Ende eines ungewöhnlich heißen Sommers. Im Unterschied zu all den anderen Gegenständen meiner Kindheit war er etwas, das man nicht besitzen konnte; der Riss besaß einen, wenn überhaupt. Aber seine eigentliche Natur war die völliger Ungreifbarkeit, jenseits aller Fragen von Besitz.
Er erschien eines Morgens plötzlich an einer Kellerwand, erstreckte sich bis zum Rand eines alten Regals, in dem längst nicht mehr verwendete Geräte und Werkzeuge lagerten. Und vielleicht hörte er da auch auf.
Er tat es nicht.
Mein Vater, verschwitzt, seine Hände schmutzig und müde vom Verrücken des schweren Eisenregals, betrachtete das Ausmaß des Risses. Die ganze Wand entlang. Meine Mutter und ich standen im Hintergrund, hilflose Statisten, die auf das nächste Stichwort des Regisseurs warteten.
— Dreck, sagte mein Vater. Verdammter Dreck.
— Da hinten hört es vielleicht auf, sagte meine Mutter.
— Unsinn. Der geht immer weiter. Dass da die Wand ist, bedeutet nichts.
— Aber er geht nicht über die zweite Wand.
— Hab ich das behauptet?
— Nein, aber –
Mein Vater drehte sich um.
— Hab ich das etwa behauptet? Bringt uns das irgendwie weiter?
— Nein.
— Ich hab nichts von der verfluchten zweiten Wand gesagt, sagte mein Vater und wandte sich wieder dem Riss zu. Die zweite Wand interessiert mich nicht.
— Okay.
— Der Riss geht weiter, er schert sich nicht um Ecken. Er geht einfach weiter.
— Aber –
— Was aber ? Red nicht über Dinge, von denen du nicht die geringste Ahnung hast.
Meine Mutter sagte nichts mehr. Ich war verwirrt. Die Idee eines Risses, der sich weiter erstreckte als alle Wände, war mehr, als ich mir vorstellen konnte. Konnte ein Riss ohne eine Wand überhaupt existieren? Aber es hätte in diesem Augenblick nichts gebracht, meinen Vater irgendetwas zu fragen. Er stand nur da und schaute auf die seltsame Fieberkurve, die die Nordwand unseres Kellers zierte. Sein Gesicht war dabei von einer bedrohlichen Ausdruckslosigkeit. Es zeigte keine Wut, aber irgendetwas bereitete sich darin vor. Die Kiefer mahlten, die Augen blinzelten viel und schnell. Selbst seine Bartstoppel schienen sich zu bewegen, wie die Punkte auf einem rauschenden Fernsehschirm.
Dann riss er sich von dem unangenehmen Anblick los und ging an uns vorbei die Treppe hinauf.
Den ganzen Abend dachte ich über die unbegreiflichen Eigenschaften des Risses nach. Ich sah aus dem Fenster. Ging der Riss da unten einfach weiter, durch die Luft, als unsichtbare Verwerfung? War der Raum an dieser Stelle entzweigebrochen? Und was geschah, wenn man ahnungslos hindurch rannte? Man knickte einfach in der Mitte ein oder platzte an der Seite auf. Wie sah ein Mensch überhaupt aus, innen? Ich brütete über die sonderbaren Einsichten, die meinem Vater den ganzen Tag durch den Kopf gehen mussten. Wie fühlten sich solche Einsichten wohl an? Es war ohne Zweifel unangenehm, sie zu besitzen. Er geht einfach weiter .
In dieser Nacht träumte ich von riesenhaften Regenwäldern, die sich mit langsamen Stiefelschritten über den ganzen Erdball bewegten und ihn langsam verdunkelten. Ich wachte auf und musste so dringend aufs Klo, dass ich es fast nicht mehr rechtzeitig schaffte.
— Ich bin mir sicher, dass das nicht ohne Grund passiert, sagte meine Mutter. Ich weigere mich, das irgendwie als Strafe zu betrachten, weil ich … weil ich glaube, dass uns dieser Riss als Familie noch enger zusammenschweißen wird.
Sie sagte das natürlich nicht so, in einem Satz, nicht einmal in einem einzigen Gespräch. Es brauchte schon mehrere Tage, bis sie diese Essenz aus der verwirrenden neuen Situation herausdestilliert hatte.
Das fertige Konzentrat an Optimismus, das meine Mutter anbot, wurde von meinem Vater mit einigen sachlichen Erläuterungen vom Tisch gefegt. Er führte Zauberworte wie Fundament, Tragfähigkeit und Naivität ein. Die Naivität unseres beschädigten Hauses war dabei das stärkste Argument.
Natürlich verfehlte er, trotz seiner Skepsis, die Wahrheit, die meine Mutter längst erkannt hatte: Einen guten Teil der Tageszeit, die er sonst mit finsteren Vorbereitungen zu Panikattacken und Wutausbrüchen verbracht hatte, widmete mein Vater nun der Erforschung des Risses. Immerhin war es sein Metier, er war gefragt — nicht von meiner Mutter oder seinem Sohn, deren Bitten und Anliegen er zumeist als linguistisches Phänomen abtat, nein, er war gewissermaßen von der Natur selbst gefordert worden, durch das unvorhersehbare Absinken des Hauses, für das er den Kaufvertrag einst eigenhändig unterschrieben und dessen Garten er aus eigener Kraft bepflanzt hatte.
Er war es im Übrigen, der dem Riss seinen Namen gab. Er nannte ihn: Riss . Manchmal auch: Risss .
In seinem Arbeitszimmer stand eine Schiefertafel, die mir, der ich noch keinerlei Gedanken an unverrückbare Tatsachen wie das Erwachsenwerden, den Tod oder das implodierende Universum verschwendete, Schauer über den Rücken jagen konnte, wenn ich mich ihr mit meinem Finger näherte: Lange bevor ich sie berührte, teilte sich ihre Oberflächenbeschaffenheit, jene furchtbare Mischung aus glatt und rau, meiner Haut mit, so ähnlich wie wenn man mit der Hand über einen knisternden Fernsehbildschirm wischt.
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