Es war Sonntag, ein angenehmer Tag, der sich blau anfühlte, obwohl dieser Morgen schneeweiß war. Nachdem ich aus dem Fenster geschaut hatte, ging ich wieder ins Bett. Die Körperwärme, die liegen geblieben war, empfing mich wie eine Haut, die ich vorübergehend abgestreift hatte, ich legte mich hinein und wurde sofort wieder müde. Unter mir waren die Geräusche von Möbeln zu hören, die verrückt wurden; mein Vater arbeitete im Keller, vielleicht stand er kurz vor einem Durchbruch. Draußen musste es eiskalt sein, denn die Scheiben waren beschlagen, obwohl sie gerade erst letztes Jahr mit neuen Dichtungen versehen worden waren. Ein kleinwüchsiger Mann, der unangenehm nach Salbe roch, hatte sie angebracht.
Ich rollte mich auf den Rücken. Trotz der Müdigkeit würde ich nicht mehr einschlafen können. Das helle Winterbild mit seinen kräftigen weißen Farben hatte mich geblendet, und wenn ich jetzt die Augen schloss, erschien ein dunkelgrüner Hintergrund.
Ich stand auf.
Mit nackten Füßen ging ich durchs Zimmer. Früher Morgen. Eiskalter Boden, Teppich, wieder eiskalter Boden. Ich holte mir meine Sammlung von Spielfiguren mit ins Bett.
Sie fielen in einem Durcheinander aus der kleinen Holzkiste, verbreiteten ihren charakteristischen Geruch nach Plastik und hart gewordenem Industrieleim, der bereits in meinen Handflächen imprägniert war.
Es gab zwei Dinosaurier, denen ich aus kosmetischen Gründen die dünnen Arme gebrochen hatte und die sich seitdem sehr fügsam und brav verhielten. Ohne Arme sahen sie sogar noch ein wenig Furcht erregender aus. Den einen Arm hatte ich einem Elefanten auf den fehlenden Rüssel geschraubt. Spielfiguren überstehen jede Form von Transplantation.
Dann ein berühmter General namens Sunny. Berühmt war er, weil er viele Orden an der Brust trug, ein kleines Quadrat aus Farben, dort, wo man sonst die Hand ablegte, um hochheilig zu schwören oder den eigenen Herzschlag zu spüren. Der General war kleiner als die Elefanten, natürlich, da Generäle immer kleiner sind als Elefanten, egal wie viel Macht sie haben. General Sunny hatte außerdem noch ein Gewehr, das Luftbläschen von sich geben sollte, wenn man es mit Seifenwasser füllte. Aber das war, wie die kurze Lebensskizze von General Sunny auf der Originalverpackung, nichts als eine Legende. Ich hatte es einmal ausprobiert und das Ergebnis war sehr mickrig ausgefallen. Das Wasser blubberte aus dem Lauf der Kanone und tropfte aufs Bett. Meine Mutter entdeckte die Flecken und — sagte nichts. Schaute lange auf die Tropfenspuren und sagte nichts. Dabei war es nur Seifenwasser! Wasser, angereichert mit Seife. Es besaß einen milchigen Schimmer und war beinahe geruchlos, außer man hielt die Nase sehr nahe an den Fleck. Dann roch er natürlich nach Seife.
Es folgten eine Reihe Bauern, einfärbige, aus uralten Spielzeugsammlungen entwendete Soldatenfiguren, deren Beine in einer Art gefrorener Pfütze aus Plastik feststeckten, damit sie besser stehen konnten. Sie bestanden aus nichts als aus Posen und Haltungen. Einer hielt eine Fahne in der Hand und war gerade im Begriff, sie in den Boden zu pflanzen. Ein anderer zielte mit einem Gewehr, das nicht größer war als eine Tannennadel. Ein dritter hockte auf dem Boden und hielt den T-förmigen Fernzünder einer Bombe, gleich würde er ihn betätigen, und — Bumm! — der Staudamm bricht und der Fluss ergießt seine unkontrollierbare Wut über das Land, das Wasser tritt über die Ufer, die Städte versinken und ich, im Marinetaucheranzug, kämpfe mich durch das Volksschulgebäude, das vollkommen unter Wasser steht und in dem ein paar Lehrer gefangen sind. Sie sind über mein beherztes Einschreiten und darüber, dass ich ihnen das Leben gerettet habe, so erstaunt und erfreut, dass sie mich wieder bei sich aufnehmen, in einer eigens für mich eingerichteten fünften Klasse. Ich bin der Klügste in dieser Klasse und ich muss nicht ins Gymnasium wechseln.
Die kleinen grünen Soldaten schmolzen, wenn man sie über eine Flamme hielt, auf eine sehr deprimierende Art und Weise: Ihre Körper fielen in sich zusammen, die Beine knickten ein, als knieten sie vor einem Altar zum Gebet nieder, und sie brannten kaum, es gab nur einen üblen Geruch, den man tagelang nicht aus dem Zimmer bekam. Am Schluss war der Soldat ein schwarzgrünes Häuflein Elend, auf dem zuoberst ein stecknadelgroßer Helm schwamm.
Das elfte Jahr meines Lebens. Ich war kleiner als alle anderen Menschen. Manche Leute auf der Straße trugen Koffer, in die ich gepasst hätte. Und vielleicht waren all diese Koffer tatsächlich voller Kinder, die sich die Glieder verrenkten, während ihre Atemluft langsam zur Neige ging.
— Alexander! Wo bleibst du denn?
Meine Mutter half mir mit dem Skianzug. Ich hasste ihn, weil er mir schon letzten Winter viel zu klein gewesen war, aber meine Mutter bestand darauf, dass kein Mensch so schnell wachse, und machte den Reißverschluss zu. Das kleine Metallding blieb knapp unterhalb meines Kinns stehen. Wäre es möglich gewesen, meine Mutter hätte es wohl noch weiter nach oben gezogen, über mein Gesicht und meinen Kopf hinaus.
Es dauerte eine Weile, bis es im Auto warm war, da die Heizung nicht richtig funktionierte. Der alte VW. Im Fahren wurde es manchmal kälter, dann wieder wärmer. Das Beste war, man ließ das Auto im stehenden Zustand ein wenig vorheizen und wartete, bis es sich zwischen zwei Extremen eingependelt hatte. Solange es in der Fahrerkabine nicht warm genug war, dass man darin wie in einer Luftblase durch die feindselige Umgebung der Stadt schweben konnte, weigerte sich mein Vater loszufahren. Wir warteten unterdessen im Haus, vollständig angezogen, während er im Wagen mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte.
Meine Mutter beobachtete ihn vom Küchenfenster aus.
Es war fast unmöglich, mit einem Skianzug auf einem der schmalen Sessel zu sitzen. Dazu trug ich noch Handschuhe, die ich mir abstreifte, als mir der Schweiß ausbrach. Auch die Haube legte ich ab. Sie fiel auf den Boden und meine Mutter hob sie blitzschnell auf, klopfte sie an ihrer Hüfte ab und gab sie mir zurück. Dann trat sie wieder ans Fenster. Ich sah, dass sie hinauswinkte.
— Immer noch zu kalt, sagte sie.
Mein Vater würde, wenn es warm genug war, zweimal hupen. Dann durften wir kommen und es ging los.
— Ich muss noch aufs Klo, sagte ich und zog den Reißverschluss auf.
Meine Mutter zog ihn wieder nach oben.
— Aber du warst doch gerade! Komm, wir fahren gleich los, dann kannst du im Gasthaus gehen. Die zehn Minuten hältst du schon noch aus. Wenn wir jetzt gleich –
Sie verstummte und spitzte die Ohren. Ein Motorengeräusch war zu hören. Und das Knirschen von Rädern auf hart gepresstem Schnee. Ohne etwas zu sagen, lief sie zur Tür hinaus. Ich taumelte ihr nach, die lange Unterhose kratzte an meinen Beinen.
Der alte VW fuhr in der Einfahrt langsam rückwärts.
Meine Mutter war bereits eingestiegen. Sie schluchzte. Ich nahm hinten Platz.
Wir fuhren los.
— Jetzt beruhig dich wieder, sagte mein Vater leise.
Seine Finger hatten nicht aufgehört, auf das Lenkrad zu trommeln, obwohl es im Auto inzwischen fast schon heiß war. Nur wenn er den Gang wechseln musste, dann griffen sie energisch zu.
Meine Mutter beruhigte sich tatsächlich. Autofahren nahm sie mit all ihren Sinnen gefangen. Sie sah aus dem Fenster, auf die vorbeiziehenden Gebäude, allesamt weiß und charakterlos. Sie drehte sich zu mir um.
— Suchst du uns einen Sender aus, hm?
Ich rutschte zwischen den beiden Vordersitzen durch und schaltete das Radio ein. Ich drehte zwischen einzelnen Sendern hin und her; mein Vater beobachtete genau, was ich tat. Als ich einen Sender gefunden hatte, der nur Musik zu spielen schien, setzte ich mich wieder hin.
— Schnall dich bitte an, sagte mein Vater.
Wir fuhren in eine Kurve, und es dauerte eine Weile, bis der Sicherheitsverschluss in den dafür vorgesehenen Schlitz passte. Er schnappte zu, ohne mir den Finger einzuklemmen. Der Gurt rieb an meinem Hals.
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