— Gelenkiger?
— Im Kopf, meine ich. Ich bin dafür einfach zu träge. Mir fällt nichts ein.
Sein Vater starrte in eine Ecke. Er ließ das Gehörte einwirken, dann verfinsterte sich seine Miene. Die Spitze seiner Nase wurde rot und glänzend.
— Aber das kommt mit der Zeit schon, meinte er.
— Nein, es kommt nicht!
— Jetzt schrei nicht gleich, sagte sein Vater. Meine Güte, als hätte ich dich zu irgendwas gezwungen.
— Nein, gezwungen hast du mich nicht.
— Wenn du nicht Regisseur werden willst, dann gibt es auch vor der Kamera genug Platz. Da bring ich dich schon unter.
— Papa.
— Ist ja schließlich nicht zuviel verlangt, nein, das wirklich nicht. Ich verstehe, glaub mir, ich verstehe dich. Regie führen ist nicht jedermanns Sache. Die einen gehen darin auf, die anderen glänzen vor der Kamera. Du hast ein ausdrucksstarkes Gesicht, fast wie ein Dirigent.
— Wirklich? sagte Walter schwach.
— Ich bringe dich unter, verlass dich drauf.
— Aber … muss es denn unbedingt Schauspieler sein? Ich meine –
— Ja, was bleibt denn noch übrig, Himmelherrgott? Schreiben willst du nicht, sagst du. Bitte, das akzeptiere ich. Und Journalismus, wo es ja aufs Schreiben nicht ankommt, kannst du auch nicht! Damit du mich jetzt nicht falsch verstehst, ich werfe dir das nicht vor. Ich selber kann es auch nicht, obwohl ich mir, wie du weißt, damit lange den Lebensunterhalt verdient habe. Gezwungenermaßen. Damit war ich nicht glücklich, du sollst glücklicher sein. Niemand hat verdient, sich in einem Metier künstlerisch auszudrücken, in dem er nicht zuhause ist.
— Wenn du meinst, sagte Walter.
Er wusste, dass er den Kampf verloren hatte. Nein, noch schlimmer, dass es überhaupt keinen Kampf gegeben hatte. Alles, wogegen er rebellierte, war weich und durchlässig. Er selbst hatte diesen Wunsch unlängst gehabt, Schauspieler zu werden, und nun schlug ihm sein Vater genau das vor. Es gab keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. Es war immer alles vorbestimmt. Solange es irgendetwas mit Kunst zu tun hatte, und sein Vater redete ruhig und freundlich auf ihn ein, bis Walter versöhnlich wurde und nickte.
Walter gab dem Nussknacker mit Zeige- und Mittelfinger eine Ohrfeige. Der hässliche Soldat überschlug sich und stürzte zu Boden, wo er sich ordnungsgemäß das Genick brach. Der Hebel lag daneben.
Die erste Ölfarbenausrüstung hatte Walter zu seinem siebten Geburtstag bekommen. Dazu eine echte Leinwand, die man in alter Manier an einem Holzrahmen festnageln musste. Aber vom Geruch der frischen Farben wurde ihm übel und er musste sich erbrechen. Also räumten seine Eltern die Leinwand und alle Malutensilien in den Keller und diskutierten Alternativen; immerhin musste schnell ein Ersatzgeschenk gefunden werden. Sie hatten in einem Ratgeber über Kinderpsychologie nachgelesen und darin einen Absatz über die Bedeutung von Geburtstagsgeschenken gefunden. Ein Geburtstagsgeschenk wieder wegzunehmen, selbst wenn man das Kind damit von einer Gefahr befreie, sei eine heikle Angelegenheit.
Da ihnen Wasserfarben zu banal waren, schenkten sie ihm ein Töpfer-Set. Seine Finger sollten so früh wie möglich geschult werden. Walter war begeistert. Er fertigte ein paar Tassen aus Ton, die ihm erstaunlich symmetrisch gerieten, und als er sie im Ofen unter der Anleitung seiner Mutter gebacken und anschließend glasiert hatte, wollte er, dass die Eltern beim Frühstück daraus tranken, vielleicht nicht immer, aber zumindest hin und wieder. Die Eltern lachten über den sonderbaren Wunsch ihres Sohnes und erzählten ihm, dass man aus Kunstwerken nicht trinkt. Man stellte sie aufs Klavier neben all die anderen künstlerischen Ausdrucksformen des Kindes und führte sie Besuchern vor, die sich dann höflich nach offensichtlichen Kleinigkeiten erkundigten, wie etwa dem verwendeten Material (Ton) oder der zugrunde liegenden Idee (Trinktasse).
Sein Vater wollte, dass er und seine Schwester vielsprachig waren, also schickte er den achtzehnjährigen Walter, der gerade die Matura mühevoll hinter sich gebracht hatte, für ein Jahr nach Paris, wo er Französisch lernen sollte. Englisch hatte er von seiner Mutter gelernt, die viele Jahre in Amerika gelebt hatte.
Er blieb das volle Jahr brav in Paris, traf ein paar ältere Künstler, die seine Mutter noch von früher (begleitet von der Geste eines rückwärts laufenden Karateschlags, der am Ohr in ein Winken übergeht, als wollte man sagen: Du bist mir vielleicht einer …) kannten und die sich sachlich und respektvoll über die Arbeit seines Vaters erkundigten. Seine Unschuld verlor er an Ben, einen jungen Studenten, der das japanische Undergroundkino verehrte. Walter hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass es etwas so Hinreißendes geben konnte wie einen jungen Franzosen, der den Namen eines japanischen Meisterregisseurs wie Shinya Tsukamoto oder Hiroshi Teshigahara auszusprechen versuchte. Er wohnte zeitweise ganz bei Ben, durchforstete mit ihm seine beeindruckende Sammlung von Videokassetten und ließ seine Wohnung in Montmartre verkommen, für die sein Vater weiter aus der Ferne einen ungeheuren Mietpreis bezahlte. Aber da Ben ein paar Kaninchen besaß, gegen deren Haare Walter offenbar allergisch war, wohnte er bald wieder allein.
Gegen Ende seines Aufenthalts war ihm die Stadt zuwider geworden. Er hasste den fauligen Sommergeruch der Seine, die Sirenen der Rettungsfahrzeuge, die mit ihrem bedrohlichen Ganztonschritt Gefahr verkünden, Gefaahr, Gefaaahr ; und wenn er aus irgendeinem Grund durch die Tuilerien oder über die Place de la Concorde gehen musste, kam er sich vor wie ein falsch proportionierter Mensch auf einem Kupferstich. Das Einzige, was er wahrscheinlich vermissen würde, waren die weißen, verzauberten Sessel im Jardin du Luxembourg, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schienen, obwohl sie natürlich ganz normale Outdoor-Möbel waren. Sehr oft stellte er sich vor, dass er ein Gespenst verscheuchen musste, wenn er sich hinsetzen wollte. Dann wieder sah er die vielen Touristen und dachte daran, dass sie die Gespenster waren, die durch Materie hindurchgehen konnten und nirgends Halt fanden auf der Welt.
Er war froh, als er endlich abreiste. Im Flugzeug schlief er ein und sah ein verregnetes Fußballfeld, auf dem eine kleine Jacht gestrandet war.
Er verbrachte die ersten Weihnachten wieder zuhause, bei seiner Familie, und wunderte sich, wie er es überhaupt so lange in Frankreich ausgehalten hatte. Ben kam ihm manchmal noch in den Sinn und er schrieb ihm lange Briefe, die allerdings unbeantwortet blieben. Er ertappte sich dabei, wie er im letzten Brief gleich sieben Wörter falsch schrieb und sich bei den Accents vertat. Schon nach ein paar Monaten waren seine Französischkenntnisse auf das Allernötigste zusammengeschrumpft.
Sein Vater verschaffte ihm ein unbezahltes Praktikum als Journalist bei einer großen Tageszeitung. Walter war dort sehr unglücklich. Am meisten kämpfte er mit der vorgeschriebenen Mindestlänge der Artikel. Seinem Gefühl nach hatte er alles Erwähnenswerte bereits in drei oder vier Sätzen gesagt. Dann wies ihn sein Vorgesetzter darauf hin, dass er die Hauptsache, etwa den Namen der Oper oder die Art des zu erwartenden Staatsbesuchs, gar nicht erwähnt hatte und dass obendrein alle Namen falsch geschrieben waren. Walter ließ die Kritik über sich ergehen. Er kniff dabei die Augen zusammen, wie Piloten, die scharfem Gegenwind ausgesetzt sind.
Um sich versöhnlich zu zeigen, fragte der Redakteur, ein Freund seines Vaters, Walter hinterher immer nach Paris. Er war noch nie dort gewesen und Walter gab bereitwillig Auskunft. Ihm fiel auf, dass er sich noch recht gut an alle Straßennamen erinnern konnte. Doch wenn der Redakteur etwas über das Flair oder die Gerüche, die Cafés, in denen angeblich heiß über unbeantwortbare Fragen diskutiert wurde, oder die spezielle Vibration des Lichts wissen wollte, erfand Walter einfach irgendwas. Der Redakteur nahm ihm die Geschichte jedes Mal ab, wenn Walter ein paar französische Ausdrücke einstreute, wo gar keine hingehörten. Eine augenzwinkernde Frage nach den Pariser Frauen (begleitet von einem Ellbogenstoß, der ins Leere ging) beantwortete Walter mit einer solchen Überzeugungskraft, dass er sich selbst gar nicht wieder erkannte. Seine Stimme nahm, wenn er log oder Geschichten erfand, einen besonderen Tonfall an, den nur er allein zu hören vermochte. Es blieb sein Geheimnis. In Wirklichkeit wollte er Paris natürlich so schnell es ging vergessen. Er wollte auch nicht länger dumme Artikel über Dinge schreiben, von denen er nichts verstand und zu denen seine Eltern so differenzierte Meinungen hatten, dass sie sie sich gegenseitig laut am Frühstückstisch vorlasen.
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