Das Land war so flach, dass man ringsum
bis zum Horizont sehen konnte.
Und der Horizont war gerade mal kniehoch,
manchmal ging er mir auch bis an die Hüfte.
Magda T.
Irgendwann gewöhnt man sich gegen alles.
Dr. Otto Rudolph
It looks like we’re getting closer
to the heart of this criminal artichoke.
Adam West als Batman
Raaba b. Graz, am 1. November 2006
Lieber Clemens Setz,
ich nehme an, Sie würden gerne erfahren, was alles passiert ist, nachdem Sie das Bewusstsein verloren haben. Zuerst haben wir versucht, Sie auf das Sofa zu legen. Aber das Sofa war zu schmal, und unsere körperlichen Kräfte sind, wie Sie ja gesehen haben, sehr begrenzt, und so sind Sie uns zurück auf den Boden gerollt. Dabei haben Sie sich die Wunde über dem rechten Auge zugezogen. Natürlich haben wir sofort etwas auf die verletzte Stelle gelegt (Eis, eingewickelt in ein Geschirrtuch), aber trotzdem ist Ihre Stirn rasch angeschwollen. Wir hatten, ehrlich gesagt, nicht erwartet, dass Sie derart leicht vom Sofa rutschen würden. Äußerlich sieht man Ihnen gar nicht an, dass selbst in horizontaler Lage der Schwerpunkt Ihres Körpers irgendwo in der Nähe des Bauches liegt. Dabei sind Sie doch so ein zierlicher, ja fast zerbrechlich wirkender Mensch! Wie dem auch sei, wir haben, als wir die Schwellung über Ihrem Auge gesehen haben, sofort beschlossen, Sie aus der Zone und in ein anderes Zimmer zu bringen.
Sie haben mich und meinen Mann nach den Schwierigkeiten gefragt, mit denen wir seit unserer Entscheidung, Robert wieder nach Hause zu holen, zu kämpfen haben — und nun haben Sie diese Schwierigkeiten am eigenen Leib erfahren. Bitte seien Sie versichert, dass uns das sehr, sehr leidtut, aber ich glaube, die Situation hat Ihnen vielleicht auch einen Einblick verschafft, den Ihnen ein Gespräch allein bestimmt nicht vermittelt hätte. Als Lehrer im Institut waren Sie möglicherweise von solchen Erfahrungen abgeschnitten.
Wir haben Sie schnell aus dem Zimmer getragen, da die Schwellung wirklich besorgniserregend ausgesehen hat und Sie außerdem nicht auf unsere Wiederbelebungsversuche reagiert haben. In der Küche ging es damit eindeutig besser. Sie haben die Augen aufgemacht und sich von uns auf einen Stuhl setzen lassen, aber dann sind Sie plötzlich wieder umgekippt und haben zu schwitzen begonnen, und Ihr linker Arm hat gekrampft, aber Gott sei Dank kannten wir das schon, es ist uns ja allen schon so ergangen. Eisberg — so nennen wir es. Dieses Gefühl, als wäre man unter Tonnen von Eis begraben. Da mussten wir alle mal durch. Klar, das sagt sich jetzt relativ leicht, weil wir schon lange damit leben und eine gewisse Resistenz oder zumindest Erwartungshaltung entwickelt haben. Aber auf nüchternen Magen — so wie bei Ihnen — kann einen das natürlich schon umhauen.
Robert lässt Sie übrigens herzlich grüßen. Zumindest lege ich sein Verhalten in diese Richtung aus. Bei ihm weiß man ja nie. Er wird im nächsten Jahr wohl nicht mehr ins Institut zurückgehen.
Wir haben Sie mit unserem Wagen ins Krankenhaus gebracht. Sie waren ein wenig verwirrt, aber auch damit haben wir schon gerechnet, denn mein Vater, zum Beispiel, der uns kurz nach Roberts Geburt besuchte, konnte einen ganzen Tag lang nicht mehr richtig sprechen, er hatte einen schweren Zungenschlag und hat gelallt, und ihm war abwechselnd heiß und kalt, und er hatte Schwindelattacken. Zuerst haben wir befürchtet, er habe vielleicht vor Schreck einen Schlaganfall oder so etwas erlitten, immerhin hatte er darauf bestanden, Robert auf den Arm zu nehmen. Davon gibt es ein Foto, aufgenommen vom Garten aus durchs Fenster.
Alles nur eingebildet, Indigo-Blödsinn, hat mein Vater gesagt. Sie wissen ja, die Leute seiner Generation und die damalige Zeit, der geringe Aufklärungsgrad in der Bevölkerung generell, also… Okay, wir wollten ja auch glauben, dass das alles nichts ist. Nichts Bleibendes, nichts, was wirklich mit unserem Kind zu tun hat. Nichts Reales.
Kinder nimmt man an der Hand, man berührt sie, hat mein Vater damals gesagt, und ich hab ihm nur meinen Rücken gezeigt, die Schrammen, die ich mir geholt habe vom vielen Hinfallen in dieser Zeit, den Hautausschlag im Nacken, auch die geplatzte Ader in meinem linken Auge hab ich ihm gezeigt. Damals konnte ich mit dem Auge sogar noch etwas sehen und bin dann natürlich erst zum Arzt gegangen, als es schon zu spät war, als die Sehkraft schon futsch war.
Lieber Herr Setz, wir hoffen, dass es Ihnen inzwischen bessergeht. Und wir möchten Ihnen versichern, dass wir keinerlei Vorurteile gegen Sie hegen — was immer auch der Grund für die frühzeitige Beendigung Ihrer Arbeit am Institut gewesen sein mag, wir maßen uns da überhaupt kein Urteil an. Wenn Sie wollen, können wir unser Gespräch anderswo fortsetzen. Selbstverständlich steht unser Haus Ihnen auch weiterhin offen, und wir freuen uns über Ihren Besuch, aber mein Mann und ich hätten auch Verständnis, falls Sie sich dem, womit wir seit nun fast fünfzehn Jahren immer wieder zu tun haben, nicht mehr aussetzen möchten.
Mit den besten Grüßen,
Ihre
Marianne Tätzel
In a field
I am the absence
of field.
Mark Strand
Am 21. Juni 1919 fand im britischen Flottenstützpunkt Scapa Flow, nahe der schottischen Küste, die Selbstversenkung der Kaiserlichen Deutschen Hochseeflotte statt. Der kurz zuvor von Deutschland unterzeichnete Vertrag von Versailles sah, neben der Rückgabe des Totenschädels des Häuptlings Mkwawa an die britische Regierung, auch vor, dass alle Schiffe unverzüglich übergeben werden sollten, aber der deutsche Admiral Ludwig von Reuter wollte seine Schiffe lieber versenken, als sie den Briten zu überlassen, die er für ein unkultiviertes Volk hielt. Seither liegen die Kriegsschiffe dort auf dem Meeresgrund, in etwa fünfzig Metern Tiefe. Und das ist ein Glück für die moderne Raumfahrt, denn aus den Wracks dieser seit nun fast hundert Jahren unter Wasser liegenden Kriegsschiffe wird auf Tauchgängen hochwertiger Stahl gewonnen, der beim Bau von Satelliten, Geigerzählern oder Ganzkörperscannern in Flughafen-Sicherheitsschleusen verwendet wird. Jeder andere Stahl auf der Welt ist — nach Hiroshima, Tschernobyl und den zahlreichen in der Erdatmosphäre durchgeführten Atombombentests — zu stark verstrahlt, um beim Bau solcher hochsensiblen Geräte verwendet zu werden. Hinreichend sauberen Stahl gibt es nur in Scapa Flow, in fünfzig Metern Tiefe.
Mit dieser Geschichte beginnt das bemerkenswerte, 2004 erschienene Buch Das Wesen der Ferne der Kinderpsychologin und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbret. An einem Samstag im Sommer des Jahres 2006 besuchte ich sie in ihrer Wohnung im villenreichen Grazer Bezirk Geidorf. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein halbjähriges Praktikum als Mathematik-Tutor am Helianau-Institut bereits abgebrochen. Der Leiter des Instituts, Dr. Rudolph, hatte mich davor gewarnt, jemals wieder einen Fuß auf das Grundstück zu setzen.
Ich suchte Frau Häusler-Zinnbret auf, um sie zu fragen, unter welchen Bedingungen Indigo-Kinder ihrer Meinung nach heute, zwei Jahre nach der Veröffentlichung ihres einflussreichen Buches, das in seinen Anfangszeilen hoffnungsvolle Töne anschlägt, in Österreich leben. Und ob sie wisse, was es mit den so genannten Relokationen auf sich habe, deren verständnisloser Zeuge ich während meiner Praktikumszeit des Öfteren geworden war.
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