— Hey, ich wollte nur, dass ihr wisst, dass es für mich wirklich in Ordnung ist, sagt der Wohnungseigentümer. Das wollte ich euch nur sagen. Ihr zwei seid mutig.
Sie laufen rot an, dementieren seinen Verdacht, erklären lang und breit, dass das alles ein riesengroßes Missverständnis ist, und verstecken sich anschließend voreinander: Die Mahlzeiten nehmen sie getrennt ein, in der Küche hängt ein Duschplan, auf Viertelstunden genau. Ihre Beziehung, das gemeinsame Bewusstsein, als Komplizen auf der Flucht zu sein, der eine schon seit Jahren, der andere erst seit kurzem, verändert sich schnell. Georg geht einkaufen. Ein Kleidergeschäft, das kurz vor der Schließung steht, bietet verzweifelt Rabatte bis zu 30 % an, die Schaufensterscheibe ist voller bunter Rufzeichen. Er stellt fest, dass der Himmel sich verfinstert hat. Die Leute auf der Straße stellen ihre Mantelkrägen auf, sofern sie entsprechend gekleidet sind. In einem anderen Jahrhundert hätten sie noch ihre Hüte festgehalten und die Spazierstöcke eng an ihre Körper gepresst. Das Haus, in dem er mit Wolfgang wohnt, steht da, ein düsterer, von Balkonen und flügelförmigem Efeubewuchs vermummter Monolith. In der Umgebung fallen ihm die vielen Schornsteine auf den Hausdächern auf: Rollkrägen, die in den Himmel ragen. Aus keinem einzigen steigt Rauch auf.
Die Wohnung ist immer eiskalt. Der Thermostat an der Wand hält mit seiner kleinen roten Diode dagegen, dass die Heizung einwandfrei funktioniert.
Jede Minute erscheinen irgendwo neue Schatten von verschiedenen unscheinbaren Gegenständen auf dem Zimmerboden oder an den Wänden, und im Licht der nackten Hundert-Watt-Birnen bekommt alles einen unwirklichen Charakter. So wie wenn man zu lange in einer Schlange wartet und plötzlich beginnt, die Dinge der Umgebung unangenehm klar und deutlich zu sehen, wie im Traum. Auf dem schmalen Balkon steht ein wackliger Sonnenschirm, der so alt ist, dass er schon fast mit der Mauer verwachsen ist. Georg und Wolfgang trauen sich nicht, ihn anzufassen, und berühren ihn nur mit der Schuhspitze. Wolfgang ist ängstlich, er wandert durch die fremden Zimmer, unschlüssig, wo er sich zwischen Umzugskartons und alten, mürrischen Möbeln, die nach ihren früheren Besitzern zu verlangen scheinen, hinsetzen soll. Durch die Fenster sieht man einige hohe Gebäude, die von der sinkenden Sonne in Schach gehalten werden.
Eine Unregelmäßigkeit im Fensterglas legt eine z-förmige Verwerfung über die Dächer der Stadt.
Sie halten es in der Wohnung nur bis zum Abend aus, denn wenn es langsam dunkler wird, bekommt Georg sogar Angst vor dem Mond (er verrät es Wolfgang mit sehr ruhiger und beherrschter Stimme), den er anfangs für eine Dekoration auf einem der höheren Nachbarhäuser gehalten hat. Er schämt sich für seine Angst und schimpft mit sich wie mit einem kleinen Kind.
Auch das schmale Bild, das in seinem Schlafzimmer hängt und wohl dem vorigen Mieter gehört hat, macht ihn nervös, dabei ist es nur eine naturgetreue Abbildung eines aus stürmischen Wolken ragenden Berggipfels. Aber trotz der warmen Farben, die der Amateurmaler verwendet hat, wirkt der Berg finster und massiv wie das zürnende Haupt eines Patriarchen; Georg will es nicht ansehen. Er hängt das Bild ab und schiebt es unter Wolfgangs Bett in dem anderen Schlafzimmer, dann geht er ins Bad und betrachtet sich eine Weile im Spiegel, bis ihm ein wenig leichter wird. Anschließend verlässt er die Wohnung und geht an der Rösselmühle vorbei, durch eine kurze Allee, die zu seinem alten Schulgebäude führt.
Er kehrt spätnachts zurück, löscht alle Lichter in der Wohnung, auch das Licht in dem Zimmer, wo Wolfgang sitzt und zu lesen versucht, und geht leise auf und ab, bis er müde wird.
Im Bad wäscht er sich ewig lang die Hände, als hinge sein Leben davon ab.
Mitten in der Nacht wacht er mit Herzrasen und dem Gefühl auf, sein Oberkörper stecke in einer unglaublich engen Erdröhre fest, und er muss zwei rote Tabletten schlucken. Sein Rücken, sein ständig angeschlagener Rücken hat sich wieder gemeldet.

— Pillen?
— Ja, Schmerzmittel. Ohne die war er ziemlich hilflos.
— Aha.
— Der eigentliche Grund für seine Flucht und alles, damals. Aber wie dem auch sei, jedenfalls wirken –

Die Pillen wirken erstaunlich schnell. Georg sitzt am Bettrand und dreht erleichtert die Medikamentenschachtel zwischen seinen Fingern; nur unbelebte Chemie schafft eine solche Verlässlichkeit.
Von den Schmerzmitteln wird er immer sehr müde. Dann werden seine Schultern schwer, und sein Herz fühlt sich an wie ein gepresster Blütenkopf in einem Herbarium. Er greift sich auf die Stirn und lässt die Hand lange dort ruhen, als wäre sie festgeklebt. Er erhebt sich und die Hand bleibt, wo sie ist. Jetzt fehlte nur noch, dass er die andere Hand hindurchsteckt, und er wäre ein Elefant für Kinder. Dann hört er, leise und tröpfelnd, die geflüsterten Befehle seines Körpers, sich hinzulegen. Alles wird angenehm, wie Watte, getränkt mit einer warmen Flüssigkeit. Sein Herz ist ein knisternder Strohstern. Er hört Melodien, die er schon längst vergessen geglaubt hat.
In den frühen Morgenstunden träumt er von einer weißen Kathedrale mitten in der Wüste. In dieser Kathedrale wird eine heilige Reliquie aufbewahrt, der Wunderkräfte nachgesagt werden. Es handelt sich um getrocknetes Stroh, das mit schwarzen Bändern zu einer kugeligen Menschenfigur zusammengebunden worden ist. In dem Stroh verbirgt sich die Asche eines alten christlichen Märtyrers. Beim Hochheben knistert die staubtrockene Reliquie, und der Priester schaukelt sie in seinen Armen wie ein Neugeborenes. Georg kniet vor der Reliquie nieder. Man hat ihm erklärt, dass er den mit heiliger Asche gefüllten Strohmann mit beiden Händen berühren und anschließend die Fingerspitzen zum Mund führen muss, um an der heilsamen Wirkung teilzuhaben. Er versucht es — aber die Strohpuppe zerfällt schon bei der ersten Berührung. Grauer Staub rieselt aus ihr, wirbelt auf, er wischt sich die Augen — rund um ihn beginnen die Menschen zu schreien, sie halten seine Hände fest, um ihn daran zu hindern, sich die Asche weiter ins Gesicht zu schmieren. Aber er muss es doch tun, die Asche brennt ihm sonst in den Augen! Er ringt eine Weile mit den fremden Menschen, dann wacht er auf und ertappt seine linke Hand dabei, wie sie seine rechte umklammert hält, als wollte sie sie erwürgen. Er lässt los.
Loslassen ist das Prinzip. Immer schon gewesen. Man lässt los, wenn einem das Schicksal eine günstige Gelegenheit bietet, an einem gleißend kalten Wintertag, allein in einem Wagen, der gerade erst von den Toten zurückgekehrt ist. Man lässt los, schneidet die Schnur durch und fährt davon, denn anders würde man es nicht übers Herz bringen. Es braucht eine Sekundenentscheidung, eine Eingebung, eine spontane Selbstentzündung, man lässt einfach den Fuß entscheiden, den Fuß auf dem Gaspedal, und das Pedal merkt, dass etwas Ungewöhnliches vor sich geht, und leistet Widerstand, was den Fuß nur noch mehr anstachelt, und der Rücken leidet währenddessen wie nie zuvor, brennt, jagt dissonante Schmerzakkorde durch die Wirbelsäule, ein bitterer Vorgeschmack der Tage, die noch kommen –

— Entschuldigen Sie, was haben Sie da eben gesagt?
— Das mit seiner Hand? Ja, das hat er oft gemacht. Ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat. So eine Art Krampf, von Zeit zu Zeit. Aber ich glaube –
— Nein, nein, vorher.
— Was? Der Traum? Ja, das ist witzig, weil er mir immer lang und breit erzählt hat, was er geträumt hat. Da war er richtig … richtig dogmatisch, könnte man sagen.
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