Walter hörte nicht mehr hin. Er schob Menschen wie Schilf zur Seite. Er stand vor Joachim und Franz.
— Oh, hallo, sagte Franz.
Da ihm vor Aufregung ein Frosch in den Hals gekrochen war, hob Walter die Hand zu einer lässigen Begrüßungsgeste.
— Ja, wenn — Ha!
Joachim ging auf ihn zu, umarmte ihn und tätschelte seinen Nacken. Walters Körper war sofort kraftlos geworden, sodass Joachim ihn nicht gleich wieder loslassen konnte. Er hing wie ein schlaffer Kartoffelsack in den Armen des Dichters. Dann war es Zeit, sich wieder aufzurichten.
— Du schaust fantastisch aus, brachte er hervor.
— Na ja, ich fühl mich ganz gut. Körperlich. Sonst ist diese Veranstaltung bisher allerdings eine einzige Höllenfahrt.
— Ja, allerdings, pflichtete Franz bei, nahm Joachims Hand und legte sie sich auf die Brust.
Die Geste war so überdeutlich, dass Walter besiegt zu Boden blickte.
— Der lässt kein gutes Haar an meinem Text. Alles total verdreht und gekürzt und verstümmelt, sagte Joachim. Aber gut, wenigstens steht der Originaltext in der Broschüre.
— Und bezahlt hat man dich auch ganz ordentlich, sagte Franz zu Joachims Hand auf seiner Brust.
— Oh ja. Geld hat er, dein Papa.
Und Joachim klopfte Walter, der sich inzwischen umgedreht hatte und in die gleiche Richtung schaute wie all die anderen Menschen auf diesem Planeten, auf den Rücken. Dein Papa . Ja, das stimmte, das da vorne am Rednerpult war sein Vater. Die Welt war ja so klein, andauernd fiel sie einem runter und dann suchte man stundenlang vergeblich nach ihr, weil sie in irgendeine Ritze im Fußboden gekullert war, die Welt.
— Joachim, sagte Walter hilflos.
— Hast du das gehört? sagte Joachim zu Franz. Er schafft es nicht einmal, einfach vom Blatt abzulesen.
Franz kuschelte sich an ihn, während er das sagte. Er begann Joachims Schal abzuwickeln und schlang sich das eine Ende um seinen Hals. Jetzt waren sie beide miteinander verbunden. Walter bildete Fäuste in seinen Manteltaschen. Er spürte, wie sich die Nägel in seine Handflächen gruben. Schlimm genug, dass er an einem kalten Tag wie diesem mit dieser albernen Mütze herumlaufen musste. Und dann noch diese unverhohlene Verachtung, die so offensichtlich war, dass man daraus einen steinharten Schneeball hätte kneten können.
— Säulen, sagte er und produzierte die ersten Atemwolken in dem stetig kälter werdenden Jahr. Haha. So eine komische Idee, oder?
— Find ich gar nicht, sagte Franz.
Er hatte sich den Schal etwas zu fest um den Hals gewickelt und wurde nun jedes Mal wie ein angeleinter Hund hin und her gerissen, wenn Joachim sich bewegte.
— Die dümmste aller möglichen Ideen, wenn du mich fragst, sagte Joachim und sah Walter an.
Mit größter Mühe stemmte Walter seine Mundwinkel in die Höhe.
— Kopf hoch, sagte Joachim leise zu ihm.
— Mir ist nur kalt, sagte Walter.
Sie warteten das Ende der Eröffnungsrede ab, dann gingen Franz und Joachim nach vorne, um ein paar Leute zu begrüßen. Walter ließ sich unterdessen von dem aus vielen, vielen Händen hervorbrechenden Applaus verscheuchen, als wäre sein Herz ein lärmempfindliches Tier.
Ich habe immer noch die Fähigkeit, mich selbst zu überraschen. Leider nur mich allein. Gerald scheint es mit großer Gelassenheit hinzunehmen, dass ich vor ungefähr einer Viertelstunde den Verstand verloren habe. Er scheint sich sogar mit mir über diese Entwicklung zu freuen und tut das, was er sonst nie in Gesellschaft tut: Er tanzt.
Vor einer Viertelstunde lag ich noch in meinem Zimmer und beobachtete die Decke dabei, wie sie langsam auf mich herabsank.
Niemand mehr da.
Alles ausgestorben.
Langsam ersticke ich an dem dichten Gestöber aus Selbstvorwürfen und Hoffnungslosigkeit. Wenn Lydia jetzt anruft, dachte ich, bringe ich das Telefon um. Ich erwürge es mit der Schnur. Wenn es ein Handy ist, zertrete ich es wie einen Käfer.
Niemand mehr da.
Clowns am Ende eines Korridors machen Späße, verhöhnen mich aus sicherer Entfernung. Ich will sie alle töten, sie mitreißen in meinen Untergang.
Zwischendurch weine ich, aber nur für ein paar Sekunden und ohne Tränen, es ist mehr wie ein verzweifeltes Beißen ins Leere. Ein hilfloses Händeringen, nur mit den Kiefern.
Da kommt Gerald zur Tür herein.
— Wie zum Teufel bist du hier rein … ach, Scheiße … dieser Steiner … Scheiße!
— Ich hab dich nur gesucht.
— Ah, dieser Wichser … diese faule Drecksau … dem trete ich in die Eier … kaputte Scheißtür …
Es ist unmöglich, unter diesen Umständen deutlich zu sprechen. Es herrscht schließlich Krieg. Krieg gegen den luftleeren Raum.
— Ich hab dich gesucht, wiederholt Gerald.
An seiner Stimmlage merke ich, dass er weiß, wie man mit Betrunkenen reden muss. Langsam und klar. Mit vielen Wortwiederholungen. Beruhigend und so wenig provokant wie möglich. Armes Kind.
— Und? frage ich.
— Nichts.
— Ist dir langweilig? Hat deine Mutter wieder keine Zeit? Liegt sie zuhause … ach, Scheißdreck, verdammter …
Mein Rücken tut weh. Ich muss aufstehen.
— Alex?
— Ja, ich weiß, ich bin betrunken.
Er sieht mich nur an.
— Tut mir leid, sage ich.
Im tristen Licht des Mittags habe ich, als ich in meinen beschämend kurzen Schatten gehüllt durch die Gegend spaziert bin, beschlossen, mich zu Tode zu trinken, allerdings nur so lange, bis alles wieder besser ist. Aus Faulheit habe ich dann irgendwann mittendrin aufgehört. Die Wirkung ist ungefähr dieselbe, als würde man mitten in einem Fallschirmsprung aufhören. Man zappelt hilflos zwischen Himmel und Erde bis vor die eigene Haustür und lehnt sich so lange dagegen, bis sie sich daran erinnert, dass sie seit fast einem Jahr kaputt ist und schon beim leichtesten Gegendruck aufgeht. Möglich, dass ich übertreibe. Aber was wollen Sie, ich bin betrunken. Meine Augen werfen Schatten, ohne dass dazu eine Lichtquelle nötig wäre, mir ist speiübel, und ich bin zu benommen, um mich aus dem Fenster zu stürzen.
Gerald setzt sich zu mir, wippt mit den Füßen.
— Ist dir langweilig? frage ich.
— Geht so, sagt er. Du hast immer noch nicht den Film gesehen.
— Ach, nein, lieber nicht. Von diesen wackeligen Bildern werde ich nur seekrank.
— Ist gar nicht verwackelt. Am Ende sieht man alles.
— Egal, lass …
Gerald steht auf und geht zu der Stereoanlage. Er findet den Stromschalter und das Gerät erwacht. Das Laufwerk öffnet sich und verlangt nach Futter.
— Darf ich? fragt Gerald.
— Sicher. Armes, verrücktes Schlüsselkind …
Habe ich das gerade laut gesagt? Muss wohl so sein, denn Gerald schaut mich vorwurfsvoll von der Seite an. Wer ist hier der Verrückte? Er hat Recht.
— Tu … tu nur … wie du magst, sage ich und versuche meiner Stimme eine gewisse nüchterne Klarheit zu geben.
Als plötzlich laute Musik aus den Boxen platzt, zucke ich zusammen.
— Leiser!
Gerald dreht am Regler.
Ich habe seit Tagen nichts Richtiges gegessen, also muss ich meine Hose ständig festhalten, damit sie nicht herunterrutscht. Und ich singe laut zu Soul Man von den Blues Brothers (die sich als kleine silberne Scheibe im CD-Player drehen und, nebenbei bemerkt, nicht singen können; sogar ich kann das besser) und deute mit dem Zeigefinger meiner freien Hand an die Decke, als wollte ich sagen: Dort, dort sitzt der Blues. Dabei ist es nur eine Decke. Ich bin so albern wie lange nicht mehr. Ich schäme mich und schwitze. Ich gehöre eigentlich nicht hierher, ich gehöre in eine Mischung aus Badewanne, Bett und Ausnüchterungszelle.
— Comin’ to ya! On a dusty road!
Ich ahme John Belushis quakende Stimme nach, was Gerald wahrscheinlich nicht einmal bemerkt. Er kennt den Film nicht. Die CD gehört Lydia. Briefcase full of Blues . Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gehört. Gerald lacht über meine, über unsere improvisierte Darbietung so heftig, dass er ohne nachzudenken plötzlich einen Tanzschritt ausführt. Gott sei Dank macht er ihn auf dem Teppich und steht gleich wieder auf. Die Haut auf seinen Knien ist inzwischen wahrscheinlich so dick wie Elefantenfußsohlen.
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