Der Tote lag aufgebahrt in seiner Kammer zwischen Fleisch und Gemüse. In ihrer großen Trauer hatten alle Mädchen des Dorfes ihm kleine Briefe mit in den Sarg gelegt. Die meisten davon waren Entschuldigungsbriefe, denn der Verstorbene hasste jegliches Ritual, das seinetwegen veranstaltet wurde, so auch das christliche Bestattungsritual. Wenn er im Frühjahr erwacht, sagten die Mädchen, wird er uns bestimmt verzeihen, und einen Winter lang ertragen wir unsere Schuld. Diese Mädchen galten in ihrem Dorf aufgrund ihrer Haltung als besonders verschwenderisch und man duldete sie nur mehr über den Winter, dann trieb man sie unter Schlägen hinaus in die Wälder, wo sie bis heute unruhig umherstreifen, betteln und einsame Wanderer mit Flüchen belegen .
Weitere Berichte über L., die mit größter Wahrscheinlichkeit die Quelle für Rios Schrift waren, finden sich bei einem vornehmen Bürger des sechzehnten Jahrhunderts, Sigmund von Herberstein. Dieser traf in
Graz auf Johannes Kepler, der in der österreichischen Kleinstadt Teile seiner wichtigsten astronomischen Werke verfasste und damit bekanntlich die Naturwissenschaften nachhaltig veränderte. Es ist möglich, dass die Erwähnung der ungewöhnlichen Geschichte über L. als eine Art von Gefallen anzusehen ist, eine nette Geste, die der sonst so kritische und scharfsinnige Astronom dem wunderlichen Baron von Herberstein erwies.
Ich habe aufgehört mich zu rasieren. Über Ober- und Unterlippe haben sich schwarze Zügel gelegt, das Kinn ist verschwunden, nur die Wangen sind größtenteils frei. Ihre Behaarung gleicht jener kleinen Stelle zwischen meinen Augenbrauen, die zwar stetig zueinander streben, sich aber nie wirklich berühren, es sei denn, ich blicke böse in den Spiegel.
Meine Mutter wird schimpfen, wenn sie meinen Bart sieht. Sie wird sagen, Das passt nicht zu dir und dass ich mich nicht so gehen lassen darf, obwohl sie gar nicht weiß, was inzwischen alles passiert ist. Dann wird sie natürlich fragen, warum ich mich denn so gehen lasse. Ich werde nur auf ihre Fragen antworten müssen; vorher werde ich mich allerdings noch betrinken. Einfach so, um den Schmerz zu steigern, bis er so stark ist, dass er sich von mir abschält, wie die Haut nach einem Sonnenbrand.
Inzwischen geht es meiner Mutter wieder besser. Lange hat sie irgendwelche Mittel genommen, die ihr Gedächtnis geschwächt haben.
Valerie : Nimmt sie Benzodiazepine?
Ich : Äh, ja, ich glaube … Auf jeden Fall wird sie davon immer vergesslicher.
Valerie : Ah, ganz schlecht! Das ist ungefähr so, als würde man versuchen, ein Uhrwerk mit einem Presslufthammer zu reparieren.
Kurz nachdem ich mein Studium abgebrochen und die Arbeit im Heim angenommen hatte, da das Geld knapp zu werden begann, lief meine Mutter das erste Mal fort. Eines Morgens stieg ich die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf, die Steinstufen wurden flacher, je höher man kam, und da war die Wohnungstür, groß und braun, aber etwas an ihr war nicht wie immer. Sie stand offen.
Einbruch!
Ich rannte in die Wohnung — links, niemand, rechts.
— Hallo?
Ich rief nach meiner Mutter, ohne ihren Namen zu nennen, da ich kein Fremder war, keiner der Fremden, die vor kurzem noch hier gewesen waren (Skimasken, Baseballschläger). Ich rannte in alle Zimmer, ohne die Schuhe auszuziehen, das war immerhin ein Notfall, also sprang ich über die Teppiche und rief:
— Hallo? Hallo-oh!
Aber niemand war da, leere Räume, die in andeutungsreichem Schweigen hinter angelehnten Türen lagen. Mit den Straßenschuhen stapfte ich weiter durch den hinteren Teil der Wohnung. Nichts. Das Licht des Nachmittags fiel durch die Balkontüren, vor denen sich strahlend weiße Vorhänge wiegten. Verträumte Moirémuster. Ich ging ins Badezimmer. Ein sonderbarer Anblick: bunte Wäschestücke hingen in verschlungenen Knäueln aus der offenen Waschmaschine in einen grünen Wäschekorb — als hätte sie die triefend nasse Wäsche und all die Geschirrtücher in einer zusammenhängenden Wurst ausgespieen.
Dann entdeckte ich es, ach, alles meine Schuld, die Klotür: Sie war geschlossen und im Klo surrte die Lüftung. Alles in Ordnung. Ich stützte die Arme auf meinen Knien ab und atmete durch. Ich klopfte.
— Die Tür war offen, rief ich hinein. Du darfst die Tür nie offen lassen, sonst kommen Fremde in die Wohnung, so wie ich –
Ich lachte auf.
Natürlich erwartete ich keine Reaktion. Menschen auf dem Klo sprechen nicht gern. Aber ich musste mich zumindest bemerkbar machen, sonst schreckte sie sich noch, wenn sie mir plötzlich im Flur begegnete. Die Lüftung war laut.
Trotzdem begann ich zu reden. Ich erzählte von meiner Arbeit, von Max, dem Pfleger, der mir vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen war, der eine Glatze hatte, wie sie sonst nur böse Kobolde hatten. Ein Widerling, der alles kontrollieren wollte, auch mich, den Neuen. Und er schimpfte mit den alten Menschen, in einem scharfen, militärischen Tonfall, dass man glaubte, er wollte sie demnächst alle umbringen.
— Aber die Arbeit ist immerhin interessanter als das Studium, sagte ich laut zu der Klotür.
Dann schwieg ich und ging auf und ab. Nach einigen Minuten klopfte ich ein weiteres Mal. Keine Reaktion.
Nachdem ich mich überwunden hatte, die Türklinke zu drücken (die Tür, die ein wenig verzogen war, öffnete sich sofort einen winzigen Spalt, sodass mein Blick durchschlüpfen konnte), und erkannt hatte, dass niemand meinen Gutenmorgen-Erzählungen lauschte, ließ ich alles stehen und liegen und rannte aus der Wohnung auf die Straße.
Links oder rechts? Welchen Weg war sie gegangen?
Ich überließ die schwere Entscheidung meinem Körper. Er wählte links.
Am Ende der Straße stieg Dampf aus einem der Kanaldeckel, als hätte meine Mutter vergeblich versucht, ihre Spuren zu verwischen. Ich rannte an den Zäunen des kleinen Hundeheims vorbei, das sich seit einigen Jahren hier befand, ein hässliches Gebäude aus fleischfarbenen Ziegelsteinen. Gedämpftes Gebell kleiner Hunde.
In meinem Kopf fielen schlimme Vorahnungen durcheinander, wie die Trümmer einer einstürzenden Brücke. Meine Mutter in Polizeigewahrsam, notdürftig bekleidet, mit wirren Haaren, und einer der Polizisten hält sich ein Taschentuch vor seine blutige Nase. Meine Mutter mit Glatze, bewusstlos auf dem Gehsteig vor einem Friseursalon. Meine Mutter in einem roten Kleid, mit nichts sonst bekleidet, ein Träger hängt ihr über die Schulter herab, der Mund ungeschickt mit viel zu viel Lippenstift beschmiert, Lidschatten bis hinauf zum Haaransatz.
Ich kam an einem Gasthaus vorbei, vor dessen hell erleuchteten Fenstern ich etwas langsamer wurde. Nichts.
Meine Mutter, umgeben von japanischen Touristen, die sie unter großem Gelächter fotografieren. Meine Mutter, versunken in eine philosophische Debatte mit einem leprakranken Obdachlosen. Meine Mutter mit einem Baby in der Hand, das sie in einem Anfall von Zuwendungsbedürfnis aus einem unbeaufsichtigten Kinderwagen gestohlen hat und nun verwirrt in ihren Händen schaukelt, weil es nicht aufhören will zu schreien.
Ich kam an einem überquellenden Müllkorb vorbei.
Meine Mutter, die das Kind in den Müllkorb stopft. Oder einen von den japanischen Touristen, der selbst das noch interessant findet und glucksend mit sich geschehen lässt.
Mit unbestimmten Erwartungen hielt ich vor einer Tabaktrafik. Die Besitzerin kannte mich seit meiner Kindheit, allerdings hatte ich schon seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie hatte einen kleinen Mops, das wusste ich noch, der mit ihr in dem winzigen Geschäftslokal wohnte. Als ich eintrat, ließ die automatische Ladenglocke einen Stoßseufzer in ihrer unbekannten Sprache hören.
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