Sie wartete.
Sie würde den ganzen Tag warten, wenn es sein musste. Die Attacke in der Nacht hatte ihren Kampfinstinkt entfacht. Sie war mehrere Stunden wie irr durch die Gegend gerannt, hatte sich verlaufen und war schließlich hierher gekommen, was nun wie ein schlimmer Fehler aussah. Sie hatte das Gefühl, die Stadt und der Bezirk seien vielleicht über Nacht geschrumpft.
Die süßen, angenehmen Nachwehen der Attacke knisterten über ihr müdes Gehirn. Immer wieder biss sie in Gedanken zu, vergrub die Zähne in die dargebotene Hand. Alles geschah so glatt und geschmeidig, ein Gefühl wie das Verstreichen von Zeit, wenn man es am wenigsten mitbekommt.
Sie erlaubte sich einen jener lauten, jaulenden Hundeseufzer, gähnte und klappte ihr Maul wieder zu.
— Chp!
Mmmh, dieses genüssliche Knacken der Knöchel, als sie zugebissen hatte, und dann das ganze prächtige dicke ängstliche verräterische salzhaltige verrückt gewordene blubbernde Blut über all den verletzten Fingern –
Eine weitere notwendige Abschweifung
Eine Biene, gefangen hinter Fensterglas. Als kompakter, brummender Flimmerball steigt sie langsam nach oben, weil das die einzige Richtung ist, die sie kennt. Wie entsetzlich, wenn man die helle Welt da draußen zwar sehen, aber nicht mehr berühren kann! Natürlich versucht sie, das Beste daraus zu machen, und steigt immer weiter aufwärts, langsam, mit flirrenden Flügeln, denn irgendwo muss schließlich der Ausgang sein, die kleine Luke, die ins Blaue führt. Was aber wird sie dort draußen erwarten? Bestimmt haben sie alle anderen Bienen längst vergessen, und sie kehrt zurück in eine Welt, die sie gar nicht mehr wiedererkennt. In dieser Welt gibt es keine Eltern mehr. Keine Keller.
Der Schatten der Biene, gespenstisch vergrößert, zitterte über den Schreibtisch und das weiße Papier. Mit rotem Korrekturstift waren die Fehler in meinem Aufsatz Die Welt in fünfzig Jahren unterstrichen worden. Am Rand der Seite standen die Wörter richtig. Und unter dem Text eine große Fünf. Ich nahm einen Kugelschreiber, einen ähnlichen, wie ihn auch der Lehrer verwendet hatte, und machte aus der Fünf eine Sechs. In meinem Traum lag direkt hinter dem Schreibtisch das Hospital, in das meine Mutter eingeliefert worden war. Ich ließ den Schreibtisch hinter mir und ging langsam auf das Hospital zu. Zu meiner Überraschung stand meine Mutter in der Einfahrt und schaufelte Schnee. Ich hielt ihre Schaufel fest und fragte sie:
— Was machst du da?
— Siehst du den Schnee nicht?
— Aber warum machst das du? Lass das doch jemand anderen machen …
— Sonst macht es ja niemand! Du solltest einmal sehen, wie die mit mir umgesprungen sind. Und wie das Zimmer aussieht. Jemand anderen …
— Ja, die ganzen Schläuche und alles … Ich hab’s gesehen.
Die schwarze Schaufel stach mürrisch in den Schnee:
— Na also.
— Es tut mir ja leid, Mama.
— Davon wird der Schnee auch nicht weniger.
— Trotzdem solltest du jetzt wieder reingehen, sagte ich.
— Du hast das Zimmer doch gesehen, oder? Die Schläuche? Diesen riesigen, absurden Verband? Dann weißt du auch, dass ich da bestimmt nicht wieder reingehe. Nie wieder!
— Aber Mama, komm jetzt, du musst doch da rein. Es ist auch nicht für immer.
— Für immer ? Wer bringt dir solche Ausdrücke bei?
Ich nahm sie beim Arm und zog sie sanft zum Haupteingang. Sie krallte sich mit der Schaufel, die plötzlich ein Metallrechen war, in die Erde und leistete Widerstand.
— Mama, bitte, sagte ich, du musst da rein, komm jetzt –
— Nein!
— Bitte, tu’s für mich, man tut dir auch nicht mehr weh, bestimmt.
— Lass mich!
Sie war ungewöhnlich stark. Ich stemmte mich gegen sie, wollte sie an den Schultern durch die Eingangstür drücken, aber je näher wir den Flügeltüren kamen, desto stärker wurde ihr Widerstand.
— Ich. Lass. Mich. Nicht.
Sie sprach nur mehr durch die Zähne. Ihre Stimme war krächzend und schmerzverzerrt. Ich dachte an ihre Krankheit und dass sie sich nicht überanstrengen sollte, und ließ sie los. Erst einmal verschnaufen. Sie ging sofort wieder zurück in den endlosen Schnee und schaufelte weiter. Der Schneeberg war während unserer kurzen Rangelei angewachsen auf die Größe einer Scheune.
— Mama, rannte ich ihr sofort hinterher, Mama, hör jetzt auf, bitte –
— Ich geh da nicht rein, zischte sie. Aua, ich glaub, du hast mir die Stimme zerbrochen, mit deinen groben Händen …
Sie fasste sich an den Hals. Ich brach in Tränen aus, zerrte an ihrem Rock.
— Bitte, komm jetzt, du musst da rein, nur kurz, nur ganz kurz, ich versprech’s. Ich bin auch immer da. Bitte, die lassen dich gleich wieder gehen.
Meine Mutter besaß eine kleine, rote Fahrradklingel, mit der sie die Menschen aus dem Weg läuten konnte, wenn sie ihr im Weg standen oder auf andere Art lästig waren. Sie hatte die Klingel von einem alten Kinderfahrrad abmontiert, das ich einmal besessen hatte. (Gott weiß, was mit diesem Rad passiert ist. Alles an dem Rad war verkleinert gewesen, die Lenkstange, die Räder, das Gerüst, sogar der Dynamo: ein daumengroßes, summendes Ding, auf das ein kleiner grinsender Teufel gezeichnet war, dem elektrische Funken aus den Hörnern stoben. Nur die Klingel war von normaler Größe gewesen und hatte daher als einzige überlebt. Ich erinnere mich noch, wie ich mit diesem Rad oft durch den Park gefahren bin, in unfreiwilligen Schlangenlinien und immer viel zu schnell.)
— Hör auf, sagte ich. Hör auf mit dem verdammten Geklingel, du machst mich ganz verrückt!
— Aber ich muss immer an alles denken! Ich muss auf dich aufpassen und für dich sorgen! Er! Er kann sich aus dem Staub machen, einfach so! Hast du ja gesehen –
— Mama, komm …
— Du musst nichts überlegen, du musst nicht nachts wach liegen und dich fragen, was kommt morgen wieder, wie überstehe ich die nächste Woche, du musst nicht –
Endlich setzte sie sich hin.
— Du musst dich um absolut nichts kümmern, an mir , an mir bleibt alles hängen … ich muss an alles denken … verstehst du das endlich? Ich muss mir immer Gedanken über alles machen, an mir hängt jetzt alles, der ganze verdammte Haushalt, alles, begreifst du endlich? An mir !
— Mama, komm jetzt … schau …
— Nix schau ! Immer sagen alle nur schau, schau, schau … niemand weiß, was ich durchstehen muss, was alles an mir hängen bleibt … niemand! Niemand, nicht einmal du!
— Doch, ist schon gut … komm, jetzt nimmst du einen Schluck –
— Ach, lass mich doch! Mein Gott! In der Zeit, da ich dir das alles erkläre, hätte ich längst den Geschirrspüler ausräumen können! Du hältst mich nur auf, lass mich!
Ich drückte sie sanft in den Sessel.
— Es ist schon gut, Mama, sagte ich, der Geschirrspüler ist ausgeräumt. Längst erledigt.
— Aber … was ist mit der Katze? Wer füttert die Katze?
— Mama …
— Ich begreife das nicht! Warum muss eigentlich immer ich an all diese Dinge denken? Warum fällt es dir nicht ein? Würdest du die Katze einfach so sich selbst überlassen? Einfach so?
Ich ließ einen Moment verstreichen, dann fragte ich:
— Welche Katze meinst du?
Sie schaute mich an, sah das Gesicht ihres Sohnes, ihres komischen, begriffsstutzigen Sohnes, der wieder einmal nicht verstand, was sie alles durchzustehen hatte, sah dieses vertraute Gesicht, verunstaltet von dichten Augenbrauen und Bartstoppeln.
— Welche Katze, hm?
Ich setzte mich zu ihr und nahm ihre Hand, als wollte ich mit ihr spielen.
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