— Guten Morgen.
— Guten Morgen, antwortete eine junge Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Haben Sie meine Mutter gesehen? — der Satz hatte augenblicklich seine Bedeutung verloren, löste sich auf und wurde zu einem dumpfen Schuldgefühl unter der Zunge.
Schnell verließ ich die Trafik wieder, wenn es überhaupt die richtige — ja … Jemand musste das Geschäft von der alten Bekannten meiner Mutter gekauft haben. Merkwürdig, sie hatte mir nie davon erzählt. Sie berichtete mir sonst sogar davon, wenn ihr während des Kochens die Milch ausging und sie welche besorgen musste, während die Zutaten auf dem Küchentisch zurückblieben und sich ein Ei selbstständig machte und in den Tod rollte.
Ich rannte den Weg zurück, den ich gekommen war. Meine Mutter, in irgendeinem weit entfernt liegenden Bezirk der Stadt, auf der Suche nach der Toilette. Meine Mutter, friedlich schlafend auf einer Parkbank, mit zerrissenen Strümpfen. Meine Mutter mit einem blutigen Schuh. Meine Mutter, nackt im Swimmingpool eines verlassenen Herrenhauses am Stadtrand, glücklich plätschernd, auf dem Rücken schwimmend, zwischen Herbstblättern, die auf dem Wasser schaukeln. Meine Mutter, gefangen in der Drehtür eines Hotels, ewig im Kreis gehend.
Als ich wieder auf unser Haus zurannte, sah ich einen kleinen Punkt auf der anderen Seite der Straße, dort wo man zum Einkaufszentrum oder zum Volksgarten abbog, der Punkt schwankte im Gehen, er kam mir bekannt vor, meine Mutter, ja, sie musste es sein. Ihr entgegenrennend erkannte ich sie, es gab keinen Zweifel.
Schnaufend kam ich vor ihr zum Stehen. Links und rechts baumelten Einkaufstaschen an ihrem Körper.
— Alex!
— Mama, mein Gott, was machst du denn? fuhr ich sie an und nahm ihr die Einkaufstaschen aus der Hand.
— Nichts, ich –
— Warum läufst du einfach so weg?
— Weglaufen? Was –
— Du hast mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt! Warum gehst du einfach so –
Ich hatte zu schnell gesprochen, ich musste zu Atem kommen, erschöpft vom Laufen. Ich stützte mich auf meinen Knien ab, blickte zu Boden. Ein zertretener Kaugummi. So viel unnötiger Stress. So viel — der braune Asphalt unter mir bewegte sich unmerklich, wie ein Teppich, den man mit dem Fuß über den Boden zieht — so viel unnötiges –
— Gib her, sagte meine Mutter, was soll denn das, das sind meine!
Und sie nahm mir die Einkaufstaschen weg. Durch das bläuliche Plastik sah man Orangen hervorleuchten.
— Wo bist du hingegangen, ich meine, wo –
— Die habe ich bezahlt! unterbrach sie mich. Warum nimmst du sie mir weg?
— Du warst einkaufen?
— Es war nichts mehr im Haus, also bin ich einkaufen gegangen. Du nimmst mir ja nie Obst oder Schokolade mit, wenn ich dich darum bitte. Du vergisst ja immer die Hälfte!
— Du warst einkaufen? wiederholte ich.
— Vergesslich wie du bist, sagte sie.
— Hilf mir wenigstens beim Ausräumen, sagte sie gereizt, als wir in der Küche waren.
Ich ließ die Orangen in die alte Obstschale rollen, wo sie ganz von selbst eine schiefe, unvollkommene Pyramide bildeten. Drei große Packungen Müsli — ich wusste nicht, ob meine Mutter sie gekauft hatte, um es auch wirklich zu essen. Die Milch stellte ich in den Kühlschrank.
Im Kühlschrank lag eine Brille. Das linke Glas vergrößerte die Aufschrift auf einem Joghurtbecher über dessen Ränder hinaus. Das E von Vanille lag jenseits des Bechers in einem Niemandsland optischer Täuschungen, wo vieles möglich war.
— Was ist denn da, warum starrst du in den — ach, da!
Sie drängte mich auf die Seite und nahm ihre Brille an sich.
— Warte, murmelte sie, du kommst jetzt an die Leine. So.
Und sie befestigte die Bügel an einem Brillenband, das sie sonst um den Hals trug.
— Manchmal lege ich sie ab, erklärte sie mir, während sie weiter ihre Einkäufe auspackte. Die Schnur kitzelt mich immer an den Wangen. Ich hab so ein breites Gesicht. Meine Tabletten nehme ich auch nicht mehr. Jedes Mal, wenn sie mich kitzelt, könnte ich mich stundenlang kratzen, aber genau das ist für meine alte Haut das Allerschlimmste. Meine Haut hält überhaupt nichts mehr aus. Das dauernde Kratzen …
— Hast du gerade gesagt, dass du deine Tabletten nicht mehr nimmst?
Meine Mutter raschelte mit einer Alufolie, in die sie ein Steak einwickelte.
— Hm?
— Du nimmst deine Tabletten nicht mehr?
— Sie machen alles langsamer … und außerdem vergesse ich immer, wo ich bin. Glaubst du, ich könnte einkaufen gehen, wenn ich dieses Zeug nehmen würde? Ich habe sogar deinen Geburtstag vergessen! Das ist mir noch nie passiert …
— Mama, ich habe dir doch gesagt, dass mein Geburtstag egal ist.
— Dir kann er ja ruhig egal sein! Im Zweifelsfall ist dir ja immer alles egal!
— Also, noch mal von vorn. Wenn du sagst, du nimmst die Tabletten nicht mehr, heißt das, dass du sie einfach nicht mehr nimmst oder dass du sie nicht mehr brauchst?
— Diese Tabletten habe ich mit Sicherheit noch nie gebraucht! Wer braucht schon Tabletten, um ausgerechnet die wichtigen Dinge zu vergessen?
— Aber das sind doch nur Nebenwirkungen, sagte ich und deutete mit einer Hand hilflos im Raum herum. Wenn dein Körper sich erst einmal daran gewöhnt hat, dann …
Ich bemerkte, dass ich gar nicht wusste, wovon ich sprach. Körper, sich gewöhnt. Nebenwirkungen . Sie war einkaufen gegangen, mit Zettel und allem. Sie hatte keine hundert Glühbirnen oder zwanzig Wassermelonen oder einen Do-it-yourself-Gartengrill gekauft, sondern sinnvolle Dinge. Bis auf die drei Müslipackungen.
— Warum hast du mich nicht gefragt, ob ich mitgehe? fragte ich.
— Ich nehme die Tabletten nicht mehr, sagte sie.
Das versilberte Steak wanderte in das Tiefkühlfach. Vor dem Mund meiner Mutter bildete sich für einen Augenblick eine fast unsichtbare, weiße Atemwolke.
— Ja, ich weiß, du nimmst die Tabletten nicht mehr. Das hast du schon gesagt.
— Nein, ich habe es nicht zweimal gesagt. Die Be ton ung war anders! Hörst du denn überhaupt nicht zu? Ich nehme die Tabletten nicht mehr, das bedeutet soviel wie: auch in Zukunft nicht . Und wenn du es unbedingt wissen willst, ich brauche niemanden, der auf Schritt und Tritt auf mich aufpasst.
Ich werde mich gut benehmen, denke ich auf dem Weg zu meiner Mutter. Ich werde mich wohlerzogen geben, obwohl ich das nicht bin und nie war. Ich werde Messer und Gabel in der richtigen Reihenfolge in die Hand nehmen und wieder ablegen.
Tischmanieren sind wie Grundrechnungsarten. Sie werden gelehrt, ohne dass sie einer tieferen Begründung bedürfen. Gleichzeitig sind sie so aufgeladen mit labyrinthischen Moralvorstellungen, dass sie allein schon für die Gründung einer Religion ausreichen würden. Eine Gabel, im falschen Winkel zum Messer auf dem Teller. Ein Ellbogen, der sich auf den Tisch verirrt. Ein Wasserglas, das noch vor dem ersten Löffel Suppe geleert wird.
Die Grundrechnungsarten führen in die unbegreifliche Welt der Mathematik, unbegreiflich in ihrer Konsistenz und Stimmigkeit, wo die richtigen Ergebnisse (diese sonderbaren Objekte, die man wahre Aussagen nennt) immer zugleich die allerunwahrscheinlichsten sind. Manieren führen in eine analoge Welt, die allerdings unsichtbar bleibt (im günstigsten Fall ist sie noch einem Diskursanalytiker oder einem Archäologen zugänglich). Sie sind verantwortlich für die meisten Episoden von scheinbar fremd gesteuerter Besessenheit, von unerklärlichen Schuldgefühlen und der herrlichen Genugtuung, die einem erwachsenen Verstand das sinnlose Abzählen von Lichtern in einem Lesesaal bereitet, das Balancieren auf den schwarzen Kästchen, wenn man über ein Schachbrettmuster geht, oder das Antippen jeder dritten (nicht der zweiten und nicht der vierten) Geländersprosse auf dem Weg zu einem wichtigen Termin im Gerichtsgebäude oder im Krankenhaus, mit schweißnassen, zittrigen Händen.
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