Ich wußte nicht, wie lange ich in dem winzigen Raum gewesen war, sicher nicht so lang, wie es mir vorkam. Die Verkäuferin beim Brot winkte mir mit den Fingern zu, als ich heraustrat. Ihr Hals war ein wenig gebläht, was mir gefiel. Zum erstenmal seit meiner Operation regte sich eine sexuelle Empfindung in mir, pochte in meiner Brust wie eine Extrasystole, ein Ball, der aufspringt und verschwindet; eine konjunktivische Empfindung allerdings: So würdest du fühlen, so hättest du noch vor einem Monat gefühlt. So ist es, wenn man am Ende ist. Carls Sorge war der Tod, oder nicht einmal der war mehr eine für ihn. Zu Frau Mungenast könnte ich sagen: ›Würde es Sie langweilen, meine Vertraute zu sein?‹ Oder einfach: ›Darf ich mit Ihnen reden?‹ ›Natürlich. Was wollen Sie mir sagen?‹ ›Ich habe Sorge, nie mehr einen steifen Schwanz zu kriegen.‹ — Gleich war es vorbei. Es war nicht ganz vorbei, aber doch genug davon war vorbei, so daß sich auf etwas mehr Licht hoffen ließ.
Durch das Schaufenster sah ich den Umriß von Carls Kopf und Schultern — der Schatten einer Büste, nicht anders, als wenn sein Kopf und ein Stück seines Körperchens aus Pappe ausgeschnitten und auf den Fahrradständer gesteckt worden wären. Im Regal für Shampoo, Seifen, Nagellack, Wegwerfrasierer, Rasierschaum, Zahnpasta, Duschcreme, Kämme, Nagelbürsten, Ölbäder, Achselhöhlenstifte, Wimperntusche waren auch die Einlagen, die mir Frau Mungenast empfohlen und von denen sie mir am ersten Tag nach meiner Ankunft einen Jutesack voll mitgebracht hatte: Tena Lady normal. Sogar Tena Lady forte gab es. Warum hat sie mir nicht forte mitgebracht? Morgen, dachte ich, werde ich ihr meine Sorge erzählen. Es wäre klug gewesen, zwei drei Pakete einzukaufen, mein Vorrat ging allmählich zu Ende. Aber das wollte ich nicht, ich wollte nicht den Schlüssel zur Toilette bei dem Herrn an der Kasse abgeben und zugleich drei Pakete Windeln aufs Förderband legen. Ich drehte mich noch einmal zu der jungen Frau beim Brot um, schön wie ein Coverbild war sie und ein wenig abstoßend. Ich nahm ein Glas Preiselbeeren und ein Glas Johannisbeermarmelade aus dem Regal, zahlte und trat auf die Straße. Carl war im Rollstuhl eingenickt. Als ich die Feststellbremse öffnete, schreckte er auf. Er sagte ein paar unzusammenhängende Worte und griff nach meiner Hand und nickte heftig und zitterte mit den Knien.
«Es wird besser«, sagte er,»du kannst es mir glauben.«
«Ich glaube, du mußt Frau Mungenast anrufen«, sagte ich.»Ich schaffe es nicht über den Weg zum Haus.«
Ich schob den Rollstuhl durch das Dorf, zwischen den Feldern hindurch; vorne bei der Haltestelle sah ich Frau Mungenast auf uns warten. Ich sah den Rauch ihrer Zigarette.
«Und wem hat das jetzt geholfen?«sagte sie nur.
Ich konnte keine Antwort geben, leerte meine Tasche in den Abfallkorb bei der Bahnüberquerung, um mich herum die sprießenden und zwitschernden Zeichen des Vorfrühlings. Frau Mungenast schob den Rollstuhl, ich stapfte hinter ihr her über die Eisflecken, die im Föhn weich geworden waren, der Abstand zwischen uns wurde größer von Schritt zu Schritt. Sie wartete im Hausflur, das Hinterrad des Rollstuhls hielt mir die Tür auf. Der Friedhof lag lange Zeit zurück, und die Toilette beim ADEG war bloß ein Alb, und das Gesicht der jungen Frau beim Brot war verschwunden, wurde abgedrängt vom Bild einer Schauspielerin aus einer amerikanischen Fernsehserie. Ohne ein weiteres Wort an Carl oder Frau Mungenast ging ich hinauf in den ersten Stock und legte mich, während das Wasser in die Wanne lief, nackt auf den Fliesenboden, weil ich nicht warten konnte.
Nach dem Bad schlief ich eine Stunde oder etwas länger, und es ging mir gut, als ich erwachte. Frau Mungenast war bereits nach Hause gefahren. Draußen dämmerte es, der Föhn blies vom Patscherkofel herunter. Ich zog mir frische Sachen an, steckte die schmutzigen in die Waschmaschine. Frau Mungenast hatte in der Küche sechs Äpfel in einer Kasserolle vorbereitet, die Gehäuse herausgeschnitten, Johannisbeermarmelade oder Preiselbeeren eingefüllt, Zimt darübergestreut, etwas Butter darübergelegt. Auf dem Herd stand ein bauchiger Emailletopf mit Punsch aus Earl Grey, Rotwein, Orangensaft, Rum, Kandis und Gewürzen. Sie hatte Carl versorgt. Er saß in seinem Lederstuhl und war hellwach, trug seinen Pyjama, darüber den grünen Hausmantel. Sein Handy lag auf dem Beistelltischchen, neben den belegten Brotschnitten, der Teekanne, dem Apfel und dem Tellerchen mit der Zigarette. Im Kamin brannten Buchenscheite. Aus den Lautsprechern über dem Schreibtisch klang Billie Holidays Stimme.
«Wir müssen die Äpfel nur ins Rohr schieben«, sagte er. In seinen Augen stand junge, kalt funkelnde Intelligenz. Fülle und Spannung seines Geistes waren zurückgekehrt. Er hatte etwas vor.»Manchmal klingt sie wie ein querulantisches Kind, jeder Vokal ein Dorn. Klingt irgendwie schlechtgelaunt. Findest du nicht? Wie auch immer …«
8
Alles ist jetzt ein Jahr her. Nichts ist seither geschehen. Ich habe mich auf keine Neuigkeiten eingelassen. Nur auf’s Nacherzählen. Ich habe mich als gegenwartsresistent erwiesen. Die Erinnerung ist durch das, was sie bewahrt, ein Maß für den Wert des Erinnerten. So ähnlich hat es Carl ausgedrückt — wenn ich mich recht erinnere. Während ich dies schreibe (nicht in den Computer, sondern in mein Notizbuch), sitze ich auf dem Blechdach vor meinem Arbeitszimmer. Ich bin prächtig gelaunt. Ein warmer Wind weht vom Wiental herein gegen meinen Rücken. Mein Ischias halte ich mit Voltaren klein. Überwunden sind Impotenz und Inkontinenz (fast). Ich habe den Blechtisch dunkel und matt gestrichen, damit mich die Platte nicht blendet, wenn ich hier draußen in der Sonne schreibe — Vorsorge für den Sommer; eine geräumigere Zukunft interessiert mich zur Zeit nicht. Inzwischen bin ich bei einer Schachtel Camel pro Tag angelangt. Robert Lenobel sagt, ich soll, wenn ich schon rauche, es wenigstens ohne schlechtes Gewissen tun. Alles in allem habe ich ein glückliches Leben gehabt, bis jetzt. Merkwürdigerweise steigerte es stets mein Wohlempfinden, wenn ich mir einbildete, mein Leben sei unglücklich gewesen. Wenn ich sagte, mein Leben war unglücklich, so war dies eine Beschwörung; ich beschwor das Unglück, es mit dem heutigen Tag bewenden zu lassen. Wenn ich nun behaupte, mein Leben war glücklich, laufe ich dann Gefahr, das Glück zu vertreiben? In solchen Fragen liegt der Quatsch des neunzehnten Jahrhunderts, sagt Giacomo Leopardi. Robert sagt, aus seiner eigenen Lebenserfahrung und auch aus seiner Praxis als Analytiker wisse er, daß es weder ein glückliches noch ein unglückliches Leben gebe; vielmehr seien Glück und Unglück gar nicht Eigenschaften des Lebens, sondern ein auf unerlaubte Weise Zusammengefaßtes, immer Epiloge, nur im Präteritum existent, nie im Präsens; niemals würden diese Begriffe eine wahre Beschreibung eines Zustandes leisten; Glück und Unglück seien Maschinen, um einige Spreißel der Realität zu einem Zeltgerüst zurechtzubiegen, über das die luftdichte Plane einer Geschichte gelegt werde, um darunter so zu tun, als ob; also Lüge. Darin, finde ich, liegt der Quatsch des zwanzigsten Jahrhunderts. — Nichts kann mir die Freude am Leben nehmen. Es ist Freitag. Nachts um eins werde ich mit Dagmar telefonieren. So haben wir es vereinbart. Übrigens bestehen gute Aussichten.
Ich möchte Margaridas Geschichte zu Ende erzählen, wie ich sie von ihr gehört habe, als wir beide auf der Betonbrüstung saßen und auf den Inn blickten, der an diesem Tag im März 1979 graues Schneewasser führte.
Beim Frühstück hatte eine gespannte Stimmung zwischen Margarida und Carl geherrscht. Sie blickten einander nicht an, sprachen wenig. Sie starrte ins Leere. Die Lippen zog sie zusammen, ein strenges O. Wenn er sie ansprach, zuckte sie, als hätte er gebrüllt, was er ja gerade nicht getan hatte. Seine Bewegungen waren langsamer als sonst; und auch wenn noch nie etwas Ähnliches passiert war, hielt ich es für möglich, daß er gleich aufstehen, den Tisch umwerfen, sich binnen einer Minute heiser schreien und einen endgültigen Strich unter diesen Teil seines Lebens ziehen könnte, was immer das auch heißen mochte. Am Vorabend waren wir in der Maria-Theresien-Straße essen gewesen. Carl wäre lieber zu Hause geblieben. Er werde in dem Restaurant anrufen und bitten, uns ein Menü herüberzuschicken, hatte er gesagt; er meinte, ich hätte wenig Lust auszugehen, würde lieber über meine Not mit Dagmar sprechen, damit ich zu einer Entscheidung fände, das sei ja wohl der Grund gewesen, warum ich mitten in der Nacht in Frankfurt in den Zug gestiegen und nach Innsbruck gefahren sei. Margarida war dagegen; es sei noch genug Zeit für» Seelenbohrungen«, sie aber komme so gut wie nie aus der Wohnung, sagte sie. Ich unterstützte sie, obwohl ich tatsächlich lieber in der Anichstraße geblieben wäre und obwohl ich Carls Sorge ahnte. Margarida würde sich betrinken. Es war nämlich eigenartig: Zu Hause trank sie zwar auch zuviel, aber nicht so viel, daß ihr, wie es einmal meine Mutter formuliert hatte, mit den Worten auch die Manieren durcheinandergerieten. Wenn sie außerhalb der Wohnung unter Leuten war, verlor sie die Kontrolle, besonders in Lokalen, in denen die Kellner ständig die Gläser nachschenkten. Sie trank hastig fünf Gläser Wein und behauptete hinterher, nur eines getrunken zu haben, und in einer kleinlichen Art und Weise, die ihr in nüchternem Zustand absolut fremd war, konnte sie darauf bestehen, jemand habe ihr etwas in den Wein geschüttet, denn anders sei es nicht zu erklären, daß ein Glas so eine Wirkung habe, wobei sie, den Zeigefinger vor ihrem Gesicht in die Luft hackend, bestritt, daß die Wirkung mit dem Wort» betrunken «bezeichnet werden dürfe. Einmal war sie drauf und dran gewesen, einen Notarzt zu rufen, nicht weil sie sich krank fühlte, sondern um Carl zu beweisen, daß er ihr unrecht tue, obwohl er gar nichts gesagt hatte, nicht laut jedenfalls. Ich hatte ähnliche Szenen schon öfter miterlebt. Ich fürchtete mich davor. Während mein Vater unter Alkohol weich, weinerlich und unglücklich wurde, allerdings mit Auszuckern rasender Gewalttätigkeit, verwandelte sich Margarida in eine sture Rechthaberin. Sie tat mir leid. Sie war auf verlorenem Posten. Wenn Carl sie einfach hätte betrunken sein lassen, wäre weiter nichts daraus geworden; so aber, wie er den stummen Richter gab, war jeder Rausch ein Hammerschlag gegen ihren Charakter. Und dagegen wehrte sie sich, und manchmal ging das nicht anders als mit häßlichen Beschimpfungen. Andererseits — wie hätte sich Carl richtig verhalten sollen? Er hätte mit ihr mittrinken können; aber das wollte er nicht. Wie in allem war er auch beim Alkohol mäßig. Sollte man ihm das vorwerfen? An diesem Abend in dem Restaurant in der Maria-Theresien-Straße war es nicht anders gewesen. Bevor das Essen kam, hatte Margarida bereits einen Aperitif und drei Gläser Rotwein getrunken. Ihre Bewegungen wurden zäh und ungenau, ihre Statements allumfassend und durchdrungen von einer Robin-Hood-Liebe zu den Unterprivilegierten, die sie sich in die augenblickliche Situation hinein erfand, etwa als einen Lehrbuben des Kochs, an dessen Stelle sie in die Suppe spucken würde, um ein Zeichen zu setzen gegen die» mit den hohen Nasen«. Carl sagte, es zwinge den Lehrbuben ja niemand, hier zu arbeiten, wahrscheinlich sei er sogar froh, in diesem Lokal eine Stelle bekommen zu haben. Worauf sie sagte, er habe ja keine Ahnung, in was für Notsituationen ein junger Mensch geraten könne; worauf er sagte, Innsbruck sei nicht die dritte Welt; worauf sie sagte, er sei ein Arschloch. Ich fuhr dazwischen, erzählte von meiner Arbeit beim Hessischen Rundfunk und bei dem Schulbuchverlag und ließ eine Stunde lang keinen von ihnen zu Wort kommen. Margarida trank, der Kellner schenkte nach, sie trank, und er schenkte nach. Irgendwann neigte sich Carl zu ihr und flüsterte ihr etwas zu. Sie schlug die flache Hand auf den Tisch und rief:»Zahlen!«Den Kellner fragte sie, ob er den Eindruck habe, sie sei betrunken.»Gut gelaunt«, sagte er,»nicht betrunken, nur gut gelaunt. «In der Nacht, als ich in meinem Bett lag, hörte ich Carl, wie er auf Margarida einredete, und der Tonfall seiner Stimme erinnerte mich schmerzlich an den Nachmittag, als Margarida und ich von den Donauauen zurück zum Rudolfsplatz gekommen waren und ihn in seinem Arbeitszimmer gefunden hatten und ich gelauscht hatte und schließlich weggelaufen war, weil ich es nicht aushielt, wie mein großes Vorbild hinter der verschlossenen Tür seiner Frau vorjammerte.
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