Michael Köhlmeier - Abendland

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Abendland: краткое содержание, описание и аннотация

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"Wenn du dich als Achtjähriger, als Dreizehnjähriger, als Sechzehnjähriger denkst, erkennst du dich in ihnen wieder?"
"Ja. Und sehr gerne dazu."
"Gibt es einen Lebensabschnitt, in dem du dir fremd vorkommst?"
"Zwischen fünfundzwanzig und dreißig ein bisschen fremd. Gestern und vorgestern sehr fremd."
"Glaube, Liebe, Hoffnung. Welche Reihenfolge?"
"Liebe, Hoffnung, Glaube. Wenn ich den anderen dabei zusehe."
"Bei dir selber?"
"Keine Ahnung. Ich denke, das gilt nur bis sechzig oder siebzig. Bei den Auserwählten vielleicht etwas länger." Er lacht.
"Was ist das Größte, das du in deinem leben vollbracht hast?"
Keine Antwort darauf.
"Abendland" ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Generationenroman. Mit großer erzählerischer Kraft wird dargestellt, wie die unterschiedlichsten Menschen jenseits der politischen und historischen Wechselfälle aufeinander angewiesen sind und aneinander hängen, warum sie sich gegeneinander auflehnen und wie sie dann doch ihren Frieden schließen. In einem bewegenden Panorama des 20. Jahrhunderts werden die großen historischen Sündenfälle und die kleinen privaten Reaktionen darauf beschrieben. Ein solches Buch hat es in der deutschen Literatur schon lange nicht gegeben.

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Michael Köhlmeier

Abendland

für Monika

für Oliver

für Undine

für Lorenz

für unsere liebe Paula

Intro

Meinen ersten Hund mit blauen Augen sah ich, da war ich neun. Ich spazierte mit Carl und Margarida über die Kärntnerstraße, vor dem Kaufhaus Steffl lag er, an einen Fahrradständer gebunden, wartete auf seinen Herrn oder seine Dame, die vielleicht Geschenke einkauften, denn es war kurz vor Weihnachten. Um ihn herum hatte sich ein kleiner Kreis von Menschen gebildet. Eine Frau schob ihr Töchterchen nach vorn und sagte:»Schau ihn dir an, er ist der Schönste!«Der Hund stemmte sich auf die Vorderpfoten, richtete sich langsam auf und kam heran, soweit es seine Leine zuließ. Die Frau hielt ihm ihr Mädchen entgegen, als habe sie es nur für ihn so herausgeputzt, das rosa Mäntelchen, die rosa Stiefelchen und die rosa Schleifen an den Zöpfen. Aber der Hund mit den blauen Augen hatte kein Interesse an der Frau und keines an dem Kind; er hob den Kopf und blickte Carl an. Nur ihn. Pfeilgerade in seine Augen starrte er. Und Carl starrte zurück. Und die Leute blickten von Carl zu dem Hund, von Carls blauen Augen zu den blauen Augen des Hundes. Ich stellte mich vor Margarida, sie zog ihre Handschuhe ab und wärmte meinen Nacken mit ihren Händen.»Gleich zeigt er uns etwas«, flüsterte sie mir ins Ohr. Carl bewegte seinen Kopf langsam nach links, der Hund folgte mit seinem Kopf; Carl bewegte den Kopf nach rechts, der Hund zeichnete seine Bewegung nach. Und wieder hin und wieder her. Nun schritt Carl den Halbkreis ab, erst nach rechts, dann nach links — der Hund folgte ihm mit gespannter Leine. Am Ende standen sie sich wieder gegenüber und blickten einander in die Augen. Carl ging in die Hocke und beugte sich weit vor, so daß sein Gesicht nahe bei der Nase des Hundes war. Der Hund gab keinen Laut von sich, er schloß langsam die Augen, öffnete sie wieder. Er bewegte den Kopf zur Seite, auf eine Art, die wie ein lässiges» Komm mit!«aussah. Das war sehr komisch. Die Frauen lachten und klatschten, und die Frau mit dem Mädchen strich sich die Haare aus der Stirn. Carl war hingerissen. Laut, so daß es jeder hören konnte, sagte er:»Ja, er ist das schönste Tier, und ich gefalle ihm. Ich gefalle ihm! Was bedeutet das? Bitte, was bedeutet das?«Und Margarida sagte, ebenfalls laut, so daß es alle hörten:»Daß auch du der Schönste bist, was denn sonst?«

Als wir zu Hause in der Penzingerstraße waren, erzählte Margarida alles haarklein meinen Eltern. Sie drängte Carl, sich vor den hohen Spiegel in unserer Garderobe zu stellen und seinen Kopf zu bewegen, wie er ihn vor dem Hund mit den blauen Augen bewegt hatte.

«Warum soll ich das tun?«fragte er.

«Damit du dich siehst, wie er dich gesehen hat«, antwortete sie.

«Ich habe ihm gefallen«, sagte Carl.»Ich habe ihm tatsächlich gefallen. «Und er bewegte sich vor dem Spiegel und schnitt Grimassen, einmal war er der Hund, einmal war er er selbst.

Als Carl und Margarida gegangen waren, sagte meine Mutter:»Seine Eitelkeit ist bisweilen unerträglich«, und mein Vater pflichtete ihr ausnahmsweise bei. Ich aber dachte: Das stimmt doch nicht! Wer außer diesem Mann kann sich so schön freuen, daß ein Tier ihn schön findet! Und das sagte ich auch. Ich sah meinen Eltern an, daß sie nicht wußten, was sie denken sollten, ob sie über mich drüberfahren oder ob sie sich für ihre Kleinkariertheit schämen sollten.

«Seine Eitelkeit ist zugegebenermaßen raffiniert«, sagte mein Vater, und es klang wie ein Vorschlag zur Versöhnung. Vor allem aber klang es ängstlich. Alles, was mit Carl zu tun hatte, ließ meinen Vater ängstlich sein.

Erstes Buch

Erster Teil: Lans

Erstes Kapitel

1

Heute vor einem Jahr, am 18. April 2001, starb Carl Jacob Candoris. Er wurde fünfundneunzig Jahre alt. Bis zu seiner Emeritierung war er als Professor für Mathematik an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck tätig gewesen. In den letzten Jahren seines Lebens wohnte er in dem Dorf Lans oberhalb der Stadt in einer Villa am Fuß eines felsigen Hügels. Wenn er, wie er es liebte, auf der Wiese saß, in seinem von den Jahreszeiten versilberten Korbsessel, konnte er auf einen See und einen Berg sehen und hatte den Tannenwald im Rücken.

Wenige Wochen vor seinem Tod rief er mich an meinem Handy an und sagte:»Sebastian, bist es du?«

Und ich sagte:»Ja, ich bin es.«

Und er:»Deine Stimme klingt anders.«

Seine Stimme hatte den soliden, elastischen Tonfall, an den ich mich erinnerte, ironisch eingefärbt wie immer. Niemand hätte so eine Stimme einem Mann seines Alters zugetraut. Wir hatten uns zwei Jahre lang nicht mehr gesehen und auch nicht miteinander telefoniert; und das war eine ungewöhnlich lange Zeit.

«Ich habe«, sagte er,»gerade Inventur gemacht, und du bist der einzige Mensch von all jenen, die ich geliebt habe, der noch lebt.«

Ich dachte: So teilt er mir mit, daß er bald sterben wird. Als ich mein Handy zuklappte, geriet ich so sehr in Aufregung, daß ich der Schwester klingelte und sie bat, mir ein Beruhigungsmittel zu geben. Erst in der Nacht, als die Wirkung nachließ und ich auf den matten Lichtstreifen starrte, der das Fenster hinter den Vorhängen nachzeichnete, gestand ich mir ein: Nicht der Gedanke, daß mein Freund den Tod kommen sah, hatte mich derart aus der Fassung gebracht, sondern die absurde Empörung darüber, daß er überhaupt sterblich war.

Ich lag in Innsbruck im Krankenhaus, die Prostata war mir herausgeschnitten worden. Meine Stimme hörte sich in Folge der Intubationsnarkose wohl etwas rostig an. Bei einer routinemäßigen Blutuntersuchung im vorangegangenen November hatte der Computer ein Sternchen hinter meinen PSA-Wert gesetzt, was bedeutete, daß dieser zu hoch war. Eine Biopsie wurde durchgeführt, der Befund der histologischen Untersuchung war positiv: Krebs in einem frühen Stadium. Nach dem Autounfall vor fast zwanzig Jahren meinte ich nun zum zweitenmal in die schwarzen Augenringe zu blicken. Mein Arzt riet mir, mich in Innsbruck operieren zu lassen, dort habe man die besten Handwerker unter Vertrag.

Carl sagte, er habe gespürt, daß ich in seiner Nähe sei; inzwischen getraue er sich auch, seine Ahnungen vor sich selbst einzugestehen, er habe nicht mehr die voltairesche Kraft zu behaupten, er sähe nichts, wenn er über den Grenzbalken schaue; außerdem sei es beinahe schon unschicklich, in seinem Alter an der Vorbestimmtheit der Ereignisse zu zweifeln. Ich für mein Teil hatte im Zug nach Innsbruck an ihn gedacht; mit schlechtem Gewissen freilich, weil ich mich so lange nicht bei ihm gemeldet hatte, und mit dem bangen Gefühl, er könnte vielleicht gar nicht mehr am Leben sein; und: mit einer paradoxen vorauseilenden Enttäuschung — er könnte vor seinem Tod niemanden beauftragt haben, mich nach demselben zu informieren.

Nach zehn Tagen entfernte Dr. Strelka, mein Operateur, den Katheter, und ich wurde mit» den besten Aussichten auf Heilung «aus der Klinik entlassen. Ich fuhr hinauf nach Lans, und Carl und ich verbrachten unsere letzte gemeinsame Zeit. Ich richtete mich auf der Couch neben seinem Lehnstuhl ein; er erzählte, ich erzählte; wir hörten Musik und ließen uns von seiner Haushälterin und seiner Pflegerin verwöhnen. Letztere, Frau Mungenast, erlaubte ihm nur wenige Schritte, aber auf diese bestand er. Wenn er eine CD aus dem Regal nehmen wollte, faßte ich ihn an seinen Händen, die zart waren wie Reisig, und zog ihn aus seinem Sessel oder aus dem Rollstuhl hoch. Er dirigierte sich ins Gleichgewicht, wie ein Balanceur auf dem Hochseil; und stand schließlich, ruhig, gerade, als wäre er bereit, alle Ehren in Empfang zu nehmen.

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