Von nun an verbrachte Carl die Nächte in Harlem in den Clubs, die Small’s Paradise, Pod’s and Jerry’s Log Cabin, The Alhambra Grill oder Hot-Cha hießen und wo man überall Musiker hören konnte, die ein paar Jahre später Weltstars waren — Earl Hines, Lionel Hampton, Benny Goodman oder Coleman Hawkins. Er wurde süchtig nach Jazz. An den Tagen durchstöberte er die Geschäfte in der 52. und in der 44. Straße nach Platten und verbrachte Stunden im Commodore Music Shop, dessen Besitzer, Milton Gabler (ich erwähne seinen Namen, weil ihn Carl in den späten fünfziger Jahren nach Wien einlud, was bei meinem Vater, wie erwartet, einen Eifersuchtsanfall auslöste) gerade damit beschäftigt war, alte Jazznummern neu herauszugeben. Carl wohnte nicht mehr im Plaza beim Central Park, sondern bei Abraham Fields, schlief auf dessen Küchensofa oder schlief bei anderen Freunden. Er gab eine Menge Geld aus für feine Anzüge, feine Schuhe, feines Essen und eben stapelweise Schallplatten. Um den Whiskeyhandel kümmerte er sich wenig, das Geschäft lief ohne ihn. Er hatte es eingefädelt, Fleiß und Schweiß überließ er den anderen.
Dieses Leben führte er ein knappes Jahr. Dann hatte er genug davon. Von einem Tag auf den anderen. Im Herbst 1935 kehrte er nach Wien zurück — aber nur, um seine Sachen zusammenzupacken und nach Lissabon zu ziehen. Von nun an leitete er die Handelsgesellschaft, in der Bárány über maßgebliche Anteile verfügte.
Was war geschehen?
«Ich habe mich nicht getraut. Ich stand an der Peripetie meines Lebens. Das wußte ich. Und weil ich es wußte, habe ich mich nicht getraut, mein Leben so gründlich zu ändern, wie es der neue Weg verlangt hätte. Also bin ich ein paar Schritte zurückgetreten und habe meine Reise auf einem der alten Wege fortgesetzt.«
Im Erdgeschoß des Hauses in der Rua do Salitre wurden die Waren aus Übersee und den Kolonien — hauptsächlich Kaffee und Kakao, aber auch Kokosnüsse, Gewürze und manche Teesorten — in die hübschen Holzkisten mit dem Brandstempel Bárány & Co. verpackt, um nach Wien und in die Filialen in Mailand, Prag, Budapest und München verschickt zu werden; im zweiten Stockwerk bezog Carl eine prächtige Wohnung. Bald schlich sich wieder die Langeweile in sein Herz. Dagegen half dann doch die Mathematik. Als er glaubte, genug Portugiesisch zu können, schrieb er sich als Gasthörer an der Universität in Lissabon ein und nahm an den wissenschaftlichen Diskussionen der Kollegen teil. Allein die Tatsache, daß er in Göttingen, der» Welthauptstadt der Mathematik«, studiert, bei David Hilbert und Max Born Vorlesungen besucht und bei Emmy Noether dissertiert hatte, verschaffte ihm großen Respekt — der natürlich noch dadurch gesteigert wurde, daß er sich in seiner Habilitation über die Riemannsche Vermutung den Kopf zerbrochen hatte. Eine Lektorenstelle an der Universität Coimbra wurde ausgeschrieben, Carl bewarb sich und wurde ausgewählt. Und er lernte Margarida kennen.
Carl:»Ich war vorhin nicht präzise. Nicht auf dem Wendepunkt unseres Lebens haben wir uns kennengelernt, sondern knapp danach. Als frisch Resignierte, frisch Verzagte, als junge Verräter, als gerade erst Desillusionierte, als beinahe Ausgeträumte. Unsere Beziehung versprach nicht eine neue Chance, aber einen erträglichen Umgang mit der Niederlage. Und das nenne ich die Grundlage für eine ideale Paarschaft. Margarida hat mir erzählt, du hättest ihr gesagt, sie und ich seien deine idealen Eltern gewesen. Ich gebe zu, das hat mich gefreut, wirklich sehr gefreut. Pflichtgemäß hatte ich mich natürlich auch darüber empört.«
7
Solche Redeschwalle waren bei Carl nicht ungewöhnlich. Wenn eine Geschichte seiner Meinung nach einen weitgeschwungenen Bogen erforderte, mutete er sich selbst und den anderen zu, diesen Bogen zu spannen und zu halten. Ich habe vor nicht langer Zeit für Ö1 (das ist unser Kultursender) einen kleinen Essay über die Erschaffung von Sinn und Vergangenheit geschrieben; Carls Art zu erzählen hat mich dazu angeregt. Nicht die Begebenheit, gleichgültig, ob schwerwiegend oder nebensächlich, schrieb ich darin, entscheide über Tiefe und Weite des Raumes in der Vergangenheit, der erzählend mit Sinn erfüllt wird, sondern die Frage, wie viele andere Begebenheiten, also: wieviel Welt diese eine Begebenheit unter ihr Diktat zwinge. Die Kreuzigung Christi als Faktum sei zu ihrer Zeit nichts Außergewöhnliches gewesen, erst die Evangelisten hätten dieses Ereignis erhöht und gleich zum Außergewöhnlichsten überhaupt erkoren, indem sie in ihren Erzählungen die ganze Welt daraufhin ausrichteten. Und so weiter … Carl wollte mir erzählen, wie es dazu gekommen war, daß er bereit war, einen Schritt zu setzen, der für ihn bis dahin undenkbar gewesen war, nämlich zu heiraten.
Der Föhn hatte inzwischen das Tal eingenommen. Von einer halben Stunde auf die nächste inszenierte er mitten im Februar die Illusion eines Mai-Nachmittags, spielte Gerüche vor, die es im Winter gar nicht geben konnte — Flieder, warmer Staub nach einem Gewitter, Sonnenöl. Es war fiebrig warm geworden, und ich fühlte mich krank, der Schweiß stand mir auf dem Rücken, ich fröstelte. Und meine Einlagen waren durchnäßt. Ich wollte zurück zur Villa, wollte ein Bad nehmen, meine Sachen in die Waschmaschine werfen und mich eine Stunde hinlegen.
«Ich kann nicht mehr stehen«, sagte ich.
«Du bist mein Meister«, sagte er.
Von der Kirche durchs Dorf ging’s abwärts, ich mußte die Bremse am Rollstuhl ziehen und konnte mir nicht mehr vorstellen, wie ich den Wagen vor einer knappen Stunde hier hinaufgeschoben hatte. Wenn ich die Bremse zu fest anzog, rutschten die Räder über den Streuschotter, so wenig Gewicht hatte Carls Körper.
Wir kamen beim Laden vorbei, der ein kleiner Supermarkt der ADEG-Kette war. Carl sagte:»Ich glaube, man nimmt Johannisbeermarmelade für Bratäpfel. Oder nimmt man Preiselbeeren?«
«Ich weiß nicht«, sagte ich.
«Nimm beides. Wir haben weder das eine noch das andere im Haus. Ich warte draußen. Stell die Bremse fest und mach dir keinen Kopf!«
Ich rückte den Rollstuhl nahe an das Schaufenster, das blind war vom Straßenstaub. Der Gehsteig verengte sich vor der Eingangstür. Wenn ein Auto schnell durch den Ort führe und vielleicht einem entgegenkommenden auswiche, könnte es gefährlich werden. Carl zwinkerte mir zu, spreizte zwei Finger zum Victory-Zeichen, hob auch die andere Hand, ballte sie zur Faust, streckte den Daumen nach oben, schob schließlich die Hände wieder unter die Wolldecke und wandte den Blick von mir ab.
Im Laden war es heiß. Ich konnte den Harn nicht halten. Er rann in die Einlagen, die ihn nicht mehr aufnahmen, rann an meinen Oberschenkeln hinunter. Ich fragte bei der Kasse, ob ich die Toilette benutzen dürfe. Die sei eigentlich nicht für Kunden, sagte der junge Mann.»Ich habe mir die Blase erkältet«, sagte ich. Eine Frau stand beim Förderband, die trug einen vielfarbenen Anorak mit Pelzkragen, sie hob die Augenbrauen, zuckte mit den Lippen, faßte Bananen, Lauchstange, Sellerie, Karotten und ihre anderen Sachen aus dem Einkaufswagen und dachte sich etwas. Der junge Mann öffnete die Kasse und gab mir einen Schlüssel, an dem ein schmutziges Plastiketikett hing. Ich zog ein lustiges Gesicht, ging mit großen Schritten an den Regalen entlang nach hinten, fuchtelte mit dem Schlüssel und rief der Verkäuferin bei der Brotabteilung zu:»Nur ausnahmsweise!«»Natur ist Natur«, antwortete sie.
Die Toilette war ein enger, fensterloser Raum, in dem Putzbürsten, Putzeimer und Putzmittel standen. Von der Decke herab hing an einem aufgewickelten Kabel eine Energiesparbirne, höchstens 25 Watt. Ich schloß hinter mir ab, hängte den Mantel über das Ende von einem Besenstiel, es war kein Haken in dem Raum, öffnete den Gürtel und zog die durchweichten Einlagen aus der Unterhose. Alles war feucht, die Unterhose, die Hose bis hinunter zu den Oberschenkeln, der Saum des Hemdes. Die gebrauchten Einlagen wickelte ich in Toilettenpapier, davon gab es zum Glück reichlich, und schob den Papierball in die Manteltasche. Ich traute mich nicht, sie in die Kloschüssel zu werfen. Wenn sie den Abfluß verstopften, würde das einen Rattenschwanz von peinlichen Umständen nach sich ziehen. Inkontinenz ist kein Gebrechen, das Mitgefühl erregt. Ich wollte sie irgendwo unterwegs in einen Abfalleimer stecken, falls da einer war, spätestens vorne bei der Haltestelle der Lanserbahn war einer, das wußte ich. Ich versuchte, Unterhose, Hose und Hemd zu trocknen, indem ich den Stoff zwischen zwei Papierlagen preßte. Aber das kostete mich zuviel Kraft und hatte wenig Effekt. Mir wurde schlecht, ich setzte mich auf den Klodeckel und atmete vorsichtig und bewegte die Augen nicht. Ich holte drei frische Einlagen aus der Manteltasche, bettete sie in die Unterhose, so wie es mir Frau Mungenast beschrieben hatte, eine in die Mitte, die anderen beiden links und rechts darüber, so daß sie die mittlere je zur Hälfte abdeckten. Es sah aus, als ob unter der Hose ein sexuelles Ungetüm läge.
Читать дальше