Daniel und Margarida verlobten sich. Im Einvernehmen mit Daniels Eltern beschloß Herr Durao, einer Ehe erst zuzustimmen, wenn Daniel sein Examen bestanden habe. Aber Daniel schloß sein Studium gar nicht ab. Er verließ die Universität. Seine Eltern schämten sich vor Herrn Durao; um so mehr, als dessen Tochter in derselben Studienrichtung wie ihr Sohn so ungemein erfolgreich war. Sie schickten Daniel nach Lissabon auf eine Ingenieurschule, durch die er endlich mit Protektion auch geschleust wurde. Nun meinte Margaridas Vater, man solle mit der Heirat warten, bis er eine Arbeit habe. Ein Onkel hatte eine gute Arbeit für Daniel. Aber aus der Arbeit wurde nichts. Und aus einer anderen guten Arbeit wurde ebenfalls nichts; und aus der Hochzeit schon gar nichts.
«Und dann war mir auf einmal klar, daß ich in diesem Land nichts mehr verloren hatte«, erzählte Margarida.»Nichts wollte ich weniger als meinem Vater weh tun. Aber ich wußte, ich würde es ihm auch nicht mehr recht machen können. Lissabon war besser als Coimbra. Aber Paris wäre besser als Lissabon. Ich wollte nach Paris. Ohne Daniel. Und ohne den Segen meines Vaters. Meinen Vater würde ich vermissen, Daniel würde ich nicht vermissen. Und Portugal schon gar nicht. Ich hob meine Ersparnisse ab. Aber der Mut verließ mich. Als ich das Geld in der Hand hielt, das ich gespart hatte, verließ mich der Mut. Ich zahlte es am nächsten Tag wieder ein. Geniert habe ich mich. Der gleiche junge Mann, der mir das Geld am Vortag gegeben hatte, nahm es nun wieder in Empfang. Wenn er mich ausgelacht hätte, wäre es nicht so schlimm für mich gewesen. Aber er tat so, als wundere er sich nicht einmal. Ich absolvierte brav mein Studium. Die Prüfungen legte ich in Coimbra ab. Meinem Vater zuliebe. Ich war die erste diplomierte Wirtschaftswissenschaftlerin meiner Heimatstadt.«
Das war im Frühling 1938. Bei einem der regelmäßigen Treffen von Professoren, Studenten und anderen interessanten Leuten im Haus ihres Vaters lernte Margarida Carl kennen.
6
«Lauter Dinge, die ich weder geplant noch gewollt, noch nicht gewollt hatte, standen im Weg herum, und ich eckte an, und so ist es eben passiert, daß mich der Lebenswind nach Lissabon in die Arme meiner lieben Margarida getragen hat«, sagte Carl und schmunzelte dabei, und ich sah ihm an, daß er diesen Satz mehr oder weniger im Wortlaut vorbereitet hatte und das Schmunzeln als Begleitung dazu.
Er bat mich, einen Schneeball zu formen und ihn in seine Hand zu legen, und als ich Schnee vom Fuß der Mauer nehmen wollte, weil dort am meisten lag, rief er:»Nein, nein, ich will Schnee von ihrem Grab!«
Ich drückte eine große Kugel zurecht, er zog die Handschuhe aus und rollte den Schneeball von einer Hand in die andere.
«Ist es viel verlangt, den Schnee von ihrem Grab zu entfernen?«fragte er.»Jedenfalls die größeren Schollen. Schnee muß jetzt nicht mehr sein, was meinst du? Hinter der Kirche ist ein Brunnen, dort stehen Schaufeln und Besen.«
Ich wischte den Rest des Schnees mit den Händen weg. Danach waren meine Hände rot, und sie glühten. Der Schneeball in Carls Händen war nicht kleiner geworden. Er warf ihn hinter sich und sagte:»Vielleicht hat ja alles seine Dramaturgie, nur durchschaue ich sie nicht immer. Das wird deine Aufgabe sein. Darum habe ich mir einen Dichter gerufen.«
Carl hatte in Göttingen studiert und war anschließend nach Wien zurückgekehrt. Sein Großvater und seine Großmutter, auch seine Mutter meinten, er habe sich verändert. Stark verändert. Er sei abwesend und abweisend. Bisweilen reagierte er auf kleinste Fragen aufbrausend. Er beteiligte sich nicht. Setzte sich nicht einmal zum Tee zu ihnen. Tagelang redete er kein Wort. Seine Mutter zog sich ängstlich vor ihm zurück, kam nur noch sehr selten zum Rudolfsplatz, und er besuchte sie nicht in ihrer Wohnung. Seine Großmutter drang in ihn, versuchte ihn auszufragen und wohl auch auszuspionieren, sie wühlte in seinen Sachen, ob sich etwas finden ließe, was Auskunft geben könnte über den unerklärlichen Gemütswechsel ihres unerklärlichen Enkels. Seelenkunde war Mode. Sogar schon wieder etwas aus der Mode. Es hatte die Großmutter immer interessiert, was ein Mann wie Sigmund Freud aus Menschen herauszuquetschen vermochte, wenn sie erst auf seiner Couch lagen. Sie hatte lange mit dem Gedanken gespielt, sich selbst einer Analyse zu unterziehen, sich aber doch nicht getraut.
«Sie nahm mich eines Morgens nach dem Frühstück beiseite und schlug mir vor, einen Psychoanalytiker aufzusuchen«, kicherte Carl.»Ich sagte zu ihr: ›Das tu ich gern, Großmama. Ich kann mich gleich heute erkundigen. Aber eines weißt du schon: Der Patient darf mit niemandem darüber sprechen, sonst verpufft der Zauber.‹ Man konnte ihr förmlich ansehen, wie das Interesse aus ihr herausrann. Als hätte man unter ihrem Kinn einen Hahn aufgedreht.«
Der Großvater glaubte, den Grund für die» Laune «zu kennen: Langeweile. Carl habe mit Bravour ein Studium absolviert, das eigentlich zu nichts nütze sei, und hadere nun mit sich, weil er eingesehen habe, daß ein Mann seine Kraft im Umgang mit wirklichen Dingen verausgaben sollte. Er war überzeugt, über kurz oder lang werde Carl ins Geschäft einsteigen; er wollte ihn nicht drängen, sparte aber auch nicht mit Andeutungen und Vorschlägen.
Tatsächlich hatte Carl das Interesse an der Mathematik verloren. Aber nicht nur das: Er hatte das Interesse an allem verloren. Er hatte seine Begeisterung verloren, wie der Peter Schlemihl seinen Schatten verloren hatte.
«Das hatte seine Geschichte«, sagte er,»eine furchtbare Geschichte, aber eigentlich auch eine komische Geschichte. Mehr komisch als furchtbar. Laß mir noch ein Stück Zeit, Sebastian. Ich werde sie dir erzählen, wenn ich erst genug anderes erzählt habe, so daß das eine das andere aufwiegen kann und kein Übergewicht entsteht.«
Er arbeitete zwar weiter an der Universität, habilitierte sich am Physikalischen Institut mit einer Arbeit über die Riemannsche Vermutung (Nullstellen in der Zeta-Landschaft), ein Thema, an das sich nur die Besten wagten; ein Jahr lang hielt er als Privatdozent am selben Institut Vorlesungen und Seminare ab; eine Professur wurde ihm in Aussicht gestellt — eine brillante Vergangenheit, eine brillante Zukunft; aber zufrieden war er nicht. Er wollte Österreich verlassen, aber sicher nicht nach Deutschland zurückkehren. Sein Großvater schlug ihm vor, sich in Lissabon bei der Handelsgesellschaft, an der er beteiligt war, umzusehen; vielleicht habe er ja Interesse, einen Handelsvertreter auf einem Schiff nach Deutsch-Südwestafrika oder nach Macau oder nach Ägypten oder gar nach Brasilien zu begleiten.
Ja. Warum sollte er es nicht wenigstens versuchen? Er meldete sich von der Universität ab und fuhr in der Welt herum — Lissabon, Kairo, Hongkong, Istanbul, Panama. Schließlich in die Vereinigten Staaten von Amerika. In New York baute er aus eigener Initiative eine Geschäftsbeziehung zu einem Whiskeyexporteur auf, was für Bárány in der Folge, vor allem in Deutschland, ein gutes Geschäft wurde; dort herrschte nämlich eine Zwanziger-Jahre-Nostalgie, und ein ungebändigter Bourbon, der gerade erst aus der Prohibition entlassen worden war, wurde den saturierten schottischen Whiskys vorgezogen — wahrscheinlich weil er die Kunden an ihre eigenen wilden Jahre erinnerte, die zwar kaum einer wiederhaben wollte, in denen man aber immerhin jung gewesen war.
Eines Morgens saß Carl in der Oak Bar des Plaza Hotels in New York und frühstückte, da trat ein Mann an seinen Tisch und sprach ihn auf deutsch an. Er kenne ihn aus Göttingen, sagte er. Er, Dr. Candoris, habe doch bei Frau Professor Noether dissertiert und sei ihr Assistent gewesen; er habe sie doch Ende der zwanziger Jahre nach Moskau begleitet. Frau Professor Noether habe ihm ausführlich von dieser Zeit berichtet, es müsse sehr aufregend gewesen sein.»Ja, das war es«, sagte Carl und fragte:»Und wir beide, Sie und ich, wir kennen uns tatsächlich?«»Aber freilich«, strahlte der Mann. Er stellte sich nicht vor. Weil er so sicher war, daß ihn Carl kannte? Er hatte ein flaches Gesicht von ungesunder Farbe wie Magermilch und auseinanderstehende runde Schneidezähne. So ein Gesicht würde man sich merken, wenn es in einer vorbeiziehenden Menge aufschiene. Aber Carl erinnerte sich nicht. Frau Professor Noether lebe nicht weit von New York, fuhr der Mann fort. Davon wußte Carl nichts. Ob er, Dr. Candoris, sie sehen wolle. — Später meinte sich Carl zu erinnern, daß in diesem Augenblick eine Warnleuchte in seinem Kopf geblinkt habe, zu schwach wohl. In einer tieferen Schicht sei ein Gedanke aufgekommen, aber gleich wieder eingegangen: Der ist ein Lockvogel, man will mich reinlegen. Andererseits: Wenn seine ehemalige Professorin in Amerika war, dann ging es ihr mit größter Wahrscheinlichkeit nicht gut. Und dieser Mann hier würde ihr melden: Ich habe es ihm gesagt, aber er will nicht. Was würde sie denken? — »Das würde ich wirklich sehr gern«, antwortete Carl. Es treffe sich gut, sagte der Mann, in ein paar Tagen werde bei Freunden in New Jersey eine kleine Feier zu Ehren von Frau Professor Noether veranstaltet. Er werde das Nötige veranlassen. — Am selben Abend bereits lag ein Brief für Carl bei der Rezeption des Plaza. Darin wurde ihm mitgeteilt, eine junge Journalistin werde ihn an dem betreffenden Tag in der Bar des Hotels abholen und gemeinsam mit ihm nach New Jersey fahren.
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