So freundlich sich Carl Frau Mungenast gegenüber gab, so kühl, ja abweisend verhielt er sich gegen die Frau, die sich um den Haushalt kümmerte und kochte, ebenso gegenüber ihrer Tochter, mit der sie sich abwechselte. Er hatte es nicht gern, wenn sie in seiner Küche kochten, deshalb brachten sie das Essen in verschlossenen Stahltöpfen mit und wärmten es lediglich auf. Das Abendessen bereitete meistens Frau Mungenast zu. Sie war morgens ab sieben Uhr im Haus, wenn Carl und ich noch schliefen. Sie wartete, bis Carl aufwachte, und richtete ihn für den Tag her. Ich fühlte mich sehr wohl in ihrer Gegenwart. Sie erkundigte sich nach meinem Leben, richtete mir einen Gruß von einer Freundin aus, die ein Buch von mir gelesen hatte, und tröstete mich, indem sie von vergleichbaren Fällen berichtete. Sie war geschieden und lebte inzwischen allein. Das» inzwischen «deutete ich so, daß sie nach der Ehe Männer gehabt hatte, wenigstens einen. Ich fand sie attraktiv, ihre Haltung ließ sie vornehm wirken, daran änderte auch ihre taubengraue Tracht nichts. Manchmal setzte sie sich zu uns, wenn Carl von seinem Leben erzählte. Die Anwesenheit der Köchin und ihrer Tochter hemmte ihn. Immer wieder fiel ihm etwas ein, was sie in der Stadt besorgen sollten — Kuchen, feinen Schinken, Speck, einen Laib Nußbrot. Oder er schickte nach einer CD, die er vorher telefonisch im Musikladen bei der Maria-Theresien-Straße bestellte — er sei dort einer der besten Kunden gewesen, schmunzelte er, und als Kenner durchaus berühmt, und es sei nicht nur einmal vorgekommen, daß ein aufgeweckter Zwanzigjähriger ihm den Kopfhörer gereicht und ihn um seine Meinung über eine Jazznummer gebeten habe. Mutter und Tochter hatten einen eigenen Wagen, einen büchsengroßen, aluminiumfarbenen Koreaner. Carl gab ihnen die Schlüssel zu seinem Mercedes.»Mit dem suchen sie erst einmal eine Stunde lang nach einem Parkplatz«, sagte er.
Margaridas Grab liegt an der Mauer des Friedhofs bei der Dorfkirche von Lans. Es ist mit Efeu überwachsen, am Kopfende steht ein Obelisk aus rosa Marmor, die Inschrift ist eingekerbt und schwarz nachgezogen. Ich sah ins Tal, über die Dächer der Bauernhäuser unterhalb der Kirche, über die Schneedecke auf den Feldern, aus denen in gepunkteten Linien die Stoppeln der Maisstauden schauten, bis hinüber zur Villa. Carl bat mich, ihm aus dem Rollstuhl zu helfen. Ich stellte die Bremse fest, faßte ihn bei der Schulter. Er sog die Luft ein, das klang nach Erstaunen, aber nach keinem guten Erstaunen. Ich fragte, ob er Schmerzen habe. Er antwortete nicht, weil er die Luft anhielt. Sein Körper wog wenig in meinen Armen. Langsam streckte er sich durch, stemmte den Rücken gerade, nahm die militärische Haltung ein, die mir immer imponiert, die mich auch eingeschüchtert hatte. Eine kleine Zeit stand er frei, die Sonnenbrille in der Hand, richtete mit den Unterarmen sein Gleichgewicht aus. Ich würde ihn nie wieder gehen sehen — den langsamen Gang, der so viel zu der Gelassenheit seiner Erscheinung beitrug; er wußte, wie man sitzt, steht und geht, wie man den Arm hebt, um auf etwas zu zeigen. Ein Windhauch verwirbelte unsere Haare.»Der Föhn kommt«, sagte er. Ich faßte ihn unter den Achseln, und er ließ sich zurück in den Rollstuhl gleiten. Er zupfte einen Handschuh von den Fingern und hielt mir die nackte Hand entgegen. Sie war warm und trocken und kühlte schnell ab, wie ein lebloser Gegenstand. Er lächelte zu mir empor und setzte die schwarze Brille wieder auf. Um das Grab herum lag Schnee. Die Mauer gab die meiste Zeit des Tages Schatten. Auf den Efeublättern hatte sich der Schnee nicht gehalten, sie breiteten sich gleichmäßig über dem schmalen Hügel aus, kräftig grün, optimistisch und diesseitig, und wuchsen an den Seiten des Grabsteins empor.
Margarida Candoris-Durao
geb. am 15.7.1916 in Coimbra (Portugal)
gest. am 30.1.1982 in Lans
Carl drückte meine Hand.»Du hast sie gern gehabt.«
«Ja, das habe ich.«
«Denkst du noch manchmal daran, als du bei uns warst?«
«Sehr oft denke ich daran.«
«Und denkst du gern daran?«
«Oh, das weißt du.«
«Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie leid es uns getan hat, als wir dich wieder hergeben mußten. Ich will dir etwas sagen, Sebastian. Trotz allem, was du weißt, trotz allem, was ich dir vielleicht noch erzählen werde: Wir beide, Margarida und ich, wir waren das ideale Paar. Wir haben oft darüber gesprochen, und immer waren wir uns einig gewesen: Wir sind das ideale Paar. Sie hat ja einiges übrig gehabt für Illustriertenklatsch. Aber in diesem Sinne meine ich es nicht. Nimm jedes Menschenleben als ein Drama! Aristoteles hatte ja seine Überlegungen zur Tragödie von irgendwoher bezogen. Eine solche Theorie saugt einer ja nicht aus der attischen Luft. Wann ist eine Geschichte eine gute Geschichte? Wenn sie gebaut ist wie ein Leben. Von daher hat es der Aristoteles. Und jetzt sage ich dir, was ein ideales Paar ist: nämlich wenn sich die beiden genau in der Peripetie ihres Lebens treffen. Ob es mit ihnen gutgeht oder nicht gutgeht, das ist eine andere Frage. In einem dramaturgischen Sinn sind sie ein ideales Paar. Und in diesem Sinn waren Margarida und ich ein ideales Paar. Und du, Sebastian, du warst unser Sohn.«
«Auch in einem dramaturgischen Sinn?«
«Spotte nicht über mich!«
«Ich war aber nicht euer Sohn.«
«Du wärst es gern gewesen. Damals in Innsbruck und ganz bestimmt in Lissabon. Für uns warst du unser Sohn. Für Margarida bis zu ihrem Tod. Ich bemerke an mir in letzter Zeit eine höchst merkwürdige Lust, alles mögliche abrunden zu wollen. Es heißt, je älter man wird, desto nüchterner wird man auch. Das gilt nur bis Neunzig, glaub mir. Jenseits der Neunzig neigt der Mensch, vor allem der Mann, auf schreckliche Weise zur Sentimentalität … Das ist die Krankheit der sehr alten Menschen … Sie ist nur wenig erforscht, diese Krankheit, weil nur wenige so alt werden. Na klar. Aber an der Sentimentalität sterben wir Überneunzigjährigen schlußendlich, glaub mir. Wenn dagegen ein Pulver erfunden wird, leben wir ewig. Diese Krankheit ist Margarida erspart geblieben. Ihre Liebe war nicht sentimental. Das war sie nie. Davon kann ich ein Lied singen.«
Und woran soll das Mütterliche anders gemessen werden als an der Liebe, die gegeben und genommen wird? Das darf man doch wenigstens denken! Außerdem habe ich es tatsächlich einmal ausgesprochen. In Lissabon. Die Neunzigjährigen neigen vielleicht zur Sentimentalität, die Zehnjährigen ganz sicher zur Wahrheit. Ich hatte zu Margarida gesagt:»Ich möchte, daß du meine Mutter bist. «In ebendieser Klarheit. Sie hatte mir eine Ohrfeige gegeben, die viel zu fest ausfiel, als daß ich hätte glauben können, sie sei als Züchtigung gemeint; die halbe Kraft wenigstens galt ihr selbst, um sich für das Glück zu bestrafen, das sie empfand, als ich ausgesprochen hatte, was sie, die in der Wolle gefärbte lusitanische Katholikin, sich nicht einmal zu denken getraute.
5
Als sich Carl und Margarida kennenlernten, wurde sie gerade zwanzig und war verlobt mit dem angehenden Ingenieur Daniel Guerreiro Jacinto. Sie studierte in ihrer Heimatstadt Coimbra Wirtschaftswissenschaften und wohnte zu Hause bei ihrem Vater. Sie war das jüngste von fünf Kindern; ihre beiden Brüder arbeiteten bei verschiedenen Zeitungen ihres Vaters in Lissabon und Aveiro; eine Schwester lebte nicht weit von Coimbra am Atlantik am Rand der Serra da Boa Viagem, sie war die Frau eines Beamten und hatte drei Kinder; die andere Schwester, Adelina, betrieb zusammen mit ihrem Mann in Lissabon eine florierende Handschuhmanufaktur und hatte ebenfalls drei Kinder, zwei Mädchen, Zwillinge, und einen Buben. Die Geschwister waren deutlich älter als Margarida, sie kamen selten nach Coimbra, und wenn, waren sie wie Fremde.»Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr habe ich mit allen vieren zusammen nicht soviel gesprochen wie wir beide heute an diesem Nachmittag«, hatte sie zu mir gesagt, als sie mir ihr Leben erzählte — nämlich mit dem Zweck, mich vor einer Verbindung zu warnen, deren gute Seite hauptsächlich aus der Hoffnung bestand, daß es eines Tages anders und besser werden würde.
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