Die Tage in Innsbruck reihten sich aneinander, aber es wurde keine Vergangenheit daraus, unser Leben war die stetig, ruhig und verläßlich sich dehnende Gegenwart. An den Sonntagen zogen Margarida, Carl und ich unsere Bergschuhe an — meine hatte Carl gemeinsam mit mir in einem Geschäft in der Altstadt ausgesucht, hohe Lederschuhe von der Firma Hanwag, etwas Solideres gab’s damals nicht (Hanwag klang in meinen Ohren wie eine Maschine oder eine weltumspannende Organisation — Unimog, Hapag Lloyd, Hanse —, und ich war ordentlich ernüchtert, als ich erfuhr, daß der Name eine Abkürzung war und ausgesprochen Hans Wagner hieß und nichts weiter) —, stiegen auf der Maria-Theresien-Straße in die Lanserbahn ein, setzten uns auf die lackierten Holzbänke und fuhren aus der Stadt hinaus zum Berg Isel und weiter durch den Wald, der ein Zauberwald war mit mäandernden Tannennadelwegen, Baumstümpfen, aus denen weiß und golden das Harz quoll, mit einem Friedhof mitten unter den Bäumen, auf dem nicht ein Grabstein gerade stand; fuhren in Serpentinen hinauf zu dem sanften Hochtal am Fuß des Patscherkofels, in das Dorf Lans, wo eine andere Luft war und eine andere Zeit; aßen im Wilden Mann zu Mittag — Hirschgulasch mit Preiselbeeren und Mehlnocken —, Carl rauchte zum Kaffee eine von Margaridas Falk, während sie fünf rauchte; spazierten auf einem Pfad durch die Maisfelder aus dem Dorf hinaus und weiter am Bahndamm entlang von der Haltestelle Lans zur Haltestelle Lansersee und stiegen zwischen den Wochenendhäusern über Stufen aus Holzbalken und Eisenhaken hinunter zum See. Margaridas Schnürsenkel lösten sich und fielen aus den oberen Haken ihrer Hanwags und schlappten bei jedem Schritt nach. Sie kümmerte sich nicht darum. Ich konnte Carl ansehen, daß es ihn störte; aber er sagte nichts. Wenn die beiden mit mir sprachen, war kein Unterschied in Thema und Ton zu den Gesprächen, die sie miteinander führten; Carl erzählte von den Vögeln, machte uns auf ihren Gesang aufmerksam, zeigte mir ihre Nester, ließ mich am Schattenriß am Himmel bestimmen, was für ein Greifvogel über uns kreiste; oder wir redeten über den Algerienkrieg oder über Adolf Eichmann, den der israelische Geheimdienst aus Argentinien entführt hatte; oder Carl demonstrierte mir anhand von hundertzehn Kieseln, die er auf den Badepritschen beim See zu einem Rechteck aufreihte, wie der mathematische Großmeister Carl Friedrich Gauß, als er geradeso alt war wie ich, eine Formel entwickelt habe, mit deren Hilfe man in weniger als einer halben Minute alle Zahlen von 1 bis 100 zusammenzählen kann; oder er erklärte mir, was eine Primzahl ist, und während wir auf einer Bank neben dem Schilf saßen und auf den See blickten — das Café gab es damals noch nicht —, breitete er vor mir den Beweis des Euklid aus, daß die Anzahl der Primzahlen unendlich sei, und weihte mich in die Goldbach-Vermutung ein (was für ein wunderbares rätselhaftes Wort wieder!), wonach jede gerade Zahl größer als 2 sich als Summe zweier und jede ungerade Zahl größer als 5 als Summe dreier Primzahlen darstellen lasse, und ich durfte mir einbilden, ich hätte alles verstanden. — Von der Gewohnheit der sonntäglichen Spaziergänge rückten wir, wie gesagt, auch in Lissabon nicht ab, dort wanderten wir am Tejo entlang nach Belém, aßen in einem der Cafés den berühmten portugiesischen Kuchen, lachten über Chruschtschow, weil er in der UNO mit dem Schuh auf den Tisch getrommelt hatte, und fuhren mit der Straßenbahn zurück zur Praça do Comércio, wo wir uns noch eine halbe Stunde auf eine Bank setzten und schwiegen und den Schiffen zusahen, bis der Abend die Häuser und Schiffe zu Schattenrissen verdunkelte. Innsbruck war viel schöner gewesen, unvergleichlich viel schöner!
«Weißt du«, verriet ich Margarida auf dem erwähnten langen Spaziergang am Inn entlang,»daß ich euch beide als mein ideales Elternpaar gesehen habe?«
«Um der Heiligen Madonna willen!«rief sie aus und lachte breit und laut.»Dafür bitte ich dich noch nachträglich innig um Verzeihung!«
«Aber warum denn! Ihr habt mich ruhig werden lassen. Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutet hat?«
«Ja, natürlich kann ich mir das vorstellen.«
«Das heißt ja nicht, daß ich meinen Vater und meine Mutter nicht geliebt hätte. Aber bei denen war es nicht ruhig. Oder es war zu ruhig. Stille war am gefährlichsten. Bei Carl und dir, das war, als ob mein Kopf kein Gewicht hätte.«
«Das, mein lieber Kleiner«, sagte sie mit bedeutungsvoller Stimme, meinte es aber ernst,»das liegt an unserer Synchronizität.«
Auf den Spaziergängen durch Lans kamen wir auch an der gelben Villa vorbei, und jedesmal sagte Margarida, wie herrlich es sein müsse, in diesem Haus zu wohnen, und Carl antwortete, ja, wenn es nur unten in der Stadt stünde. Anfang der achtziger Jahre haben sie die Villa gekauft. Einen Vorteil habe es, hier oben zu wohnen, witzelte Carl, er müsse nun nicht mehr jeden Tag die Felsen der Nordkette vor sich sehen, dieses Brett vor dem Kopf dieser Stadt. Dafür sah er den Patscherkofel, sanft und rund wie die Brust einer liegenden Frau. Ich war immer der Meinung gewesen, Carl passe nicht in dieses Haus. Tatsächlich hatte er sich lange dagegen gesträubt, die Wohnung unten in der Anichstraße aufzugeben. Nach Margaridas Tod — sie hatte nur ein Jahr in ihrem Traumhaus gelebt — überlegte er sich, es zu verkaufen, überhaupt aus Innsbruck wegzuziehen, zurück nach Wien, zum Rudolfsplatz. Aber er ist geblieben. Weil Margarida auf dem Dorffriedhof begraben liegt.
Das Haus steht an einem Hang, der über Tannenspitzen und Buchenkronen in ein Felsstück übergeht. Es war von den ehemaligen Besitzern in Habsburgergelb gestrichen worden; alles, was vom Himmel kommt, hat es im Laufe der Jahre entschieden interessanter umgefärbt; außen hatten Carl und Margarida nie etwas verändert. Mit seiner Front weist das Haus gegen den Berg und wirkt mehr stur als herrschaftlich, die beiden Ziertürmchen an den Kanten scheinen wie Messer und Gabel in den Händen eines trotzigen Kindes. Ich habe Nächte in diesem Haus verbracht, wenn der Föhn vom Patscherkofel herunterraste, und es war ein Lärm gewesen, wie ich vergleichbaren nie in der Natur erlebt hatte — auch nicht während der Winterstürme von North Dakota.
3
Der Taxifahrer nahm mein Gepäck aus dem Kofferraum. Vom Rufen war mir schwindlig geworden. Mein Kreislauf sackte ab. Ich mußte all meine Kräfte sammeln, um durch den schmalen Vorgarten zum Haus hinaufzugelangen. Nach dem Frühstück in der Klinik war mir der Katheter entfernt worden; jetzt war Nachmittag, und das hieß: Ich hatte meine ersten fünf Stunden Inkontinenz hinter mir; und das hieß: fünf Einlagen. Der Chauffeur ging über die Zementstufen voraus, an den in Vlies eingepackten Rosenbäumchen vorbei, die Steinplatten dampften in der Sonne, er trug meinen Koffer und meine Ledertasche und war auf eine Weise heiter, redselig und laut, wie es Gesunde nur gegenüber Kranken sind, die sich offenbar unter der unsichtbaren Schattenhand des Todes zu schwerhörigen und unterbelichteten Hosenmätzen zurückgebildet haben. Ich kam mir so hoch über dem Boden vor, der Kopf so weit oben, von der Nasenspitze zur Schuhspitze ein Abgrund, torkelte und hüpfte wie auf Stelzen, drückte den roten schwimmreifgroßen Gummiring, den mir die Sekretärin von Dr. Strelka mitgegeben hatte, damit ich mich darauf setze, gegen meine Brust. Die Spätwintersonne blendete mich, auch wenn ich ihr den Rücken zuwandte; die würzige Luft, die von der Erde aufstieg, war zu stark für Nerven und Nase, wie eine Überdosis von irgend etwas. Der Hang wies nach Südwesten, der Schnee war geschmolzen, nur unter den Büschen hielten sich kleine schmale Schneerampen, die gesprenkelt waren mit Resten von Rosenblättern. Auf dem vereisten Parkplatz vor der Frauenkopf-Klinik hatte ich mich von einem Pfleger führen lassen. Nun setzte ich meine ersten eigenen Schritte im Freien, versuchte dabei, wie mir beigebracht worden war, die Beckenbodenmuskulatur zusammenzuziehen.
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