Carl winkte mir immer noch zu, den Arm hielt er inzwischen näher beim Körper, als wäre ihm die Hand zu schwer geworden. Schließlich verharrte sie in einer cäsarenhaften Geste. Sein Torso reichte nicht einmal aus, die Rückenlehne des Rollstuhls abzudecken. Wenig war er geworden.
Ich überholte den Taxifahrer, nahm zwei Stufen auf einmal, mein Penis rutschte aus der körbchenartig geformten Einlage, Urin sickerte in Unterhose und Hose, ich mußte innehalten, um Luft zu holen, und als ich schließlich vor Carl stand, raste mein Herz und auf meiner Vorderseite war ein nasser Fleck, drei Handteller groß. Ich raffte den Mantel darüber.
«Ich kann’s noch nicht.«
«Vor mir brauchst du dich nicht genieren.«
Er streckte mir die Hand entgegen, formte mit den Lippen meinen Namen. Der Ärmel seines Hausmantels glitt zurück, sein Unterarm war mit Altersflecken gesprenkelt wie der Schnee unter den Rosenbüschen mit altem Rosenlaub. Seine Augen waren klein, wäßrig und an den Rändern entzündet; in den Winkeln klebten die Wimpern aneinander. Er trug ein Gebiß, was für mich neu war, kalkig, matt, zu groß, die Lippen schlossen sich nur mit Mutwillen darüber. Um Entzündungen vorzubeugen, erzählte er mir später, seien ihm vor einem Jahr alle Zähne gezogen worden. Ein lebenslang vertrauter Ausdruck war seinem Gesicht genommen, und etwas Hämisches hatte sich eingeschlichen — oder war geweckt worden; wenn er lachte, verschwand es; es gab keine Übergänge, keine Abstufungen, kein Nachklingen. Kann ein schlecht sitzendes Gebiß die Mimik eines Menschen so stark verändern, daß man einen anderen Charakter vor sich glaubt, wenn der nicht schon vorher in ihm gesteckt hat? Oder daß mangelndes technisches Können von Zahnarzt und Zahntechniker tatsächlich eine Wahrheit ans Licht bringt, die sich fast ein Jahrhundert lang spielend hatte verbergen lassen? Oder war es letzte verzweifelte Schadenfreude über das eigene Gebrechen, die seinem Gesicht diesen neuen, irritierenden Zug gab? Daß sich sein Geist sarkastisch über seinen Körper erhoben, sich bereits von ihm abgelöst hatte und weder Nostalgie noch Wehmut, weder Mut noch Hoffnung, kein Mitleid und keine Strenge für ihn übriggeblieben waren, sondern nur mehr eine Empfindung von Lästigkeit; daß er seinen Körper abgeschrieben hatte, wie einer seinen Sohn abschreibt, wenn ihm klargeworden ist, daß nie mehr etwas aus ihm werden kann? Die schutzlose, harmlose Kindlichkeit in seinem Blick stand dagegen und gehörte wieder zu jemand anderem. Auch den kannte ich nicht. Die Haut um die Augen herum war dünn, neben der Nase zu den Bäckchen hin babyhaft blühend, und die Augen erzählten eine mir nicht weniger unangenehme Geschichte, daß nämlich die Kraft, die Männlichkeit, das rigorose Selbstbewußtsein, die enorme Intelligenz, die sanfte intellektuelle Hartnäckigkeit, aber auch die intellektuelle Großzügigkeit, die manchmal wieder nur Gleichgültigkeit sein mochte, kurz: daß das Charisma, das diesem Mann sein Leben lang eignete, tatsächlich auf einer falschen Beurteilung durch seine Umgebung beruht hatte … — So viel Kraft brauchte dieses Gesicht inzwischen, um einen bestimmten Ausdruck zu formen; so viel Kraft noch einmal, um diesen Ausdruck festzuhalten, wenigstens für eine halbe Minute, damit er sich nicht gleich wieder auflöste und in ein Nichts absackte, das dann allein meinem Respekt zur Interpretation überlassen war.
Meine nasse Hose gegen seinen Rollstuhl. Ich legte den Mantel ab.»Es ist so eklatant, daß ich nicht einmal versuchen muß, es zu verbergen, stimmt’s?«
«Vor mir brauchst du dich nicht zu genieren«, wiederholte er. Wenn er sprach, war alle Greisenhaftigkeit verflogen.
Der Taxifahrer sagte:»Bei meinem Schwiegervater hat es drei Jahre gedauert.«
«Aber ich kenne einen«, antwortete Carl und drohte mit seinem Krähenfinger, als habe er den Taxifahrer beim Schwindeln ertappt,»bei dem hat es nur zwei Wochen gedauert. «Der Mann konnte den Spott nicht heraushören, es mußte einer schon geschult sein in der Harmonik von Carls feinen Untertönen.
«An diesem Punkt erwischt es uns Männer alle früher oder später«, sagte der Taxifahrer.
«Wie alt sind Sie denn?«fragte Carl.
«Zweiunddreißig.«
«In diesem Alter kommen die Gefahren freilich aus einer anderen Richtung.«
«So ist es!«rief der Taxifahrer fröhlich und tänzelte behende und gesund durch den Rosengarten zu seinem Wagen hinunter und hatte doch nicht die geringste Ahnung, worauf dieses weiße Gespenst in dem moosgrünen Hausmantel anspielte. Ich hatte ebenfalls keine Ahnung. Aber ich mußte es ja auch nicht mehr wissen.
Eine Frau kam aus dem Haus und gab mir die Hand wie einem, der lange erwartet worden war.
«Frau Mungenast«, stellte mich Carl vor,»das ist Sebastian.«
Sie war etwa in meinem Alter, hatte ihr Haar aufgesteckt, dunkles Mahagoni, trug ein blaues Kleid, das wahrscheinlich von ihrem Pflegeverein vorgeschrieben war. Sie band es mit einem Gürtel eng um den Leib. Der Gürtel paßte nicht, er war aus braunem Krokoleder, ein Männergürtel. Sie war klein, stand sehr aufrecht vor mir. Mir war, als suchte sie etwas in meinen Augen. Vielleicht vermied sie auch nur, an mir hinabzusehen. Ich hatte das Gefühl, sie mochte mich gleich, und ich mochte sie auch gleich. Sie hatte zwei Decken unter einem Arm.
«Setz dich neben mich in die Sonne«, sagte Carl.»Ich habe zu Frau Mungenast gesagt, daß du Kuchen magst. Sie hat welchen aus der Stadt mitgebracht.«
«Streusel-Kirsch«, sagte sie.
Als sie zurück ins Haus gegangen war, um den Tee zu holen, sagte er:»Sie hat ein eigenes Zimmer oben. Aber sie benutzt es selten. Manchmal bleibt sie über Nacht. Wenn ich ihr am Abend nicht gefalle. An den Wochenenden kommt Ersatz. Immer jemand anderer. Und am Mittag kommt eine Frau aus dem Dorf, die für mich kocht.«
Er schaltete das Handy ab und ließ es in die Tasche seines Hausmantels gleiten.»Jetzt bist du ja hier.«— Was hätte ich denken sollen? Er war sich nicht sicher gewesen, ob ich wirklich komme, hätte ja sein können, daß sie mich doch noch im Krankenhaus behalten, hätte ja sein können, daß ich im letzten Augenblick anrufe, weil ich es mir anders überlegt hatte. Also: daß er, der Telefonierer, am Ende seines Lebens nur noch mit mir telefonierte, daß sein Handy allein auf meinen Anruf gewartet hatte, daß es nur für mich dagewesen war und nun geschlossen werden konnte. — Das war falsch gedacht gewesen.
«Wenn Margarida noch am Leben wäre«, sagte er mit feierlicher Stimme,»dann wär’s wie früher. Aber Frau Mungenast wird sich bemühen, daß dein Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich wird.«
4
Nach einer Woche traute ich mir zum erstenmal zu, Carl im Rollstuhl bis hinüber ins Dorf zu schieben. Ich polsterte mich aus wie ein Landsknecht und stopfte meine Manteltaschen mit Einlagen zum Wechseln voll. Carl steckte auf Anweisung von Frau Mungenast sein Handy ein, damit wir erreichbar wären oder, falls nötig, Hilfe rufen könnten. Nach vier Wirbeleinbrüchen infolge von Osteoporose konnte er sich nur noch für Minuten auf den Beinen halten. Gegen die Schmerzen bekam er alle zwei, drei Tage Morphiumpflaster aufgelegt, die er allerdings nicht gut vertrug, weswegen sie öfter abgezogen und an einer anderen Stelle an Brust oder Rücken aufgeklebt werden mußten. Wenn sie frisch waren, war es mühsam, sich mit ihm zu unterhalten; er schaffte es nicht, sich zu konzentrieren, wurde albern und schwerhörig, sackte in Schlaf und fuhr auf, wenn sein Kopf vornüberfiel. Wenn ich ihn in diesem Zustand vor mir sah, im Halbdunkel hinter den zugezogenen Vorhängen, erinnerte er mich an jemanden, und mir wollte nicht einfallen, an wen — an jemanden, den ich kannte, oder an einen Schauspieler aus irgendeinem Film oder an eine Figur aus einem Roman, der meine Einbildung so deutliche Züge verliehen hatte. Das Morphium veränderte seine Physiognomie. Sein helles Gesicht wurde grob, fleckig, aufgedunsen, wirkte vernachlässigt wie das Gesicht eines Trinkers; die Mehrdeutigkeit der Gedanken, die ich jederzeit hinter seinen Augen ahnen konnte, wurde ausgelöscht von den trägen Lidern. Nach ein paar Stunden ließ der erste Betäubungsschub nach, und er war wieder so klar im Kopf wie je, und sein Gesicht fand zu den alten Farben und Formen zurück. Frau Mungenast verbot ihm aus dem Rollstuhl aufzustehen, und mich hatte sie vor unserem ersten größeren Spaziergang beiseite genommen; ich solle ja nicht den toleranten Freund spielen, der Freude ins Leben dieses Mannes bringen wolle, hatte sie gesagt; ich müsse mir im klaren sein, daß bei weiteren Einbrüchen die Gefahr einer Lähmung bestehe. Außerdem hatte Carl Ödeme in den Beinen, die von einer altersbedingten Rechtsherzinsuffizienz herrührten, und die Gelenkschmerzen, die ihn schon seit Jahrzehnten quälten, ließen inzwischen jede Bewegung zu einem Unternehmen werden, das er bedenken mußte. Um es mit den Worten von Frau Mungenast zu sagen: Carl war ein multimorbider Patient. Ganz gewiß wollte ich nicht den toleranten Freund spielen, aber ich war nun einmal sein Freund, und er war fünfundneunzig Jahre alt, und ich gedachte alles zu tun, worum er mich bat — soweit es im Bereich meiner Möglichkeiten lag. Dieser Bereich war ohnehin bescheiden. In der ersten Woche war ich die meiste Zeit tagsüber auf dem Sofa gelegen. Die Inkontinenz plagte mich. Fünfmal am Tag absolvierte ich meine Übungen zur Stärkung der Beckenbodenmuskulatur, morgens nach dem Aufwachen, mittags, nachmittags, am Abend und in der Nacht vor dem Einschlafen, jedesmal hundert Anspannungen.
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