Nach einem halben Jahr kam mein Vater aus der Klinik zurück, braungebrannt, charmant, scherzend. Trocken. Ein paar Untersuchungen hatte er noch zu absolvieren, nicht am Steinhof, einfach im Allgemeinen Krankenhaus; auch nicht zwingend bei Professor Hoff, einfach bei irgendeinem Arzt; die Werte seien gut, und zwar» immens«(das Lieblingswort von Attila Zoller, das sich mein Vater wider Willen angewöhnt hatte). Und auf einmal war die Idee mit Kreta da. Ich war überzeugt, es war Carls Idee gewesen. Es war eine gute Idee.»Bleibt aber nicht nur am Meer unten kleben«, sagte er am Telefon (wir hatten damals noch kein eigenes, mußten immer zum Gemischtwarenladen von Johann Lammel an der Ecke Penzingerstraße Gyrowetzgasse laufen, dort quetschten sich mein Vater, meine Mutter und ich neben die Wurstseite der Budel und teilten uns den Hörer),»schaut, daß ihr im Landesinneren etwas kriegt. «Zu Hause sagte mein Vater zu meiner Mutter:»Schauen wir, daß wir etwas im Landesinneren kriegen. Pack auf jeden Fall eine Decke ein! Wir setzen uns unter die Olivenbäume, essen Schafskäse und Brot und Olivenöl und Tomaten. Wir müssen ja nicht die ganze Zeit am Meer unten kleben!«Noch einmal trotteten wir im Gänsemarsch über die Straße zum Telefon:»Aber die Gitarre darf ich doch mitnehmen?«fragte mein Vater.»Warum solltest du sie nicht mitnehmen dürfen?«sagte Carl. Und meine Mutter nahm meinem Vater den Hörer aus der Hand und sagte hinein:»Was jetzt? Soll er sie mitnehmen, oder soll er sie nicht mitnehmen?«Ein paar Tage später lieferte die Musikalienhandlung in der unteren Mariahilferstraße (leider hat sie vor ein paar Jahren geschlossen, ich bin gern auf meinen nächtlichen Spaziergängen vorbeigegangen und habe mir im Schaufenster die Instrumente angesehen) eine neue Konzertgitarre in unsere Wohnung und einen Packen Nylonsaiten und eine ausgepolsterte Kunstledertasche und dazu eine Karte mit der Handschrift des Ladeninhabers:»Im Auftrag von Professor Candoris aus Innsbruck: Glückwünsche und alles Gute!«Carl befürchtete, daß mein Vater die gute Gibson verliere oder daß er ihr auf den Hals steige oder daß sie ihm gestohlen würde.
Und ich — wurde nach Innsbruck geschickt.
Es gibt keine Zeit in meinem Leben, in der ich glücklicher war. Obwohl ich meine Mutter und meinen Vater vermißte, ihn mehr als sie; und auch meine Schulkameraden und auch unsere Wohnung; und obwohl ich mir ein wenig überfordert vorkam, so als lebte ich immer ein wenig über meine Verhältnisse. Carl hatte mich für die erste Klasse im Gymnasium in der Angerzellgasse angemeldet, der besten Schule von Innsbruck. Ich liebte diese Schule, sie schien aus Vornehmheit und Tradition erbaut, und obwohl ich mich der Welt dieser beiden Attribute gewiß nicht zurechnete, fühlte ich mich eingeladen. Ich fiel nicht auf, höchstens durch gute Noten und wegen meines Wiener Dialekts. Ich gewann auch einige Freunde, hielt sie aber auf Abstand, ihre Namen habe ich vergessen. Ich war gern allein. Das war eine Entdeckung: daß Alleinsein Glück bedeuten konnte; daß alles, was die Wirklichkeit anbot, sich zur Ausgestaltung von Tagträumen verwenden ließ — das Gehen durch die Allee auf den Haupteingang der Schule zu war wirklich, und zugleich war es ein Traum; das knöcheltiefe Schlurfen durch die Ahorn- und Kastanienblätter; der Modergeruch vor dem Schulgebäude, der Modergeruch im Schulgebäude; meine Spaziergänge am Inn entlang oder an den Bahnschienen entlang aus der Stadt hinaus ein Stück in Richtung Brenner; der ungewohnt rasche Wechsel der Temperatur, wenn der Föhn einfiel — den von so vielen gefürchteten Innsbrucker Föhn schätzte ich wie ein Versprechen, er versetzte mich in eine Stimmung optimistischer, sehnsuchtsvoller Weltoffenheit. Es war eine aufregende Entdeckung, daß ich niemanden für mein Glück benötigte, daß ich allein sein konnte, daß ich gut mit mir selbst auskam und mir einbilden durfte, keine Angst haben zu müssen, daß sich das je ändern würde.
Ich war leider nur etwas länger als ein halbes Jahr in Innsbruck. Wir zogen nämlich für fünf Monate nach Lissabon, wo Carl überraschend zu einem Gastsemester an die gerade eröffnete Cidade Universitária eingeladen worden war. In Lissabon besuchte ich keine Schule; erlaubt war das wahrscheinlich nicht, aber es fragte ja niemand. Ich las sehr viel, auch Bücher, für die ich zu jung war — William Faulkners Absalom, Absalom! , das mir wie ein Fiebertraum vorkam, Der Spieler von Dostojewski, Die Elenden von Victor Hugo, Der Geheimagent von Joseph Conrad — in dem ich dem bösesten Menschen begegnete; am liebsten aber waren mir doch die zwei großen Buben-Romane von Mark Twain, die ich aus Innsbruck mitgebracht hatte, und wenn ich allein zum Tejo hinunterging und mich an den Kai setzte, bildete ich mir ein, vor mir liege der Mississippi und hinter mir nicht das glänzende Lissabon, dem ich so wenig abgewinnen konnte, sondern das Dorf St. Peterburg, und ich sei zwar immer noch ich, aber meine Freunde hießen Tom Sawyer, Joe Harper, Ben Rogers und — der liebste — Huckleberry Finn. Die Wohnung war im ersten Stock eines satten Bürgerhauses in der Rua do Salitre vor dem Botanischen Garten, Carls Großvater hatte Teile des Hauses in den frühen zwanziger Jahren gekauft; im Erdgeschoß war das Kontor der Handelsgesellschaft Bárány & Co. untergebracht gewesen, bis Carl nach dem letzten Krieg die Anteile der Familie verkaufte. Er hatte auch die Wohnung verkaufen wollen, aber Margarida war dagegen gewesen, sie wollte, wie sie sagte,»eine Heimat in ihrer Heimat «haben. Die Wohnung war einschüchternd großbürgerlich möbliert. Außer den erwähnten Büchern stand nur portugiesische Literatur auf den Borden, darum las ich, was ich lesen konnte, zweimal, dreimal hintereinander. Jeden Tag spielten wir zwei Stunden Schule, Margarida unterrichtete mich in Geographie und Latein, Carl in Deutsch und Mathematik, und er erzählte mir auch gelegentlich von österreichischer Geschichte; und als ich schließlich nach einem Jahr nach Wien zurückkehrte, war ich meinen Mitschülern der 2a am Hegel-Gymnasium (ja, demselben, das Carl besucht hatte) in allen Fächern überlegen. In Mathematik erklärte mich der Professor gar zu einem Wunderkind, allein aufgrund der Tatsache, daß ich Namen wie Gauß, Euler, Riemann und Hilbert kannte und Begriffe wie Axiom, Primzahl und Theorem aussprach, als wüßte ich, was sie bedeuteten.
In Lissabon fühlte ich mich nicht wohl. Mein Alleinsein in Innsbruck hatte sich in die Ordnung der Tage eingebettet; eine allumfassende, gütige Ruhe war diese Ordnung gewesen, und die Stunden, die ich mit mir allein verbrachte, waren meine Improvisationen innerhalb eines festen Themas, und dieses feste Thema waren meine» idealen «Eltern. In Lissabon gab es kein Thema, alles war Improvisation, nicht einmal die Unterrichtsstunden mit Margarida und Carl waren fix. Die Tage zerfielen, und die Gemeinschaft zwischen uns dreien zerfiel, und wenn wir zusammen waren, schien es wie Zufall. In Lissabon fühlte ich mich einsam; die Stadt erteilte mir eine traurige Lektion, nämlich: daß in der Einsamkeit nicht ein Korn vom Glück des Alleinseins enthalten ist …
Innsbruck aber war mein Paradies gewesen: Margarida hatte gekocht, ich währenddessen am Küchentisch meine Hausaufgaben erledigt. Wir warteten auf Carl, redeten miteinander, geistesabwesend beide. Zwischendurch stand sie am Fenster und rauchte eine, hielt die Hand mit der Zigarette erhoben, als melde sie sich zu Wort. Der Rauch, erklärte sie mir, ziehe im oberen Teil des Fensters hinaus, während im unteren Teil die frische Luft hereinziehe. Das war ein verehrungswürdiges Naturgesetz. Die Tage waren geregelt, alles geschah immer zur gleichen Zeit; ich wußte, was es an welchem Tag zu essen gab, und pünktlich um fünf Uhr am Nachmittag — die Stunde der Mathematiker — tranken wir Tee und aßen englisches Ingwergebäck, und Margarida zündete eine Kerze an, und Carl legte eine Jazzplatte auf und erzählte mir von den Musikern, die hier miteinander spielten. Ich lag auf dem Teppich, die Hände im Nacken und hörte zu. — Wann immer ich mir das Glück in ein Bild fasse, zeigt es diese Abende. — Besonders interessierten mich die Geschichten über Duke Ellington, wie er mit seinem famosen Orchester in einem Sonderzug kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika gefahren war — Chicago, New York, Philadelphia, Baltimore, Cincinnati, St. Louis —, immer ein Notizbuch und einen Stift in Reichweite, damit er sich Noten aufschreiben konnte, und daß er, wenn kein Notizbuch griffbereit war, die Melodien auf die Manschetten kritzelte, die heute von Bewunderern für teures Geld ersteigert werden. Das mochte ich am liebsten: wenn Carl Geschichten über Musiker und Musikanten erzählte; weil mir nämlich mein Vater ähnliche Geschichten erzählt hatte, Geschichten aus der großen Zeit der Schrammelmusik, als alle so lustige Namen hatten, die Sänger, die Jodler, die Dudler, die Pfeifer — Bratfisch, Hungerl, Xandl, Fladl, Prilisauer, Adolfi, Brady —, Geschichten vor allem natürlich über Anton Strohmayer, der ein Held war, und zwar kein Geringerer als der König Minos von Kreta, der aber im Gegensatz zu diesem als alter Mann von seinem Heldenthron herabgestiegen war, um meinem Vater, dem damals Vierzehnjährigen, die Hand auf die Kopfwolle zu legen und ihm zu sagen, daß aus ihm einmal etwas Großes werden würde. Und so erzählte mir Carl an den Abenden, wenn ich Heimweh hatte, Geschichten von Musikern; und nicht nur von den Abenteuern des Duke berichtete er, auch von anderen Jazzern — von der unglaublichen Billie Holiday, von Lester Young, Bud Powell, Count Basie, Thelonius Monk, Coleman Hawkins, Charlie Parker — und, was mir am besten gefiel, von den alten Bluessängern aus dem Mississippi-Land, die auch so lustige Namen hatten — Big Joe Williams, Big Bill Broonzy, Blind Lemon Jefferson, Blind Boy Fuller, Blind Simmie Dooley und Kansas City Kitty, die es eigentlich gar nicht gegeben hatte und deren Abenteuer sich in meinem Kopf mit den Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn verbanden. Aber Carl erzählte auch von Enrico Caruso und Beethoven und Mozart und Schubert und Paganini oder von Alfred Band, der das Bandoneon, und von Adolphe Sax, der das Saxophon erfunden hatte; und von den unendlich traurigen Fadosängerinnen aus Lissabon und von jenem geheimnisvollen Georgier Grigol Beritaschwili, der mit einem Instrument, das Tschonguri hieß, den Diktator Josef Stalin in die Knie gezwungen habe. Nicht im Kindermärchenton erzählte er, sondern mit der Sachlichkeit einer Reportage, aber mit einer Stimme, so sanft und rein, daß sie auf mich wie ein Rauschmittel wirkte. Er lenkte mich von meinem Heimweh ab. — Auf einem unserer Spaziergänge kurz vor seinem Tod versicherte er mir, daß er sich auf diese Erzählungen gewissenhafter vorbereitet habe als auf seine Vorlesungen, daß er vom Institut aus lange Telefongespräche mit Experten in Wien und New York und London geführt habe.
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