«Das ist doch nur Gerede«, versuchte ich sie zu beruhigen.»Die bringen nicht um. Niemanden. Die haben nichts mit Baader zu tun oder mit Ensslin oder mit Mahler oder den Schleyer-Mördern. Die wollen gar nichts mit denen zu tun haben. Die werfen keine Bomben oder schießen von Motorrädern herunter auf Staatsorgane. Im Gegenteil, die scheißen sich in die Hosen. Die besitzen keine Maschinenpistolen. Die wollen doch nur spielen — Petrograd Februar 1917, Schweinebucht 1961, Langer Marsch, Lumumba, Che Guevara, Angela Davis oder von mir aus Jupp Stalin oder Dserschinski oder Berija — Chinesen wollen die sein und Kambodschaner und Albaner. Weil sie es nicht aushalten, Deutsche zu sein. Das ist sicher sehr, sehr dumm, aber doch harmlos, und es verstößt gegen kein Gesetz.«
Dagmar hatte Angst. Sie traute sich nicht mehr in die Wohnung in der Bockenheimer Landstraße. Ich habe ihr das abgenommen, bin mit dem Auto eines Bekannten hingefahren, habe ihre Bücher in fünf Bananenschachteln gepackt und ab. Bevor ich die letzte Schachtel aus der Wohnung trug, schwenkte ich mangels eines Weihrauchfasses Kants Kritik der reinen Vernunft gegen die Wände, um den schwäbisch-kambodschanischen Geist zu vertreiben.
6
Am Abend des 22. März 1979 erzählte ich Dagmar folgende Geschichte (die ich zu einer kleinen Novelle verarbeiten wollte): Vor einigen Jahren klingelte eine Kommilitonin nachts um zwei an meiner Tür, sie hatte einen Koffer bei sich, der mit schwarzen Metallbändern zusammengehalten wurde, sie wollte bei mir einziehen. Ich fragte sie, ob sie sich mit ihrem Freund gestritten habe, und sie sagte, nein, sie habe sich von ihm getrennt. Ich fragte: Warum? Sie sagte: Deinetwegen. Wir lieben uns doch. Ich sagte: Wer? Sie sagte: Du und ich. Ich sagte: Wie kommst du denn auf diese Idee? Und sie: Stimmt es denn nicht?
Dagmar fragte:»Und was ist vorher gewesen zwischen euch beiden?«
«Nichts. Ich kannte sie ja kaum.«
«Wie gut hast du sie gekannt?«
«Eigentlich gar nicht.«
«Wie lange hast du sie gekannt?«
«Seit ein paar Stunden. Ich habe sie am Nachmittag zu einem Spaziergang eingeladen.«
«Und warum hast du sie zu einem Spaziergang eingeladen?«
«Wir waren im Institut und warteten, daß wir zur Prüfung drankommen. Sie ist dauernd auf und ab gegangen, weil sie so aufgeregt war. Es war heiß, und es war klar, daß wir noch mindestens zwei Stunden warten müssen, und darum habe ich gesagt: Gehen wir hinaus, spazieren wir um die Häuser!«
«Und was habt ihr auf dem Spaziergang geredet?«
«Alles mögliche. Ich wollte sie beruhigen. Ich habe ihr vom Föhn in Österreich erzählt.«
«Und deswegen hat sie sich eingebildet, daß du in sie verliebt bist?«
«Vielleicht war sie ja verrückt.«
«Oder sie dachte, du hast den Föhn als eine Metapher verwendet?«
«Metapher wofür?«
«Hast du mit ihr geschlafen?«
«Nein, natürlich nicht.«
«Was wäre unnatürlich daran?«
«Gar nichts. Aber ich habe es nicht getan.«
«Du hast es natürlich nicht getan. Oder hast du es nicht natürlich getan?«
«Bitte?«
«Ob du es mit ihr vielleicht auf nicht natürliche Weise getan hast.«
«Ich habe gar nichts getan. Und was, bitte, heißt ›auf nicht natürliche Weise‹?«
«Gegen deinen Willen zum Beispiel.«
«Warum um Himmels willen sollte ich gegen meinen Willen mit einer Frau schlafen?«
«Du stehst über allem drüber. Stimmt’s?«
«Ich bemühe mich.«
«Du bist ein Lügner.«
«Genau das bin ich nicht.«
«Und traust dich nicht einmal die richtigen Worte zu sagen. Föhn für Vögeln. Metaphern, meine Güte! Also auch ein Feigling. Ein intellektueller Feigling verwendet Metaphern, wenn er eine Frau anbaggert.«
«Wenn ich mit einer Frau schlafen will, sage ich zu ihr, daß ich mit ihr schlafen will. Und wenn sie es will und ich nicht, sage ich schlicht: Nein! So und nicht anders gehe ich, verdammt noch mal, vor.«
«Ehrlich also.«
«Wenn das ehrlich ist, dann ist es so, ja.«
«Richtig. Du kommst ja aus einer Welt, in der die Menschen immer pleite waren und immer Schulden hatten und immer nur Raten abgestottert haben. Aufgewachsen mit dem Gestank der Malzbrennereien in der Nase! Im Hinterhof der Schlote! Wo die Menschen ehrlich sind und meistens stinkbesoffen. Von mir aus kannst du mit allen Frauen bumsen — freiwillig, unfreiwillig, auf natürliche Weise, auf unnatürliche Weise …«
«Du führst dich ja schon auf, wenn ich es nicht tue, wie erst, wenn ich es tue!«
«Und wenn ich es tue?«
«Wohin führt das, Dagmar! Das ist doch absurd!«
«Wenn ich mit einem anderen schlafe, ist es also absurd?«
«Wenn du es tun willst, tu es! Tu es aber nicht, weil du mir eins auswischen willst!«
«Wenn ich es tun will, tu ich es, und ich frage dich nicht, warum ich es tue.«
«Wir reden über Taten, die wir nicht begangen haben. Weder ich noch du. Ich möchte dich nur daran erinnern.«
«Also: Hast du sie gebumst?«
«Wen?«
«Die, mit der du dich über den Föhn in deiner Heimat unterhalten hast.«
«Nein!«
«Und warum nicht? Ist sie häßlich?«
«Sie ist nicht häßlich. Ich habe es nicht getan, weil ich es nicht tun wollte.«
«Und warum wolltest du es nicht tun?«
Und so weiter … Acht Stunden lang!
Um zwei Uhr morgens habe ich die Wohnungstür hinter mir zugeworfen und bin aus dem Haus. Ich bin zum Bahnhof gelaufen. Und bin mit dem Zug um 3 Uhr 15 nach Innsbruck gefahren, mit Umsteigen in Lindau.
Carl war damals bereits emeritiert. Er und Margarida wohnten noch in der Stadt in der Anichstraße. Als ich an ihrer Wohnungstür klingelte, waren sie gerade beim zweiten Frühstück. Margarida öffnete, und ich sah durch den Flur und das Wohnzimmer meinen alten Freund auf der verglasten Dachterrasse sitzen. Die Märzsonne breitete sich golden über die weiße Tischdecke und die weißen Teller, über das blinkende Besteck, den Korb mit den Kaisersemmeln, die porzellanenen Eierbecher, die Orangensaftgläser, die Marmelade- und Honigtöpfe. Es roch nach Bienenwachs. Ich mußte mich sehr zusammennehmen, um nicht zu weinen.
Carl rückte einen Sessel vom Tisch ab und wies darauf, noch ehe er mich begrüßte.»Setz dich, Sebastian«, sagte er,»der Kaffee ist noch heiß.«
Er war ein logischer Geist, durch und durch, und zu jeder Situation legte er sich alle möglichen Vorgeschichten zurecht. Er wußte, daß etwas passiert war. Warum sollte ich sonst einen Nachtzug von Frankfurt nach Innsbruck nehmen? Und das ohne telefonische Vorankündigung. Merkwürdigerweise ist es mir nie schwergefallen, mit ihm über meine persönlichen Angelegenheiten zu sprechen. Er fragte mich auch diesmal nicht. Ich begann von mir aus zu erzählen. Ich erzählte den beiden von deiner Mutter, David, und daß wir ohne zu streiten auch nicht einen einzigen Tag zusammen verbringen konnten.
Carl sagte:»Geh zu ihr zurück!«
Ich frühstückte mit den beiden, danach legte ich mich für zwei Stunden hin.
Margarida weckte mich. Sie klopfte an die Tür, setzte sich auf die Bettkante, zerstrubbelte mein Haar.»Mein Kleiner«, sagte sie.
«Ich kenne mich bei ihm nicht aus«, sagte ich.»Ich hätte schwören können, er rät mir, die Sache zu beenden.«
«Er meint«, sagte sie,»du brauchst eine Frau. Du wirst immer eine Frau brauchen, meint er. Du bist nicht der Typ, der allein leben will, weil du nämlich nicht allein leben kannst. Wenn du nicht zu ihr zurückkehrst, wirst du früher oder später eine andere Frau kennenlernen und wirst denken, diesmal wird es besser, aber es wird nicht besser werden. Und beim drittenmal wird es auch nicht besser werden. Es wird so lange nicht besser werden, bis du merkst, daß Streiten eine mögliche Form des Zusammenlebens ist, die mit den Worten ›besser‹ oder ›schlechter‹ nicht charakterisiert werden kann. Also erspare dir die Umwege und die Irrwege. Das meint er.«
Читать дальше