«Was für eine Arbeit denn?«fragte ich.
«Ich werde putzen«, trumpfte sie auf.
Sie stand vor mir, den Rücken gekrümmt, Kaffeeduft aus ihrem Mund, um den schönen Kopf ein Seidentuch mit heiteren indianischen Motiven in Purpur, Grün und Orange. Wenn einer dich größer vor dir erstehen läßt, als du bist, wird eine Verminderung daraus, sobald du es durchschaust. Alles sah sie größer als das Leben, sogar dessen Verkleinerung, und darum meinte sie, ich mißachte mein Talent sogar noch mehr, als sie es ohnehin vermutet hatte, und das trieb sie zu Maßlosigkeiten, an die sie selbst nicht mehr glaubte, die sie aber mit einer Absicht einsetzte: Ich weiß ja, daß er mir nicht glaubt; immer meint er, von allem, was ich sage, zwanzig Prozent abziehen zu müssen; wenn ich also zwanzig Prozent drauflege, landen wir ungefähr bei der Wahrheit. Ich aber zog weitere zwanzig Prozent ab, und sie legte noch einmal dazu, was nur bewirkte, daß ich weiter von mir subtrahierte. Und so steigerten wir uns hinauf und hinunter. Ich sagte:»Du kannst ja gar nicht putzen!«
5
Sie wollte nicht, daß ich mit ihr in ihre Wohnung in der Bockenheimer Landstraße komme. Der Grund war die Germanistin, mit der sie zusammenwohnte. Dagmar wollte nicht, daß ich diese Frau kennenlernte. Aber schließlich lernte ich sie doch kennen. Eine rundliche Schwäbin mit einem Kleinmädchengesicht, Pausbacken, steile, gewölbte Stirn, verwöhnter Schmollmund; schwer zu schätzen, wie alt, dreiundzwanzig oder dreiunddreißig; auf dem Näschen eine John-Lennon-Brille, die sie aber nicht wie Janis Joplin aussehen ließ, sondern wie ein fleißiges Kind (eine» Petze«, die sie ja auch war); ungeschminkt, ungepflegt; trug einen Rock und einen Pullover, beide im Karstadt-Wühlkisten-Stil, orange und grünlich; ihre Frisur war auf eine alberne Art bieder und wohl mit der gleichen Absicht geschnitten wie die Kleidung ausgewählt. Dagmar stellte uns einander vor. Die Germanistin saß mitten in ihrem Zimmer im Schneidersitz, als bete sie oder spiele Monopoly. Sie wandte ihren Kopf und schaute mir in die Augen, und ihr Blick sagte: Dich kenne ich, du bist Scheiße. Ihr Zimmer war leer, bis auf ein schmales Bett, einen Resopalküchentisch vom Trödler, einen Stuhl und einen Koffer. Keine Vorhänge, keine Bücher. An der Wand hing ein Poster, das einen lachenden Chinesen mit einer Schirmmütze zeigte, der ein gemustertes Tuch über der Schulter hängen hatte und einen Stab — oder war es eine Flöte? — in einer Hand hielt.
«Wer ist das?«fragte ich.
«Das ist der Bruder Nummer eins«, sagte sie.
«Wie viele Brüder hast du denn?«fragte ich. Dagmar warf mir einen flehenden Blick zu und gab mir Zeichen aufzuhören.
Die Germanistin sagte:»Laß ihn doch, Vorländer!«Sie sprach Dagmar nur mit dem Familiennamen an.»Wenn einer etwas wissen will, ist das gut und nicht schlecht. Sein Name ist Saloth Sar, aber die Freunde der Völker nennen ihn Pol Pot.«
Ich sagte:»Fühlt er sich nicht einsam, so allein an deiner Wand? Willst du nicht ein paar Spielkameraden für ihn dazuhängen?«
«Was meinst du damit?«fragte sie, ihre Stimme war ohne jede Modulation.
«Rechts Adolf Hitler, links Heinrich Himmler.«
«Gib mir deinen Namen, ich will ihn mir aufschreiben.«
«Damit ihr mich nach der Revolution finden könnt?«
«Ja«, sagte sie.
«Lukasser«, sagte ich.»Sebastian Lukasser, Lukasser mit k und Doppel-s, Danneckerstraße 11, 6950 Frankfurt am Main, Westdeutschland.«
Sie hat sich das tatsächlich notiert.
Dagmar stand daneben, biß sich auf ihre Unterlippe und sah verzagt aus; als wäre sie zehn Jahre alt und die Germanistin und ich wären ihre Mama und ihr Papa, und wir hätten gerade beschlossen, uns scheiden zu lassen.
Als wir allein waren, sagte sie:»Du hättest dir wenigstens ihre Argumente anhören sollen!«
«Was für Argumente denn?«
«Glaubst du, daß du alles weißt? Daß es nichts gibt, was du lernen könntest?«
«Was sie zu sagen hat, weiß ich. Ideologie in simplen Hauptsätzen. Vorgetragen im Rhythmus eines Pilotierhammers. Danke.«
«Mein Gott, bin ich froh, daß ich mit einem Typen zusammen bin, der genau weiß, worauf es ankommt!«
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so wenig gegen die Ungerechtigkeit in der Welt tat; aber mehr noch fürchtete sie sich vor den Gerechten. Sie erzählte mir, wie sie an diese lupen- und seelenreine schwäbische Tschekistin geraten war. Vor einem knappen Jahr hatte sie ein Zimmer gesucht und jeden gefragt, den sie traf, so auch die Germanistin, die in der Mensa hinter dem KBW-Bücherstand saß. Sie hatte ein Zimmer. Ihr Freund sei gerade ausgezogen, sie habe sich von ihm getrennt. Dagmar fand Politik interessant. Jeder fand Politik interessant. Die Germanistin verfügte über ein großes Wissen, ohne Zweifel, und sie bezog klare Standpunkte. Jeden Abend legte sie ihr Statistiken und Graphiken vor, die in Kuchen- und Säulenform eindrucksvoll bewiesen, daß die Ungerechtigkeit in der Welt schreiend und die Revolution unausweichlich waren. Dafür sein oder dagegen sein, dazwischen gäbe es nichts. Dagmar abonnierte die Kommunistische Volkszeitung , abgekürzt KVZ. Sie besorgte sich im KBW-Buchladen Polibula, ausgeschrieben Politischer Buchladen, die Bände 23, 24 und 25 der Marx-Engels-Werke, abgekürzt MEW, und meldete sich bei einem Kapital-Arbeitskreis für Sympathisanten in der Alten Backstube in der Dominikanerstraße an. Sie spendete: für die Miete der Schulungsräume, für die Genossen der Zimbabwe African National Union Patriotic Front, für die seit einem Jahr streikenden Arbeiter der Eisenerzgruben im nördlichen Minnesota, für die Forschung an schnell wachsenden Eiweißprodukten auf den drei Musterhöfen des KBW in Baden-Württemberg, Nordhessen und im Innenhof eines Bürgerhauses im Frankfurter Westend, für das Demokratische Kampuchea in seiner Gesamtheit und für die Anschaffung einer Linotype-Lichtsatzmaschine für ein regionales Druckzentrum des KBW in Bayern. Die Germanistin arbeitete ein Persönlichkeitsprofil aus, demzufolge lagen Dagmars Stärken nicht im Theoretischen, sondern im Praktischen. Als intellektueller Sprößling des parasitären Kleinbürgertums (Dagmars Vater war Notar, ihre Mutter hatte Medizin studiert, den Arztberuf aber wegen Familie nie ausgeübt) sei es ohnehin gut und nicht schlecht, eine Zeit Dienst an der Basis zu tun; das hieß, Dagmar solle für einen Monat oder mehr in einer Papierwalzerei in Eschersheim als Putzfrau arbeiten. Diesmal sagte Dagmar, nein, das wolle sie nicht und zwar unter gar keinen Umständen. Warum nicht, habe die Germanistin gefragt. Einfach weil ich nicht will, habe Dagmar geantwortet. Aus Fäulnis also, habe die Germanistin konstatiert. Es heiße Faulheit, habe sie Dagmar korrigiert. Und die Germanistin habe gesagt:»Nein, es heißt Fäulnis.«
Seither hatte Dagmar Angst vor der Germanistin.»Sie weiß alles über mich, und nun hat sie auch deinen Namen aufgeschrieben, weil du sie unnötigerweise so blödsinnig provoziert hast!«
«Ich bring ihr auch noch die Adresse von meiner Mutter«, sagte ich fröhlich,»dort habe ich nämlich immer noch ein Zimmer, oben im ersten Stock, Ende der Treppe, links.«
«Nein, tu das nicht«, flehte Dagmar.»Die bringen dich um.«
«Ja«, sagte ich,»aber doch erst nach der Revolution.«
«Vielleicht tun sie es schon vorher. «Sie suchte unter ihren Büchern und Manuskripten — inzwischen hatte sie einen Großteil ihrer Sachen aus ihrer Wohnung in meine gebracht — und zog ein hart zusammengefaltetes Exemplar der Kommunistischen Volkszeitung heraus.»Hör zu! Hör dir an, was sie schreiben! An diesem Artikel hat sie mitgearbeitet: ›Entweder Cohn-Bendit wird von der Arbeiterklasse eine nützliche Arbeit zugewiesen bekommen, etwa in einer Fischmehlfabrik in Cuxhaven, oder er wird während der Revolution durch die Massen an den nächsten Baum befördert.‹ Die tun das! Du hast keine Ahnung von denen! Sogar Cohn-Bendit fürchtet sich vor denen! Glaub mir!«
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