Frederik Braak schrieb die Bänder ab und schickte einen Durchschlag an Kuni Herzog, damit sie das Interview autorisiere. Kuni Herzog rief bei Carl an — ich kann mich sehr gut daran erinnern, ich war seit einer Woche in Innsbruck und kam gerade aus meiner neuen Schule in mein neues Zuhause in die Anichstraße, wo wegen des Telefonats höchste Aufregung herrschte —, und Carl fuhr noch am gleichen Tag nach Göttingen. Er ließ die hundertfünfzig Seiten in einem Schreibbüro abtippen und bat seine Tante, von der Kongregation Kopien der Bänder zu fordern, und setzte auch einen entsprechenden Brief an Pater Braak auf. Antwort kam nie. Die Bänder werden wohl in einem Archiv in Rom liegen. — Eine Fotokopie der Abschrift des Interviews ist in meinem Besitz, Carl hat sie mir gegeben, verschiedene Stellen hatte er mit Rotstift unterstrichen. Wenn ich im folgenden Kuni Herzog erzählen lasse, gebe ich den Wortlaut des Interviews wieder.
Frederik Braak:»Wie hat Edith Stein reagiert, als sie vom Ausbruch des Krieges erfuhr?«
Kuni Herzog:»Sie hat sich darüber gefreut. Hat sie mir erzählt. Sie sei an dem besagten ersten August mit einer Freundin am Feuerteich spazierengegangen. Es war ein Samstag — das Fräulein Stein behielt solche Kleinigkeiten, ich wußte mein Lebtag lang nicht, was für ein Tag ist. Was ist heute für ein Tag?«
«Dienstag.«
«Und anschließend seien sie durch die Stadt zur Jüdenstraße gegangen, weil sie sich bei dem Zeitungshäuschen dort die Mittagsausgabe der Berliner Zeitung besorgen wollten. Es habe aber bereits kein Exemplar mehr gegeben. Zufällig kam der Dr. Reinach mit Gattin des Weges, ebenjener Dr. Reinach, der uns beide später zusammenbrachte, und der hatte ein Exemplar der Berliner Zeitung , und nun konnte sie es lesen. Zur Feier des Tages habe sie sich eine Tüte Kirschen gekauft, und die hätten sie zu viert weggeputzt. Das Fräulein Stein fragte den Dr. Reinach, ob er nun auch in den Krieg ziehen müsse, und er habe geantwortet: Nicht müssen, dürfen. Nun hat Frau Reinach, ebenfalls zur Feier des Tages, ebenfalls eine Tüte Kirschen gekauft, und die hätten sie ebenfalls weggeputzt, und Professor Reinach habe gesagt, die Kirschen von Fräulein Stein hätten besser geschmeckt, obwohl er ja wußte, daß beide Tüten beim selben Obststand neben dem Zeitungshäuschen gekauft worden waren. Ich fragte Fräulein Stein, wie denn Frau Reinach darauf reagiert habe. Sie wußte gar nicht, was ich meinte. ›Der ist doch verliebt in Sie‹, sagte ich. Sie ist nicht einmal rot geworden. ›Meinen Sie?‹ hat sie gefragt. ›Hat Frau Reinach Sie zornig angesehen?‹ fragte ich. Sie überlegte. ›Kann sein‹, sagte sie, ›und was hätte das zu bedeuten?‹ ›Daß sie eifersüchtig ist‹, sagte ich. Und sie: ›Aber warum denn?‹ Sie spielte mir nichts vor. Fragte: ›Warum denn eifersüchtig?‹ ›Ja‹, sagte ich, ›schauen Sie doch einmal Ihre hübsche Larve in einem Spiegel an!‹ Sie dachte wieder eine Weile nach und sagte: ›Kann sein, kann aber auch nicht sein.‹
Als wir uns kennenlernten, war der Krieg bereits einen Monat alt, und so eine wie ich fragt: ›Wer geht denn gegen wen?‹ Sie lachte laut und lang, verschränkte die Arme vor ihrem Bauch und beugte sich vor, wie es Schulmädchen tun, und ich dachte: Was für ein fröhlicher Mensch! Sie wußte alles, bis in die Einzelheiten hinein, hat mir Schlachtpläne erläutert, militärische Rangordnungen erklärt und auch, warum Deutschland unbedingt Rußland den Krieg erklären, in Belgien einmarschieren und Frankreich angreifen muß, wenn der österreichische Thronfolger von einem Serben ermordet wird, und hat noch alles mögliche gefaselt von innerer Reinigung und vom Freiglühen eines unzerstörbaren Kerns. Ich fragte sie, ob sie glaube, daß es lange dauere, also ob es sich für mich rentiere, mich mit dem Krieg zu beschäftigen. Nicht daß ich mir all die Mühe auflade und die Zeitungen studiere und mir Meinungen einhole und so weiter, und wenn ich meinen ersten gescheiten Satz dazu sagen könnte, ist der Krieg fertig.«
Kuni Herzog war als junge Frau, wie sie sich vor Pater Braak selbst beschrieb, reich, launisch, egozentrisch, ignorant, arrogant und tyrannisch gewesen. Sie hatte seit ihrem Abitur alles mögliche angefangen und alles mögliche bis zu einem sinnlosen Ende durchgehalten. Ausgerechnet in dem Sommer, als der Krieg ausbrach, hatte sie beschlossen, mit dem Studium der Philosophie zu beginnen. Sie verband damit keinerlei Berufsabsichten, wollte lediglich, wie sie sich ausdrückte,»meinen Gram und meine Langeweile mit Nachdenken über Ideen vertreiben«. Sie war eine Frau, von der gesagt wurde, wie schön sie als Kind gewesen sei —»eine barmherzige, aber allzu durchsichtige Umschreibung für Häßlichkeit«. Alles an ihr schien zu groß — die Füße, die Arme zu lang, der Hals zu hoch und zu rot und wie aus dürren Strängen geflochten, und vor allem der Mund viel zu breit. Und einen schweren Gang hatte sie und an gar nichts eine Freude. Und zu gar nichts hatte sie Zutrauen.
«Es heißt, frühreife Kinder bringen später nichts zustande. Man sagte mir immer, ich hätte keinen Geschmack. Irgendwann habe ich mich entschlossen, nur noch schwarze Klamotten zu tragen. Schwarz paßt zu allem. Sogar zu mir.«
Sie lebte zusammen mit ihrer Mutter Franziska, verwitwete Herzog, geborene Alverdes — Carls Großtante» Franzi«. Ihr Vater hatte eine Textilfabrik hinterlassen. Während des Deutsch-Französischen Krieges war ihm mit Uniformschneiderei ein Vermögen zugewachsen. Nun wurde der Betrieb von Prokuristen umsichtig geführt. Mutter und Tochter hatten nichts zu tun, den lieben Tag über nichts zu tun. Erst hatten sie sich noch gestritten, und der Streit hatte ihr Leben, den Tag, die Stunde ein wenig zu gliedern vermocht; hatte ihre Zeit in böse Erinnerung und böse Erwartung unterteilt. Schließlich aber stritten sie nicht mehr. Und es wurde still. Sie sprachen kaum noch, gingen leiser als zuvor, huschten auf Strümpfen durch die Korridore, legten die Türen mit provokanter Behutsamkeit ins Schloß. Die Dienstboten kündigten, neue wurden eingestellt, die blieben nur kurze Zeit.
Eines Tages besprachen Mutter und Tochter in einer Offenheit, vor der ihnen mehr ekelte als vor allem anderen in der Welt, die Möglichkeit eines gemeinsamen Selbstmords. Jede sollte es in ihrem eigenen Zimmer tun. Damit keine der anderen dabei zuschauen müsse. Aber zeitgleich. Nur Ekel sei in diesem Gedanken gewesen, kein bißchen pathetische Würze. Letztere war erhofft worden. Daß wenigstens der Gedanke an den Tod einen Reizimpuls für das Leben lieferte. Sie schämten sich, als hätten sie einander bei einer abstoßenden Tätigkeit ertappt.
Frage von Pater Braak:»Erzählten Sie Edith Stein davon?«
«Nein. Kann sein, daß ich eine Andeutung fallenließ. Über den Selbstmord im allgemeinen — wenn man so einen Ausdruck gebrauchen darf —, darüber sprachen wir. Darüber hat damals jeder geredet, jeder, der etwas auf sich hielt.«
«Edith Stein auch?«
«Sicher.«
«Auch, daß sie selbst schon daran gedacht hatte?«
«Nein, das nicht. Nur allgemein. Ich auch nur allgemein. Über jenes peinigende Gespräch zwischen meiner Mutter und mir habe ich ihr natürlich nichts erzählt.«
Kuni Herzog zog von zu Hause aus, mietete sich eine elegante Wohnung in der Alleestraße beim Leinekanal, Flügeltüren, französische Fenster. Einmal in der Woche besuchte sie ihre Mutter für eine Stunde. So war die Abmachung. Ihr Waffenstillstandsabkommen. Kontrolle und Sorge zugleich.
«Ich war neugierig, ob meine Mutter inzwischen verrückt geworden war. Ja, tatsächlich. Und sie war neugierig, ob ich verrückt geworden war. Und immer ihre erste Frage: ›Was sagt man draußen über mich?‹ ›Nichts. Kein Mensch redet über uns.‹ ›Das glaube ich nicht.‹ Einmal bildete sie sich ein, immer noch viele liebe Freunde zu haben, dann wieder argwöhnte sie, eine Beute giftiger Zungen geworden zu sein. ›Wir beide, Mutter‹, versuchte ich, ihr die Lage zu erklären, ›wir beide sind ein Paar, von dem man sich tunlichst fernhält. Niemand interessiert sich für uns, weder im guten noch im schlechten.‹«
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