Die Niedergeschlagenheit nach meiner Rückkehr aus Innsbruck entwickelte sich zu einer bösen Depression. Die Vormittage waren schlimm. Ich meinte, der Naschmarkt mit seinen Farben, den Gerüchen und den Stimmen — es herrscht ja Einigkeit darüber, daß dies alles im Verbund für Lebensfreude steht — werde mich aus meiner Vergeblichkeit retten, die ich bis zur Mittagswende vor mir hertrug. Ich frühstückte in Bekir Ünals türkischem Café mit der Illy-Werbung auf dem Dach — Joghurt und Gurken, Fladenbrot und Milchkaffee. Bekir leistete mir Gesellschaft, ihm gehört auch das Teegeschäft gegenüber, wo seine Tochter bedient, eine großäugige, feiste, hübsche, junge Frau mit Kopftuch, die eine begabte Sazspielerin sei, wie ihr Vater erzählt. Wenn ich an ihrem Pavillon vorbeigehe, ruft sie mir zu, ob ich ein Glas Tee wolle; den Tee gib’s umsonst, ich nehme einen Sesamtaler dazu. Zu Bekirs Imperium gehören weiters ein Gemüseladen, ein Delikatessengeschäft und ein Kebab-Stand. Er hat mich vor ein paar Jahren einmal zu sich nach Hause eingeladen. Seine Frau war zusammen mit der Tochter nach Antalya zu ihren Eltern gefahren.
Mein Arzt, Dr. Strelka, der mich operiert hatte, sagte am Telefon, das sei eine ganz normale postoperative Depression; sie vergehe und werde abgelöst von einer postoperativen Euphorie, um die er mich beneide; alle seinen Patienten hätten ihm von dieser Phase vorgeschwärmt.»Beschäftigen Sie sich«, sagte er,»aber wenn möglich, mit etwas, was Ihnen nicht am Herzen liegt. Sonst kann es sein, daß Sie sich für lange Zeit jeden Gedanken daran verderben.«
Es gab eine Menge wichtiger Dinge zu erledigen, die mir alle nicht am Herzen lagen — Korrekturfahnen einer Sammlung von Erzählungen lesen (es waren Geschichten, die ich im Lauf von zwanzig Jahren in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen und im Rundfunk veröffentlicht hatte), die Einkommensteuererklärung mit meinem Steuerberater zusammenstellen, neue Termine mit dem Fliesenleger vereinbaren. So vergingen vier Wochen, und ich schrieb nicht eine Zeile; ich warf nicht einmal einen Blick in meine Notizhefte — C.J.C. 1 usw. bis C.J.C. 7. Daß ich Carl telefonisch nicht erreichte, daß ich gar nichts mehr von ihm hörte, tauchte die Erinnerung an meinen Besuch in ein bedrückend irreales Licht. Warum rief er nicht zurück? Oder ließ zurückrufen? Hatte ich ihn gekränkt? Hätte ich mehr Engagement zeigen sollen? Oder hatte er das Interesse an unserem Projekt verloren? Hatte inzwischen der Zweifel obsiegt, ob ich der richtige sei, sein Leben zu erzählen? Sah er in dieser Art der Lebensverlängerung über das Leben hinaus am Ende doch keine Genugtuung für das Unrecht, das ihm mit dem Tod angetan würde? — Alle meine Angelegenheiten erscheinen mir in einem unfertigen Zustand.
3
Und dann: Freitag nacht, Mitte April. Ich war gerade von einem Spaziergang durch die Innenstadt nach Hause gekommen. Es klingelte an meiner Wohnungstür. Ich hatte keinen Zweifel, daß es Evelyn war. Sie besaß einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Sie hatte ihn noch nie gebraucht, sie wollte ihn auch nicht gebrauchen, sie wollte ihn nur besitzen. Ich lugte durch den Spion und sah den Kopf eines jungen Mannes — schulterlanges lockiges Haar, Zigarette im Mundwinkel. Ich fragte, wer da sei, und eine kräftige Stimme antwortete:
«David. Dein Sohn.«
Er war ein hübscher Mann, dünn, der Hemdkragen zu weit, die Augen überrascht und überraschend groß. Soweit ich das alles im Halbdunkel beurteilen konnte. Er sah verwahrlost aus, verdreckt, müde wie unter Drogen. Trug einen lila eingefärbten Secondhand-Mantel über einem T-Shirt, hatte einen feldgrauen Rucksack an einer Schulter hängen. Ich streckte ihm die Rechte hin, hätte beinahe meinen Namen gesagt. Mit der Linken hielt ich die Tür fest, mein Arm war wie eine Schranke.
«Darf ich reinkommen?«fragte er.»Was soll ich mit der Kippe machen?«
«Tritt drauf«, sagte ich.
Er habe keine Erinnerung an mich, sagte er. Seine Unterlippe zitterte ein wenig, als hätte er sich zuviel zugetraut.
«Wie auch«, sagte ich. Dachte, daß er vielleicht einer ist, bei dem man leicht etwas falsch machen kann.
Er trat ein. Blickte sich nicht um. Er roch nach Zigarettenrauch und alter Wäsche. Den Rucksack legte er nicht ab. Als ich ihn zum letztenmal gesehen hatte, war er gerade ein Jahr alt geworden. Ich hatte die Wohnung verlassen, es war Abend gewesen, er lag bereits in seinem Bettchen und schlief. Er mochte es nicht, wenn man ihn zudeckte. Er lag auf der Seite, die Beinchen angewinkelt, als wäre er aus dem Sitzen gekippt. Natürlich hatte ich nicht geglaubt, daß so viel Zeit vergehen würde bis zum nächstenmal. Er wolle nur über Nacht bleiben, sagte er, er sei auf der Durchreise. Er habe sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen. Ich solle entschuldigen, wie er aussehe, normalerweise sehe er anders aus. Es gebe nichts zu erklären, aber morgen werde er mir alle Fragen beantworten, wenn ich das wünschte.
«Wahrscheinlich wünsche ich das«, sagte ich.
Er stand in der Bibliothek und starrte vor sich auf den Boden. Die Haare hingen ihm herab.
«Willst du nicht den Mantel ablegen?«fragte ich.
Er warf den Rucksack neben den Fauteuil.»Es wundert dich sicher, wie ich herausgekriegt habe, wo du wohnst.«
«Eigentlich nicht. Ich stehe im Telefonbuch.«
Er blickte mich überrascht an, und ich hatte zum erstenmal freie Sicht auf Augen, Nase, Mund und Wangen.»Das wußte ich nicht. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe gar nicht nachgeschaut.«
Es tat mir leid, daß ich ihm bei der Tür nur die Hand gegeben hatte. Jetzt wäre eine Umarmung etwas Mutwilliges gewesen.
«Alles morgen«, sagte ich.
«Das ist mir recht«, sagte er.
Ich richtete ihm ein Bett auf dem Sofa oben in meinem neuen Arbeitszimmer. Das Kopfkissen legte ich auf die Fußseite des Sofas. Damit ihn am Morgen die Sonne nicht blende. Als ich über die Stiege herunterkam, saß er in der Bibliothek im Fauteuil, hatte die Beine von sich gestreckt und schlief. Er trug keine Socken, die Füße steckten nackt in Turnschuhen. Ich legte ihm meine Hand an die Wange. Für den Augenblick des Erwachens war er ein Kind. Er sei zu erschöpft, um sich zu waschen, sagte er, ob er so schmutzig ins Bett gehen dürfe.
«Aber sicher«, sagte ich.
Ich rief die Auslandsauskunft an. Eine Dagmar Vorländer gab es in Frankfurt am Main nicht. Warum auch sollte sie noch in Frankfurt leben? Vielleicht hatte sie ja ein zweites Mal geheiratet oder ein drittes Mal oder ein viertes Mal. Ich wußte gar nichts. Ich rief noch einmal bei der Auskunft an, fragte nach einer Dagmar Lukasser, und die gab es in Frankfurt. Ich wählte die Nummer. Nach dem ersten Klingelton war sie am Apparat. Ein schrilles, waches» Ja?«. Zum erstenmal seit neunzehn Jahren hörte ich ihre Stimme. Ich sagte meinen Namen, und sie weinte.
«Er ist bei mir«, beruhigte ich sie.»Soeben angekommen, liegt im Bett und schläft. Und ist gesund. Er kann uns nicht hören.«
Sie weinte und sagte liebe Worte zu mir. Und erzählte — hastig, so als habe sie das alles schon oft erzählt: David hat einen Selbstmordversuch hinter sich; er war in der Klinik gewesen; war herausgekommen und verschwunden; seit sieben Tagen ist er abgängig; sie hatte die Polizei einschalten wollen, aber die Beamten erklärten sich als nicht zuständig, David ist volljährig und nicht entmündigt. Was der Grund sei, fragte ich. Der Anlaß, betonte sie, der Anlaß sei, daß ihn seine Freundin verlassen habe, mit einem anderen oder ohne einen anderen, das wisse sie nicht, er rede ja nicht darüber, jedenfalls mit ihr rede er nicht darüber, früher habe er alles mit ihr besprochen, seit kurzem nichts mehr, sie wisse nicht, was ihn verändert habe. Ob ich ihn wecken solle, fragte ich. Das wollte sie nicht.
«Sprechen wir morgen«, sagte sie.
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