Und ich, dachte ich, ich würde ein zweites Mal nicht geboren. Ich demütigte den alten Mann, indem ich eine Handvoll Bilder vom Auge Gottes vor ihn auf den Tisch legte. Er beugte sich wie im Reflex vor und deckte mit seinem Bart die Dollars ab, damit sie niemand sehe. Ich verließ das Café Mozart, das ehedem einer unserer besten Kunden gewesen war, und ich war glücklich, wie ein Mann, der aus dem Gefängnis entlassen wurde. Und ich ließ meiner Einbildungskraft freien Lauf. Phantasierte aus meinem Vater einen Bel Ami, einen Dorian Gray, einen Chlestakow, einen Freibeuter, einen Briganten, einen Don Juan womöglich oder einen Münchhausen. Und immer: einen liebenden Ehemann, einen, der würdig war, von meiner Mutter geliebt zu werden. Nur eines spielte ich mir nicht vor: einen Opportunisten, der, noch ehe der Hahn dreimal kräht, alles verrät … — Dieses Phantasieren trug mich über zwei Tage hinweg; schließlich verwahrte ich den Brief in meiner Dokumentenmappe, und dort blieb er, bis ich eines Tages auf die Idee kam, ihn Margarida zu zeigen.«
7
Drei Stunden lang hat Carl erzählt, und er ist dabei nicht müde geworden. Ich wußte noch nicht, daß er Schmerzmittel in hohen Dosen bekam, und ich wußte natürlich auch nicht, daß er sich am Vortag mit Frau Mungenast und seinem Arzt beraten hatte, wie man ihn wenigstens für den ersten Abend fit halten könnte.
Nun war er am Ende des Bogens angelangt, die Erleichterung ist seiner Stimme anzuhören. Ich könne das Gerät abschalten, sagt er. Aber ich ließ es weiterlaufen. Solange er so gut beieinander ist, dachte ich, soll alles draufkommen, was er von sich gibt. Es folgt ein Frage-Antwort-Spiel, das meiner Stimme bald auf die Nerven zu gehen scheint, das Carls Stimme jedoch hörbares Vergnügen bereitet; und nachdem der ganze Abend, wahrscheinlich wegen des Aufnahmegeräts, die Form eines Star-Interviews gehabt hatte — zwei Prozent Frage, achtundneunzig Prozent Antwort —, waren diese letzten Fragen eher im Stil eines Gesellschaftsjournalisten als des künftigen Biographen gehalten.
Ich:»Wieviel Prozente gibst du den Genen?«
Er:»Die Gene dienen der Beschwichtigung derer, die gern davon reden.«
«Du meinst, die Gene sind da, um etwas zu entschuldigen?«
«Nein, dazu sind sie gewiß nicht da. Aber sie werden dazu verwendet.«
«Was man ist, hat man selber aus sich gemacht?«
«Gilt für 99,999 Prozent.«
«Und die 0,001 Prozent?«
«Sind auserwählt. «Er lacht.»Zum Guten auserwählt oder zum Bösen auserwählt. «Er lacht.
Meine Stimme:»Die Auserwählten bekommen es, die anderen müssen es selber machen?«
Seine Stimme:»So ist es.«
«Was tut dir leid, nicht erlernt zu haben?«
«Kontrabaß. Der hätte gut zu mir gepaßt. Es gibt ein Foto von mir, da halte ich den Baß von Walter Page, und der war immerhin das Rückgrat von Count Basie.«
«Wenn du dich als Achtjähriger, als Dreizehnjähriger, als Sechzehnjähriger denkst, erkennst du dich in ihnen wieder?«
«Ja. Und sehr gerne dazu.«
«Gibt es einen Lebensabschnitt, in dem du dir fremd vorkommst?«
«Zwischen fünfundzwanzig und dreißig ein bißchen fremd. Gestern und vorgestern sehr fremd.«
«Glaube, Liebe, Hoffnung. Welche Reihenfolge?«
«Liebe, Hoffnung, Glaube. Wenn ich den anderen dabei zusehe.«
«Bei dir selber?«
«Keine Ahnung. Ich denke, das gilt nur bis sechzig oder siebzig. Bei den Auserwählten vielleicht etwas länger. «Er lacht.
«Was ist das Größte, das du in deinem Leben vollbracht hast?«
Keine Antwort darauf.
8
Unbedingt notwendig ist es, diesem Kapitel eine Anmerkung anzufügen; sie betrifft das Fräulein Stein, dem Carl als Achtjähriger in Göttingen bei seinen Tanten begegnet war.
Ich wußte natürlich, daß Carl Edith Stein gekannt hatte. Er hat ja oft von ihr erzählt; und ich kann bei Gott nicht behaupten, daß diese Erzählungen in unserer Familie keine Spuren hinterlassen hätten. Ich kenne sonst niemanden, der einer Heiligen begegnet ist.
Carl war alles andere als religiös, und ich schätze, er hat bei unserem letzten Spaziergang unten beim Lansersee zum ersten- und zum letztenmal in seinem Leben den lieben Gott angerufen. Er zitierte gern den österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, der einmal gesagt hat, er sei Agnostiker und als solcher noch weniger als ein Atheist. Das gleiche könne er, Carl, von sich behaupten; und zitierte weiter den englischen Philosophen Francis Bacon, nämlich, daß wenig Philosophie jemanden zum Atheisten werden lasse, viel Philosophie ihn jedoch zur Religion zurückbringe; weswegen es — Carls Kommentar — am gescheitesten sei, die Finger von der Philosophie zu lassen —»um die edle Pflanze des Skeptizismus vor diesem Gift zu schützen«. Mit tadelloser Geschliffenheit übte er sich in der Rolle des Verwalters seiner eigenen Vergangenheit, feilte an einer Dramaturgie seines Lebens, einer Existenz ohne jedes Dogma; diese Frau jedoch zerriß die Ordnung, zu der er sein Leben rückblickend zusammenfügen wollte; als wären Begriffe wie Glück, Zufriedenheit, Sinn, Freude, Heil, Weisheit, Wonne bloß Teile einer modularen Arithmetik, die keinen Lebenswind verträgt. Sie, die Philosophin, die Phänomenologin, hatte, wie er sich ausdrückte,»den Retourweg der Aufklärung «beschritten; sie hatte den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen vor sich gesehen und hatte umgedreht; hatte sich freiwillig in Fron begeben; war einem Orden beigetreten, in dem um Erlaubnis angesucht werden muß, wenn man den Mund aufmachen will. Und es ist Carl nicht eingefallen, auch nur einmal über sie zu spotten! Ihr Vorbild hat ihn in seiner alles durchwaltenden ironischen Konduite wanken lassen. Mit einer Hingabe, die er als die Frömmigkeit eines Atheisten bezeichnete, nahm er Anteil an ihrem Leben und ihrem Sterben. Im Herbst 1945 fuhr er nach Nürnberg, weil er ihrem Mörder Seyß-Inquart in die Augen sehen wollte, und als sie von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen wurde, sei er, sagte er, sehr verwirrt gewesen. Wörtlich sagte er:»Ich glaubte, ich müsse mich übergeben. «Edith Stein, die sich seit ihrem Eintritt in den Karmeliterorden Teresia Benedicte a Cruce nannte, wurde als» katholische Märtyrerin «heiliggesprochen.»Pius XII. hat nichts unternommen, um ihr Leben zu retten«, sagte Carl,»und nun spricht sie einer seiner Nachfolger heilig. Sie ist ja nicht wegen ihres katholischen Glaubens in Auschwitz ermordet worden, sondern weil sie Jüdin war. «Meine Mutter, die ich bei Carls Beerdigung traf, erzählte mir, er habe sie angerufen, als in den Zeitungen von der Heiligsprechung berichtet wurde. Er habe am Telefon geweint, sagte sie. Ich sagte:»Das glaube ich dir nicht. «Sie sagte:»Weil du gar nichts glaubst. «Ich sagte:»Jetzt machst du ihn besser, als er war, früher hast du ihn schlechter gemacht. «Sie sagte:»Er hat dir viel beigebracht, mehr, als mir lieb gewesen war, aber das Wesentliche hast du nicht begriffen. «Ich sagte:»Warum können wir beide nicht miteinander reden?«Sie sagte:» Ich kann mit dir reden.«— Aber das ist eine andere Geschichte.
Carl begegnete Edith Stein noch ein zweites Mal, das muß Ende der dreißiger Jahre gewesen sein. Er hatte geschäftlich in Holland zu tun, als er erfuhr, daß sie in Aachen einen Vortrag hielt. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt, vor achthundert Zuhörern sprach sie über Thomas von Aquin. Da trug sie bereits das Ordenskleid. Nach dem Vortrag drängte er sich hinter die Bühne. Zwei Priester stellten sich ihm in den Weg. Er sagte, er wollte mit Frau Dr. Stein sprechen. Das sei nicht möglich, sagten sie. Er sei doch mit ihr bekannt, bat er, er wolle sie nur begrüßen. Das sei nicht möglich, wiederholten die beiden. In diesem Augenblick trat sie aus einer der Türen in den Gang, sah Carl an und wies ihn ohne ein Wort in ihre Garderobe. Die Tür ließ sie offen. Ein Klavier stand in dem Raum und ein Sofa aus purpurnem Samt. Auf einem Tischchen lag das Manuskript ihrer Rede. Sie drehte die Blätter um und schrieb auf die Rückseite:»Du bist Carl. «Er sei so befangen gewesen, daß er ihr den Bleistift aus der Hand nehmen wollte. Sie schrieb:»Du darfst sprechen. «Aber er wollte nicht sprechen. Sie lächelte und gab ihm den Bleistift.»Ich habe Sie nicht vergessen«, schrieb er. Sie schrieb:»Ich habe Dich auch nicht vergessen, Carl. Wie geht es Deinen Tanten?«Er schrieb:»Ich habe lange nichts von ihnen gehört. «Sie schrieb:»Besuch sie! Sag ihnen Grüße von mir! Sag ihnen, ich habe sie nicht vergessen.«»Ihr Vortrag hat mich sehr bewegt«, schrieb er.»Danke!«schrieb sie. Er schrieb:»Ist es denn gar nicht möglich, daß wir miteinander sprechen können?«Sie zeichnete ihm mit ihrem Daumen ein Kreuz auf die Stirn und sagte leise:»Gott schütze dich!«Und führte ihn zur Tür.
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