Wenige Tage, bevor ich nach Innsbruck fuhr, war Evelyn von Schwechat abgeflogen, um gemeinsam mit ihren russischen Kollegen die Ausstellung im Moscow House of Photography aufzubauen. Nach meiner Operation rief sie mich am Handy an. Sie war aufgekratzt von dem» sagenhaften Erfolg «der Ausstellung, immer wieder, mitten im Wort, mußte sie Luft holen.
«Eine fünfzig Meter lange Schlange vor der Eingangskasse! Sechs Zeitungen haben mit Bild berichtet!«
Die Verbindung war schlecht, und mir ging es schlecht.»Wir passen nicht zueinander«, sagte ich.
«Warum nicht«, fragte sie.
«Zum Beispiel, weil du zweiunddreißig bist und ich fünfzig«, sagte ich.
Sie platzte heraus vor Lachen.»Nach zweieinhalb Jahren kommst du darauf?«
So sicher war sie sich, daß meine immer wieder vorgebrachten Einwände gegen unsere Paarschaft für sie nichts weiter als ein Spleen waren; so sicher, daß wir beide zusammenbleiben würden, weil wir zusammengehörten. Diese Zweifellosigkeit wäre mir erträglicher gewesen, wenn sie sich mit ein wenig Pathos zu einem Klischee verbunden hätte; aber für Evelyn war die Liebe ein rein irdisches Ding, das für sich schön genug war und keinen Sanctus aus welcher Himmelsrichtung auch immer benötigte.
Sie sagte:»Die Black Muslims raten: Halbiere das Alter des Mannes, zähl sieben dazu, so alt soll die Frau sein. Rechne nach, was bei uns herauskommt!«
Ich sagte:»Woher weißt du das?«
Sie:»Aus einem Film über Malcolm X.«
Sie wäre gern mit mir zusammengezogen; hatte mir das schon nach den ersten drei Wochen unserer Beziehung dargelegt und wiederholte es nach jedem Frühstück.»Ich verdiene nicht schlecht, und du verdienst auch nicht schlecht, wir könnten uns etwas wirklich Großes leisten, vielleicht sogar ein Haus etwas außerhalb. «Ich arbeitete gern mit ihr zusammen, ich hörte ihr gern zu, und ich mochte es, wenn sie mir zuhörte. Wir hatten es gut im Bett. Aber nichts, was wir zusammen taten, wies über sich hinaus. Weder wenn wir zusammen arbeiteten noch miteinander schliefen, langweilten wir uns.
Seit zwölf Jahren wohne ich in der Heumühlgasse, erst als Mieter, inzwischen als Eigentümer. Ich habe viel Geld und viel Gewohnheit in mein Zuhause gesteckt. Ich hatte erst vor einem Jahr einen Teil des Dachbodens dazugekauft und zu einem Arbeitszimmer ausgebaut. Wenn ich jetzt an meinem Schreibtisch sitze (den ich mir von einem befreundeten Architekten bis ins kleinste nach meinen Wünschen habe anfertigen lassen, mehr ein Cockpit als ein Schreibtisch ist daraus geworden), schaue ich auf einen Teil des flachen Blechdaches, wo ich im Sommer Tisch, Sessel, Liege und Sonnenschirm aufbauen darf und vor allem: zu dem ich allein Zutritt habe; und ich schaue weiter über die Dächer der Wienzeile — ein Stück Stadtprofil, das ich jederzeit frei aus dem Gedächtnis nachzeichnen könnte; strecke ich mich ein wenig, kann ich den Turm der Stephanskirche sehen; an den Abenden fliegen die Krähen und Raben durch den Himmel vor meinem Fenster, hinaus nach Westen, nach Hütteldorf, wo sie im Park um das Irrenhaus Steinhof ihre Schlafplätze haben. Einen fausthohen Stapel mit Skizzen hatte ich angefertigt und meinem Freund vorgelegt, der sie umgezeichnet und verbessert hat, bis am Ende ein ideales Arbeitszimmer auf dem Papier aufgerissen war, das nicht größer als nötig sein würde, eingerichtet mit drei miteinander verbundenen Tischen von verschiedener Höhe, mehreren raffiniert verteilten Regalen, einem bequemen Sofa, zwei hohen, durch Knopfdruck beschattbaren Fenstern und einer schmalen Tür hinaus aufs Dach. Ich öffne die Tür, die Luft des frühen Frühlings läßt mich glücklich sein, und daß ich allein hier lebe, empfinde ich als eine Gnade. Ich höre die Chinesen, die den Laden im Erdgeschoß besitzen; sie hocken im Innenhof, putzen ihren Kohl, reden und lachen miteinander, manchmal rufe ich ihnen zu, und sie antworten mir; an heißen Tagen fault der Abfall in der Mülltonne und stinkt bis zu mir herauf. Unten in meinem ehemaligen Arbeitszimmer ließ ich eine Wand einziehen, eine Hälfte sollte ein neues Badezimmer werden, die andere ein neues Schlafzimmer. Die Arbeiten am Badezimmer waren gerade im Gange, als ich meine Diagnose erhielt. Ich habe den Fliesenleger angerufen und den Auftrag auf unbestimmte Zeit verschoben. Aus meinem bisherigen Schlafzimmer wurde ein zweiter Bibliotheksraum, von dem aus eine Wendeltreppe hinauf in mein neues Arbeitszimmer führte; aus der fensterlosen Dusche sollte ein kleines Archiv für Zeitungen, Zeitschriften, Fotokopien und die Belegexemplare meiner Bücher werden. — »Als ich in diese Wohnung eingezogen bin«, sagte ich zu Evelyn,»warst du einen Kopf kleiner als ich. Sogar in den Gestank von faulendem chinesischem Gemüse bin ich verliebt.«»Ich habe schon verstanden«, sagte sie, und es klang nicht bitter.
Am Anfang hatten wir im Ton zwar freundliche, aber doch enervierende Debatten geführt, weil ich partout nicht erklären konnte, warum ich nicht bei ihr über Nacht bleiben wollte, und auch nicht wollte, daß sie bei mir über Nacht blieb. Wir saßen auf ihrem Bett oder in ihrer Küche, die Tigerkatze Pnini hockte daneben und wandte ihren Kopf von ihr zu mir und wieder zurück, als sähe sie einem Match zu. Evelyn ist nicht nur eine optimistische, sie ist vor allem eine pragmatische Frau. Sie schlug vor:»Gib uns zwei Nächte, das ist ein fairer Kompromiß. «Einmal in der Woche schlief ich bei ihr, zweimal sie bei mir.»Man muß nicht zusammenwohnen, wenn man zusammen lebt«, sagte sie. Und dann hörte ich, wie sie am Telefon zu jemandem sagte:»Heute geht’s nicht, vielleicht morgen, heute ist mein Geliebter bei mir. «Ich geriet in Panik. Weil sie von mir als ihrem Geliebten gesprochen hatte. Einen Atemzug später bereits dachte ich, ich muß dringend einen Psychiater aufsuchen. Wie sollte sie mich denn sonst nennen? Ihren Lebensabschnittspartner? Ihren Mann? Ich sprach mit Robert Lenobel darüber, er ist Psychoanalytiker und der einzige Freund, der mir in Wien geblieben ist, zwei-, dreimal in der Woche treffen wir uns zum Frühstück im Café Sperl. Er sagte:»Begib dich in eine Analyse! Fünfzig ist genau das richtige Alter dafür. Es kostet nicht mehr allzuviel, und man ist alt genug, um sich nicht mehr zu wundern, wenn nichts dabei herausschaut.«
Evelyn wünschte sich ein Kind. Ich gebe zu, das rührte mich, und das sagte ich ihr auch.
«Du hast von dir ein Bild des Künstlers als Schurken«, bemerkte sie dazu, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und sagte ohne jeden Unterton von Ironie:»Aber du bist kein Schurke.«
Und das rührte mich noch mehr. Wahrscheinlich bin ich kein Schurke, aber ein unkontrolliert eitler Narr bin ich auch nicht; und daß es verantwortungslos, hoffärtig und dumm in einem ist, einen Menschen in die Welt zu setzen, nur weil man von sich selbst gerührt ist, das mußte ich nicht beweisen, indem ich es tat.
«Was denkst du, warum die meisten Menschen auf der Welt sind?«führte sie ihre sanfte Argumentation weiter.»Jetzt einmal nur die gerechnet, die mit Absicht gezeugt worden sind und nicht aus Versehen. Meine Mutter ist als Zwanzigjährige in der Camargue am Strand gelegen und hat sich ausgemalt, wie schön es doch wäre, wenn neben ihr ein Kind durch den Sand kriecht. Daraufhin hat sie die Pille abgesetzt und sich einen Algerier aufgerissen. Und jetzt bin ich auf der Welt.«
Nachdem der Krebs zweifelsfrei festgestellt worden war und der Arzt mir die Therapie erklärt hatte, sagte ich zu Evelyn — wobei ich mich bemühte, meine Erleichterung zu verbergen:»Sie schneiden nicht nur die Prostata heraus, sondern auch die Samenbläschen. Das müssen sie tun, denn in der Prostata wird die Flüssigkeit produziert, die den Samen verdünnt, damit er die Samenleiter nicht verklebt. Ich werde keine Kinder mehr zeugen können.«
«Aber jetzt kannst du es doch noch«, konterte sie völlig korrekt.
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