Ich hauste oben unter dem Dach in einem gemütlichen Verschlag, den ich mir zurechtgezimmert hatte, Platz für ein Feldbett, meine beiden Koffer, einen Tisch, einen Sessel. Da saß ich und studierte nach dem zweiten Krieg einen Brief, den mein Vater vor dem ersten geschrieben hatte. Valerie hatte ebenfalls ein eigenes Zimmerchen im Dachboden. Bei geschlossenen Türen konnten wir uns unterhalten, nämlich durch die Ritzen in der Wand — wie Pyramus und Thisbe. Unsere Familie war privilegiert. Valerie wußte das. Für den Notfall hatte ich gute Beziehungen zu den Amerikanern. Schließlich war ich immer noch selbst einer. Hätte ich darauf gepocht, ich wäre sogar bis zu General Clark vorgelassen worden. Außerdem, was weder die beiden Alten noch Valerie wußten, besaß ich eine Zigarrenkiste voll Dollars. Die steckte sicher verwahrt unter einem Bodenbrett.
Irgendwann in der Nacht erzählte mir Valerie von den Ausschreitungen im November 1938. Sie war damals vierzehn gewesen. In Paris hatte ein junger staatenloser Jude in der deutschen Gesandtschaft einen Legationsrat erschossen. Daraus baute sich das Böse eine gute Gelegenheit. Man nannte es Vergeltung. Überall im Reich wurde auf die Juden eingeschlagen, wurden die Synagogen angezündet, die Geschäfte geplündert. Wie man weiß, auch in Wien. Und mein Großvater, der sich erstens nicht zum mosaischen Glauben bekannte, der sich zu gar keinem Glauben bekannte, weil er nämlich Atheist war, und der zweitens nach den Nürnberger Gesetzen nicht hätte behelligt werden dürfen — was ein Widerspruch in sich ist, wie sollte sich jemand unter den Schutz so eines Gesetzes stellen wollen, das nur zu dem Zweck erlassen wurde, einem Teil der Bevölkerung jeden Schutz zu nehmen — wie auch immer: Er war in der Wollzeile vor sein Geschäft getreten, um zu sehen, was da für ein Lärm war, da kommt ein Bekannter gelaufen, der ruft schon von weitem: ›Herr Bárány, Herr Bárány, sie haben den Tempel in der Dollingergasse niedergerissen!‹ Und mein Großvater, wie es seine Art ist, sagt laut und deutlich, als verkünde er in seinem Geschäft, daß gerade eine neue Lieferung mit Südfrüchten eingetroffen sei: ›Das ist ein Unrecht!‹ Und er wiederholt es, als der Bekannte schon längst weitergelaufen ist. Er steht vor seinem Geschäft, die Fäuste an seine Hinterbacken gepreßt, und sagt immer wieder: ›Das ist ein Unrecht!‹ Und jetzt stell dir vor, das sagt an so einem Tag einer, der aussieht wie die Judenkarikaturen in den Stürmer -Schaukästen, die an jeder Ecke hingen und über denen als Motto stand: ›Die Juden sind unser Unglück.‹ Mein Großvater geht in Richtung Innenstadt und sagt weiter seinen Spruch vor sich hin. Da halten ihn zwei SS-Männer auf und fragen, wie er das meine. Er kommt gar nicht dazu, Antwort zu geben. Sie schlagen ihn mit dem Knauf eines Fahrtenmessers auf den Kopf, daß die Schwarte aufplatzt, und zerren ihn zum Stephansplatz, wo inzwischen schon an die hundert Männer und Frauen stehen. Jeder Passant wird nach den Papieren gefragt, ob er Jude sei oder Arier. Die Juden müssen warten, die Arier dürfen, wenn sie wollen, zuschauen und feixen. Mein Großvater ist erst gar nicht nach seinen Papieren gefragt worden. Seine Nase war Ausweis genug. Nach zwei Stunden kommen Lastwagen, und mein Großvater und die anderen, die mit ihm vor den Toren des Doms gewartet haben — inzwischen sind es an die fünfhundert —, müssen einsteigen. Eine junge Frau hat sich seiner angenommen, sie hat ihm ihr Taschentuch gegeben, die Wunde auf seinem Kopf fängt nämlich immer wieder an zu bluten. Die Wagen fahren durch die Stadt, nach einer Weile halten sie an, und die Männer und Frauen müssen aussteigen. Sie müssen sich in Zweierreihe aufstellen und marschieren — über die Lannerstraße, die Vegagasse, die Peter-Jordan-Straße, die Hardtgasse, die Kreindlgasse. Rechts und links stehen Neugierige, die übertreffen sich in ihren herzlosen Bemerkungen. Einer ruft meinem Großvater zu: ›Nimm die Hände aus den Taschen!‹ Aber er hat ja gar nicht die Hände in den Taschen gehabt. Ein SS-Mann hält ihn auf und sagt: ›Wer hat Ihnen erlaubt, die Hände in die Taschen zu stecken?‹ Mein Großvater sagt: ›Ich habe sie ja gar nicht in den Taschen gehabt.‹ Der SS-Mann sagt: ›Aber man hat Sie gesehen.‹ Und mein Großvater sagt: ›Wäre es denn so schlimm, wenn ich meine Hände in meinen Taschen gehabt hätte?‹ Da gibt ihm der SS-Mann einen Tritt in den Steiß. Mein Großvater fällt auf die Knie. Im Kommissariat jagt man ihn und die anderen in den ersten Stock hinauf, wo die Personalien aufgenommen werden. Mein Großvater hat keine Papiere bei sich. Er war ja nur vor sein Geschäft getreten, um zu schauen, was für ein Lärm da war. Er wird in einen gesonderten Raum gebracht zu den anderen, die ebenfalls keine Papiere bei sich haben. Es sind an die hundertfünfzig Leute. In dem Raum steht ein Kohleofen, es ist sehr heiß hier. Einer sagt: ›Alle Juden von Wien werden nach Dachau gebracht.‹ Mein Großvater sagt: ›Ich bin nur zu einem Viertel Jude.‹ Es interessiert niemanden. Alle zehn Minuten kommt ein Polizist herein oder ein SS-Mann, der sagt: ›Hier stinkt’s! Müßt ihr Zwiebelfresser denn dauernd furzen? Wer sich hinsetzt oder an der Wand anlehnt, bekommt Prügel.‹ Sie stehen bereits vier Stunden, als die Verhöre beginnen. Fünf Beamte verhören. Einer nach dem anderen kommt dran. Mein Großvater wird gefragt: ›Wie steht es mit den Parteien?‹ Er weiß nicht, was der Satz bedeuten soll. Er sagt: ›Ich verstehe Sie nicht.‹ — ›Bei welcher Partei waren Sie Mitglied?‹ — ›Ich war bei keiner Partei Mitglied.‹ — ›Aber bei der Vaterländischen Front werden Sie doch zumindest gewesen sein.‹ — ›Nein.‹ — Sie fragen nach seinem Eigentum, nach seinem Vermögen, Grundbesitz, Vorstrafen, Geschlechtskrankheiten. Ob er schon einmal bei einer Hur gewesen sei. Er sagt, er sei noch nie bei einer Prostituierten gewesen. Der Beamte sagt: ›Ihr Juden steckt doch überall eure Schwänze hinein.‹ Mein Großvater sagt: ›Ich bin nur zu einem Viertel Jude.‹ Er muß das Protokoll des Verhörs unterschreiben. Er fragt, ob er zu Hause anrufen dürfe, seine Frau sei sicher in Sorge. Er darf nicht. Er wird ins Erdgeschoß geschickt. Inzwischen ist es draußen dunkel. Im Stiegenhaus stehen ein paar hundert Leute eng beieinander. Es wird geraucht und gelacht. Die Stimmung hier ist nicht schlecht. Mein Großvater setzt sich auf die Stufen. Er ist erschöpft und hungrig, aber als einer einen Witz erzählt, lacht auch er. Man bekommt Wasser zu trinken. Jemand gibt ihm eine Schnitte Brot und ein Stück Wurst. Es wird spekuliert. Die meisten gehen davon aus, daß sie nach Dachau gebracht werden. Dieses Dachau müsse sagenhaft groß sein, wenn man dort alle Juden im Reich hinbringen wolle. ›Ich bin nur zu einem Viertel Jude‹, sagt mein Großvater. Er sagt es gerade in dem Moment, als hinter ihm eine Tür aufgeht und ein SS-Verfügungstruppenmann heraustritt. ›Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?‹ brüllt er meinen Großvater an. Ein Mann aus Deutschland, Röhrenstiefel, Stahlhelm. Es ist still geworden. Einer sagt: ›Der will sich rausreden.‹ Der SS-Verfügungstruppenmann mit der Revolvertasche an der Hüfte brüllt: ›Wer war das? Wer hat das gesagt?‹ Es ist still. Der SS-Verfügungstruppenmann zeigt auf einen x-beliebigen, einen jungen Burschen mit hoher Stirn und kleinen Stummelzähnen. Er soll sich auf die Fußspitzen stellen, die Arme hochhalten, die Finger strecken und zusammenziehen, und das so lange, bis ihm befohlen werde, damit aufzuhören. ›Nach dem Gesetz ist ein Vierteljude wie ein Arier zu behandeln‹, sagt der Mann, der hier das Gesetz vertritt. ›Deutschland ist ein Land, in dem man sich an die Gesetze hält.‹ Nach einer Weile sagt mein Großvater zu dem SS-Verfügungstruppenmann: ›Wer auch immer das gesagt hat, er hat es sicher nicht böse gemeint.‹ Der junge Mann, der auf den Fußzehen stehen und die Arme hochhalten und die Finger strecken und zusammenziehen muß, fragt, ob er bitte eine Pause machen dürfe. Er darf nicht. Mein Großvater spürt, daß die anderen ihm die Schuld geben. Nach ein paar Minuten bricht der junge Mann zusammen. Der SS-Verfügungstruppenmann sagt: ›Alle unter siebzehn und über sechzig mitkommen!‹ Bei denen ist auch mein Großvater. Sie werden zum Tor geführt. Dort sagt der SS-Verfügungstruppenmann: ›Halt! Und wenn ich gleich sage: Marsch! dann rennt’s davon, so schnell ihr könnt’s, und wer der letzte ist, der bleibt hier. Marsch!‹ Alle rennen los, stolpern, fallen, treten aufeinander, rappeln sich hoch, halten einander zurück. Mein Großvater geht quer durch die Stadt bis zum Rudolfsplatz, legt sich in sein Bett und steht zwei Tage lang nicht auf. Dann ruft er die Familie zusammen — meine Großmutter, meine Mutter, Valerie —, bittet sie, um den Tisch Platz zu nehmen, und erzählt ihnen haarklein die ganze Geschichte. Und weißt du was: Er glaubt nach wie vor an das Gesetz. Er will Anzeige erstatten. Meine Großmutter redet auf ihn ein wie auf ein krankes Pferd. Er will Anzeige erstatten in eigener Sache und sich als Zeuge melden, falls ein anderer ebenfalls Anzeige erstatten will. Leges rem surdam, inexorabilem esse. Das Gesetz ist taub und unerbittlich, sagt Livius. Und das Gesetz ist gefeit vor jeder Politik. Das war meines Großvaters heilige Überzeugung. Anders könne ein Geschäftsmann nicht existieren. ›Wenn die Menschen soweit sind, daß sie ihrer Menschlichkeit mißtrauen, dann schalten sie etwas vom Menschen Unabhängiges zwischen sich, um miteinander verkehren zu können: das Gesetz.‹ So hat er mich belehrt, da war ich noch keine vierzehn. Meine Großmutter habe sich in sein Hemd verkrallt, um ihn davon abzuhalten, daß er zur Polizei ging und Anzeige erstattete.
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