Meine Mutter ist mit ihren Eltern nie zurechtgekommen. Sie stieß beim Sprechen mit der Zunge an, lispelte ein wenig, was sie noch reizender erscheinen, noch zarter wirken ließ. Meinen Großvater störte das, es war ein Manko, und es kam vor, daß er mit der Gabel auf den Tisch schlug und sagte: ›Wie heißt das?‹ Da war sie dreißig gewesen! Nun wohnte sie allein. Zwei gemütlich eingerichtete Zimmer waren das. Und das beste: eine große Küche mit einem weinroten Sofa darin und einem Berg von bunten Kissen darauf, mit spinnwebfeinen Vorhängen aus Florentiner Taft an den Fenstern, butterblumengelb, die man nur zuziehen mußte, um sich einzubilden, es scheine die Sonne. Und einem Kräuterbalkon, auf dem der Schnittlauch zu kleinen lila Blütenkugeln austrieb und auf den sie manchmal abends hinaustrat und den Tauben zuschaute, die ihr Gefieder schüttelten, als ob sie den Tag von sich abstreiften. Auch ein modernes Badezimmer mit gasbetriebenem Warmwasseraufbereiter gehörte zu der Wohnung und eine Badewanne wie ein Möbelstück mit Löwenpranken als Füße. Hat alles mein Großvater bezahlt. In der Nähe vom Margaretenplatz war ihre Wohnung, im fünften Bezirk, Blick in einen weitläufigen, efeuüberwucherten Innenhof, in dem ein Pferdestall und ein Hufschmied waren. Ich habe sie nur selten besucht, manchmal übernachtete ich bei ihr. Gerüchte mutmaßten, sie habe immer wieder Liebhaber gehabt. Ja, das hatte sie.
Sie besaß ein sündteures Grammophon, irgend jemand hatte es ihr irgendwann geschenkt. Als ich Mitte der dreißiger Jahre in New York war, habe ich ihr ein Paket Schellacks mitgebracht — einen Stapel mit leichtem Zeug von Tommy Dorsey und Jimmie Lunceford, aber auch Fletcher Henderson, Louis Armstrong and The Hot Fife, Earl Hines und natürlich von Duke Ellington. Wir haben zu dritt in der Küche miteinander getanzt, sie, Valerie im bodenlangen Nachthemd und ich, später hat sie uns ein Nachtmahl zubereitet aus feiner Zungenwurst und Schinken und Eingelegtem, alles hübsch arrangiert auf einer spiegelnden Platte, umrundet von petersiliegeschmückten Eierhälften. Das war ein schöner Abend. Honigkerzen. Dieser lichthungrige schwarze Punkt in ihren Augen. Es stimmte mich ein wenig traurig, als ich merkte, wie glücklich sie war, mich zu sehen. Näher sind wir beide uns nie gekommen.
Anfang der zwanziger Jahre hatte sie Valeries Vater kennengelernt und ihn in Torschlußpanik, wie sie später selbst sagte, geheiratet. Ich weiß gar nicht so recht, welchen Beruf er ausgeübt, womit er sich sein Geld verdient hatte, einmal hieß es, er sei technischer Zeichner in einem Architekturbüro in der Josephstadt gewesen, dann hieß es, er habe in einer Feuerzeugfabrik in Neuwaldegg gearbeitet, meine Großmutter behauptete, er sei Lehrer in einem Realgymnasium in Hernals gewesen. Vielleicht war er ja alles zusammen und noch viel mehr. Valerie wollte über ihren Vater gar nichts wissen, und sie wußte auch nichts über ihn. — Wir sind doch ein komisches Paar, Valerie und ich, nicht? Hatten beide nie einen Vater, sind nur halbe Geschwister und wissen voneinander so gut wie nichts. Sie war klein, neben mir jedenfalls, etwas stämmig auch, hatte unser blondes Haar, aber von der Schönheit unserer Mutter war nicht viel, das muß ich leider sagen. Alles an ihr sah rotgescheuert aus, verfroren oder zu heftig geschrubbt, zuviel Rot, die Augen rotgerändert, der Mund zu rot, wie bei unserem Großvater, kein schönes Rot allerdings, entzündet, ungesund. Und schnelle Bewegungen, keine Spur von dem Somnambulen unserer Mutter. Aber charmant konnte sie sein, pfiffig. Sie hatte vor niemandem Respekt. Ein paarmal haben wir gemeinsam den Embassy Club besucht, auch andere Clubs. In meiner Begleitung hat man sie in den Embassy hineingelassen. Aus dem wenigen Englisch, über das sie verfügte, holte sie so viel Witz heraus, daß in den Pausen unser Tisch von GIs umlagert war. Die wollten nichts von ihr, die wollten ihr nur zuhören. Was ich damals nicht wußte: Sie trieb lukrativen Handel mit den Soldaten, vor allem mit den Amerikanern, und zwar einen riskanten Handel: Nazidevotionalien — Mein Kampf , Orden, Mutterkreuze, Hitlerbilder, antisemitische Karikaturen und Hetzschriften, besonders pikante Ausgaben des Stürmer und so weiter. Was vor der Niederlage Macht, Überzeugung, Religion gewesen war, war für die Sieger Mitbringsel, Spiel, Unterhaltung. Sie hat auch deinen Vater kennengelernt. Sie hat ihn spielen hören. Im Keller der Loos-Bar, wo der Art-Club sein Lokal hatte, im sogenannten Strohkoffer. Er hat sich nach seinem Auftritt zu uns gesetzt und ab und zu einen Satz herausgelassen. Sie hätte gern mit ihm getanzt, aber das wollte er nicht. Musikanten tanzen nicht. — Valeries Geschichte ist unerfreulich und bedrückend. Wenn ich nicht fürchten müßte, daß sie sich zu Tode erschreckt, würde ich sie anrufen. Aber ich kenne ja nicht einmal eine Nummer. Gleich nach ihrer Geburt ist ihr Vater ohne Adieu auf und davon für immer. Von nun an lebte meine Mutter sehr zurückgezogen. Meinen Großvater und meine Großmutter besuchte sie nur zu den hohen Feiertagen und zu den Geburtstagen, und Männer hat sie angeblich auch keine mehr gehabt. Tochtererwürgen lautete von nun an die Überschrift. Arme Valerie. Oder auch nicht arme Valerie. Sie hat ja gelernt, sich zu wehren. Das Ergebnis ist vielleicht etwas zu kratzbürstig ausgefallen, was aber auch wieder sein Gutes hatte. Ohne sie wären die ersten Monate nach Kriegsende für die beiden Alten am Rudolfsplatz allzu bitter gewesen.
Gegen Ende des Krieges wurde meine Mutter als Straßenbahnschaffnerin in der Leopoldstadt dienstverpflichtet. Die Wohnung war ihr gekündigt worden. Der Besitzer vermietete sie an einen Parteimann. Den Großteil ihres Mobiliars hat er kassiert, der Gauner. Valerie, damals gerade zwanzig, war ebenfalls dienstverpflichtet, und zwar als Funkhelferin, und das ausgerechnet im Gaubefehlsstand am Gallitzinberg in Ottakring, wohin sich am Ende Baldur von Schirach verkriechen wollte, bevor er es sich anders überlegt hat und mit seinem Schwimmwagen davon ist. Beide, Valerie und meine Mutter, waren in Barackenlagern untergebracht, Valerie in Ottakring, meine Mutter in Wieden. Für Valerie war das weiter kein Problem. Für meine Mutter war es das Letzte. Sie mußte in einem Raum mit acht Stockbetten schlafen! Sie, die sich im Sommer Wachs in die Ohren stopfte, weil sie die Amseln am Morgen nicht aushielt! Wasser in einer Waschschüssel! Sie hätte ja ins Haus am Rudolfsplatz zurückkehren können, zu meinem Großvater und meiner Großmutter, aber das kam für sie nicht in Frage.
Am 10. September 1944, als die Bomben fielen, war sie gerade nicht im Dienst. Sie war in Ottakring beim Brunnenmarkt unterwegs, wahrscheinlich wollte sie Valerie besuchen, da hörte sie den Alarm. Aber dort war kein Luftschutzkeller in der Nähe, darum lief sie zum Clemens-Hofbauer-Platz, wo unter dem Park ein Bunker eingerichtet war. Sie erreichte den Bunker nicht, weil sie von einem Splitter getroffen wurde.«
4
Meine Stimme auf dem Band: Ich entschuldige mich, weil ich zur Toilette muß. Während ich draußen bin, läuft die Aufnahme weiter. Es ist nichts zu hören. Auch das Feuer im Kamin nicht. Gar nichts. Kein betontes Aus- oder Einatmen. Keine Bewegung von Carls Händen. Schließlich wieder meine tapsigen Schritte und wie ich mich auf dem Kanapee zurechtlege.
Ich war in Carls Badezimmer gewesen. Er hatte es umbauen lassen — den Türstock verbreitert, eine Schiebetür eingesetzt, so daß er bequem mit dem Rollstuhl hineinfahren konnte. Unter der Dusche war ein Klappsitz an die Wand geschraubt. Neben der Toilette waren Griffe, die man hinaufklappen konnte, überzogen mit weißem gepolstertem Kunststoff. Griffe auch bei der Badewanne. Auf einem Regal lag ein Paket mit Einlagen — Tena Lady Normal. Gehörten die Frau Mungenast? Die wird doch nicht ihre Einlagen in seinem Badezimmer deponieren. Oder hat er mit dem gleichen Problem zu kämpfen wie ich? Und das seit seiner Operation vor zwanzig Jahren? Daß die Inkontinenz also nicht zurückgeht? Oder daß er erst wieder in seinem hohen Alter darunter zu leiden begann? Eine normale Altersinkontinenz, die mit der Prostataoperation von vor zwanzig Jahren gar nichts zu tun hatte? Seniles Harnträufeln? Vor zwanzig Jahren waren die Operationsmethoden im Vergleich zu heute noch recht wuchtig. War ein nervschonender Eingriff damals überhaupt möglich gewesen? Als ich meinen Befund erhalten hatte, hatte ich mir eine Hitliste meiner Sorgen zurechtgelegt: 1. Das Leben. 2. Die Potenz. 3. Die Kontinenz. Nummer 3 beschäftigte mich im Augenblick am meisten. Auf dem kurzen Weg vom Wohnzimmer über den Gang ins Badezimmer hatte ich meine Einlage durchnäßt, sie hing schwer in meiner Unterhose. Im Sitzen und im Liegen konnte ich das Wasser halten, und in der Nacht brauchte ich gar keine Einlage. Aber wenn ich stand, noch schlimmer, wenn ich ging, da konnte ich die Beckenmuskeln zusammenziehen, so fest es mir nur möglich war, das Wasser rann trotzdem in einem Faden aus mir heraus. Ich preßte den Rest vom Harn ins Klo. Ein Strahl wie ein Neunjähriger, da sind wir Operierten im Vorteil. Ich wusch mich, warf meine nasse Einlage in den Abfalleimer und nahm mir eine von Carls, riß den Papierstreifen ab und klebte sie in meine Unterhose.
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