Cousins gegenüber verhielt sich Makoto wieder anders. Er bewegte sich anders, als er sich in Carls Gegenwart bewegte. Sein Gang wurde schwer und plump, mit den Armen schlenkerte er weit aus, die Hände waren geöffnete Fäuste, als hätten sie gerade derbes Gerät fallen lassen; er kaute Kaugummi, blinzelte auf einem zugekniffenen Auge, spuckte durch seine schiefen Zähne einen weiten Bogen. Seine Stimme senkte sich; seine Sprechweise und sein Englisch, die sonst — das heißt, wenn er mit Carl sprach — satzvollendend und erstaunlich wortreich waren, wenn man bedenkt, daß er zuvor nie mit genuin Englischsprachigen zu tun gehabt hatte, präsentierten sich nun floskelhaft und abgehackt, aufdringlich verschliffen; bereits nach wenigen Sätzen hatte Carl Mühe, sich vorzustellen, daß derselbe junge Mann noch am Vormittag eine so überraschend originelle Überlegung, betreffend einen Beweis für die Annahme, daß sich jede gerade Zahl als Summe von zwei Primzahlen schreiben läßt, vorgetragen hatte. Am Nachmittag gab Makoto den LKW-Fahrer, den Mann, der für alles zu gebrauchen war, auf den man sich in jeder Situation verlassen konnte, der auf jede Theorie pfiff, der zur Crew gehörte. Cousins jubelte:»Ich habe etwas völlig Falsches in ihm gesehen. Ich dachte, er ist ein verwöhnter Intellektueller, bei dem man aufpassen muß, daß er sich nicht erkältet, wenn man beim Fahren das Fenster öffnet.«—»Und wie ist er wirklich?«fragte Carl. — Darauf wußte der Sergeant freilich keine Antwort, die ihn selbst zufriedengestellt hätte. Carl, der mit einem Gemisch aus Rührung, Eifersucht und Forscherneugier die Veränderung in Makotos Wesen beobachtete, hätte wohl eine parat gehabt: Makoto ist, wie sich Sergeant Jonathan S. Cousins wünschte, daß seine Söhne eines Tages werden. Cousins nannte ihn auch» mein Sohn«. Daß Makoto eine» komplizierte Rechenmaschine «sei, wollte er nie gesagt haben. Wie Carl nur auf so einen Ausdruck komme!» So falsch ist der Ausdruck gar nicht«, entgegnete Carl kleinlaut.
Nur wenn Makoto mit ihm zusammen war — daran zweifelte Carl nicht einen Augenblick —, war er er selbst. Sie spazierten von den Baracken zum Stacheldrahtzaun am Ende des unbenutzten, vom Unkraut aufgerissenen Teiles der Landebahn, spazierten weiter am Zaun entlang bis zum äußersten Wachposten (hier stank es nach dem Müllhaufen auf der anderen Seite des Zauns; die Soldaten hatten aus Jux eine Art mittelalterlicher Schleudervorrichtung gebaut, mit deren Hilfe sie den Abfall der 11. Luftlandedivision nach draußen beförderten); kehrten um und gingen den gleichen Weg zurück. Das waren zusammen knapp drei Kilometer unter dem immer gleichmäßigen Stahlglanz des Himmels; meistens gingen sie die Strecke dreimal hintereinander. Sie sprachen über nichts anderes als über Zahlen —»Erkundung des Zahlenuniversums «nannte es Carl, als wäre der Vormittag Schulunterricht mit nur einem einzigen Fach. Makoto gab sich in Carls Gegenwart weder verspielt wie bei den Soldaten noch als der Haudegen wie bei Cousins; er war bescheiden, selbstbewußt, in seiner Art zu sprechen präzise und sachlich — erwachsen. Und brillant! Carl erzählte ihm von Hilberts Problemkatalog von 1900 — in Erinnerung, daß die Ambition, wenigstens eines dieser Probleme zu lösen, einst den Ausschlag gegeben habe, daß er selbst Mathematik und nicht Ornithologie studiert hatte. Manchmal blieben sie stehen, weil Carl mit einem Stück gelber Kreide das Koordinatensystem oder irgendwelche Gleichungen auf den Asphalt malte. Er merkte bald, daß er Makoto Anspruchsvolles zumuten durfte. Eines Tages hielt er ihm einen zweistündigen Vortrag über die Riemannsche Landschaft und deren Nullstellen, dieses merkwürdige imaginäre Bergmassiv, auf dessen höchstem Gipfel das Geheimnis der Primzahlen verwahrt war. Wie es schien, hatte er damit genau Makotos Interesse getroffen —»Interesse «war natürlich ein viel zu schwaches Wort, Makoto war süchtig nach diesen Kernbausteinen der Mathematik. (Erst viel später kam Carl der Gedanke, daß Makoto vielleicht nur die Begeisterung seines Lehrers reflektiert und verstärkt hatte — wäre es nicht ein höchst merkwürdiger Zufall gewesen, wenn diese manische Fixierung auf die Primzahlen sie beide betroffen hätte? — , daß Makoto also lediglich ein bereitwilliger Spiegel gewesen war und er, Carl, in ihm, dem übertalentierten Chamäleon, nur sich selbst gesehen hatte, allerdings ins Monströse überzerrt. Damals hatte ihm Makoto noch nicht von den Zahlenfeldern erzählt, die er vor sich sah, wenn er die Augen schloß, und natürlich auch nicht von dem kleinen Mann mit dem Helm und den Schaufelhänden, der für ihn die tingeltangelhaft rasanten Multiplikationen und Divisionen durchführte, sozusagen als lockere Freizeitbeschäftigung zwischen seinen gedankenschnellen Läufen zum unendlich weiten Horizont seines Weltkreises, dabei alle Zahlen markierend, die durch eins und durch sich selbst und sonst durch nichts geteilt werden können, in der verrückten Hoffnung, irgendwann einen Algorithmus zu finden, der ein Schlüssel wäre, der in alles, in alles paßte. Diese Landschaft, erzählte er Carl zehn Jahre später während eines Kongresses, habe sich durch Carls Erläuterung der Riemannschen Vermutung zu einem Gebirge gehoben, und zwar innerhalb weniger Minuten.) Daß er ihm nicht ebenfalls nur etwas vormachte, schloß Carl aus der Tatsache, daß Makoto Sergeant Cousins belog, als dieser ihn einmal fragte, was sie beide denn bei ihren vormittäglichen Spaziergängen redeten. Makoto sagte:»Jake hat mir von seiner Kindheit in Wien erzählt und ich ihm von meiner Kindheit hier. «Nicht ein Wort in dieser Richtung war jemals zwischen ihnen gefallen. Ohne daß sie es ausgesprochen hätten, waren sie sich einig, daß ein Mann wie Cousins es nicht zu verstehen vermochte , daß es eine Lust war, über Zahlen zu sprechen und dabei keinen Gedanken über den Gebrauch außerhalb ihrer selbst aufzubringen. Carl erinnerte sich an die Spaziergänge mit seiner Professorin Emmy Noether in Göttingen; auch damals war es den meisten seiner Kommilitonen unverständlich gewesen, drei Stunden nichts anderes zu tun als» Mathematik zu reden«. Carl hatte lange Zeit nicht genug kriegen können von der» Erkundung des Zahlenuniversums«. Makoto hatte die Flamme in ihm wieder angefacht.
Eines Tages — Carl war seit sechs Wochen in Tokio und hatte den Flugplatz Atsugi noch nicht ein einziges Mal verlassen — nahm ihn Sergeant Cousins am Arm und teilte ihm wie ein Geheimnis die Entscheidung seiner vorgesetzten Stelle mit, daß er bis auf weiteres in Japan stationiert bleiben werde.»Ich werde meine Familie herüberholen. Es ist bereits alles abgesprochen. Wir werden in einem der Blocks wohnen, die unsere Leute bauen werden. Ich habe die Pläne gesehen. Praktisch, einfach und hell. Irgendwann werden die Buben dafür dankbar sein, daß es ihnen mein Job ermöglicht hat, für eine gewisse Zeit den Pazifik von der anderen Seite zu sehen, auch wenn sie jetzt heulen.«
Carl fragte, warum er ihn für diese Mitteilung beiseite genommen habe, das hätte doch jeder andere genauso erfahren dürfen, Makoto zum Beispiel, man wisse doch schon lange, daß die Amerikaner Truppen in Japan stationieren werden.
Ohne Carl anzusehen, antwortete Cousins:»Sie haben recht. Ich habe hinter Ihrem Rücken gehandelt. Das war nicht fair. Aber eigentlich sind Sie hier gar nicht existent. Sie können Ihren Koffer packen und jederzeit gehen. Ich kann das nicht. Das hier sind militärische Angelegenheiten. Bilden Sie sich nicht ein, Ihre Welt habe mit der meinen irgend etwas gemeinsam. Wir hier schnapsen alles untereinander aus. Hiermit, Mr. Candor, setze ich Sie davon in Kenntnis — obwohl ich das nicht müßte —, daß meine Frau und ich über meine Vorgesetzten den Antrag gestellt haben, Makoto Kurabashi zu adoptieren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird der Antrag angenommen. Makoto wird bei uns wohnen. Eine Familie. Meine Buben, meine Frau, Makoto und ich.«
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