Er bat mich, bei der Bahnstation nicht nach rechts auf unseren Weg zum See zu gehen, sondern nach links am Wald entlang; erfahrungsgemäß sei dort die Schneise, die der Föhn vom Berg wähle, um sich in die Stadt hinabzustürzen und alle, die anders tickten als wir beide, verrückt zu machen. Der Föhn drückte gegen meinen Rücken, kippte aus dem Gleichgewicht, überließ seinem eisigen Bruder vom Norden das Feld, den hatten wir herankommen sehen als graue Schneewand, die uns für einen Augenblick in Düsternis hüllte, ehe sie von der Sonne und dem Föhn wieder abgedrängt wurde.
«Wie hat dir die Geschichte gestern abend gefallen?«fragte Carl.»Wäre sie nicht eine Novelle für sich?«
«Sie ist grauenhaft«, sagte ich.
Plötzlich war es ruhig; war, als würden die Winde neuen Atem holen für den letzten Kampf, der entscheiden sollte, wer den Tag beherrschen würde, der Nord oder der Süd. Der Himmel öffnete sich, die Sonne wärmte meinen Nacken.
«Laß uns dort vorne anhalten«, sagte Carl.
Neben gefällten und entasteten Fichtenstämmen stand eine Bank. Ich stellte die Bremse am Rollstuhl fest und setzte mich.
«Dreh mich bitte so, daß ich die Sonne im Gesicht habe«, sagte er. Er legte den Kopf in den Nacken, schloß die krausen, blassen Lider, die wie winzige Wirsingblätter aussahen. — Und nun erzählte er weiter, wo er am Vorabend geendet hatte:
Von Makoto Kurabashis spektakulärem Selbstmord habe er im Juli 1960 aus Cousins’ Brief erfahren, einem Freitag. Einen Tag später war ich nach Innsbruck gekommen, um dort für ein Jahr bei ihm und Margarida zu bleiben. Sergeant Cousins lebte damals längst nicht mehr in Japan. 1952 hatten die Amerikaner ihre Truppen von der Insel abgezogen. Cousins, seine inzwischen wieder schwangere Frau Karen und seine beiden Söhne waren zurück nach Los Angeles gezogen — allein, ohne Makoto. Der habe sich, wie Cousins berichtete, besonders gut mit Karen verstanden; er sei so liebevoll hilfsbereit gewesen und habe sie mit Komplimenten überhäuft. Als Makoto noch nicht einen Monat bei ihnen gewohnt habe, habe sie zu ihrem Mann gesagt, sie sei anfänglich skeptisch gewesen, daß ein Fremder in ihre Familie aufgenommen würde, dazu einer, der einer anderen Rasse angehöre, deren Mitglieder eine verdächtig glatte Haut hätten und Kindergesichter und fast noch brutaler seien als die Deutschen; nun aber könne sie sich kaum mehr vorstellen, wie es ohne ihn wäre. Auch die Buben mochten ihn. Makoto spielte mit ihnen, nicht wie ein Erwachsener mit Kindern spielt, sondern wie ein Kind mit Kindern spielt. Sie schliefen zu dritt in einem Zimmer, und am Abend, nachdem das Licht gelöscht war, erzählte Makoto von dem kleinen Mann mit den Schaufelhänden, das war gruselig und schön. Er brachte den beiden ein paar Zahlentricks bei, mit denen sie in der amerikanischen Schule auf dem Areal von Atsugi Erstaunen und Neid ernteten. Die Familie wollte selbstverständlich, daß Makoto sie nach Los Angeles begleite; dort besaßen die Cousins’ ein großes Haus, er hätte sein eigenes Zimmer gehabt und hätte seine Studien an der UCLA fortsetzen können. Das war auch alles genau so besprochen worden, beteuerte Cousins in seinem Brief. Aber wenige Tage vor dem großen Aufbruch teilte Makoto seinem Ziehvater, dessen Frau und Kindern mit, daß er in Tokio bleiben werde. Er habe nicht gesagt: Ich will in Tokio bleiben; er habe gesagt:»Ich werde in Tokio bleiben.«
Carl hatte daraufhin die monatliche Überweisung an Makoto verdoppelt.»Aus dem einfachen bösen Grund, weil ich ihm herzlich dankbar war, daß er Cousins doch noch einen Korb gegeben hatte. «Nun fühlte er sich auch nicht mehr an sein Versprechen gebunden, mit seinem Schützling keinen Kontakt aufzunehmen. Er schrieb einen kurzen Brief an Makoto und erhielt eine ebenso kurze Antwort. Er schrieb einen längeren Brief, nun war auch die Antwort länger. Es entwickelte sich eine sehr lebhafte Korrespondenz zwischen den beiden, die fast ausschließlich Fachliches zum Inhalt hatte. Weil Carl Makotos neue Adresse nicht wußte, schickte er die Briefe an die Universität, und um Gleiches mit Gleichem zu vergelten, vermerkte er als Absender,»9. Gemeindebezirk, Boltzmannstraße 12«, das war das Mathematische Institut in Wien, wo Carl zu dieser Zeit noch einen Lehrauftrag innehatte.
Ich fragte ihn, ob ich mir den einen oder anderen von Makotos Briefen ansehen könne.
«Sie existieren nicht mehr«, antwortete er.
Im Sommer 1955, drei Jahre nach dem Abzug der Amerikaner aus Japan, in den Semesterferien, bevor Carl den Lehrstuhl an der Universität Innsbruck übernahm, trafen Carl und Makoto einander wieder, eben bei jenem Mathematikerkongreß in Tokio. Carl war der stolze Zeuge von Makotos großem, wenngleich umstrittenem Triumph. Aber am Abend gerieten sie in Streit miteinander, und am folgenden Tag tauchte Makoto nicht mehr beim Kongreß auf, und niemand wußte, wo er war. Etliche, die ihn und seine Thesen und vor allem seine intuitive Herangehensweise kritisiert hatten, sahen in seinem Fernbleiben eine Bestätigung ihres Verdachts, daß dieser junge Mann ein Scharlatan sei, ein Bluffer, ein Spieler, ein Spinner. Makoto Kurabashi nahm am weiteren Verlauf des Kongresses nicht mehr teil. Woraufhin auch Carl abreiste. In Wien teilte ihm die Bank mit, der Dauerauftrag für das monatliche Salär sei vom Empfänger storniert worden. Makoto wollte kein Geld mehr von seinem Mäzen. Carl schrieb ihm einen Brief. Er bekam keine Antwort. Er schrieb ihm einen zweiten Brief und bekam wieder keine Antwort; und auch auf einen dritten Brief bekam er keine Antwort.
Einen Tag, bevor mich meine Eltern auf den Zug nach Innsbruck brachten, damit sie ungestört in Kreta ihre Liebe, ihre Ehe, ihr Leben reparieren könnten, kam der Brief, worin der völlig entgeisterte Sergeant Cousins Carl mitteilte, daß sich Makoto Kurabashi während einer Demonstration gegen den amerikanischen Präsidenten mit einer Rasierklinge die Schlagadern an beiden Armen aufgeschnitten habe.
Er sei, erzählte Carl, in die Uni-Bibliothek gelaufen und habe im Zeitungsarchiv alle verfügbaren Tageszeitungen ab dem 15. Juni durchgesehen.
«Auch am Tag deiner Ankunft war ich in der UB. Ich habe zu Margarida gesagt, sie soll von der Anichstraße zum Bahnhof gehen, wir würden uns dort treffen, um dich gemeinsam abzuholen. Ich war sehr verwirrt, wirklich sehr verwirrt. Ich hatte ihn auf einigen Bildern in den Zeitungen erkannt. Meinte ich jedenfalls, sicher war ich mir nicht. Ich habe gespürt, daß du enttäuscht warst, weil ich mit meinen Gedanken nicht bei dir war, und ich hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Du hast von der Fahrt erzählt. Eine so lange Reise für einen Zehnjährigen ganz allein, und ich konnte dir einfach nicht zuhören. Ich war zu aufgewühlt. Auf einem der Bilder, ich glaube es war in Le Monde , habe ich Makoto erkannt. Das war er. Das Bild war zwar ziemlich grob gerastert, weil sie es vergrößert hatten, um die Szene heranzuholen. Die Arme weit in die Luft gestreckt. Und das weiße Gesicht. Er war es. Und du hast geredet und geredet. Irgendwann bist du verstummt. Beim Abendessen zu Hause hast du kein Wort mehr gesagt. Margarida hatte alles schön hergerichtet. Sie wußte, daß du Senfgurken so gern hast und Essiggurken, sie hat verschiedene Sorten eingekauft. Und Salami aus Italien, die hat sie am Markt besorgt. Du bist dagesessen und hast ein Gesicht gezogen, als würdest du auf Rache sinnen. Ja, das ist wahr. Margarida hat mir in der Nacht Vorwürfe gemacht, hat gefragt, was mit mir los sei und so weiter.«
Ich kann mich nicht erinnern, daß Carl auf mich geistesabwesend gewirkt hätte oder in irgendeiner Weise verwirrt oder aufgewühlt. Im Gegenteil. Nach dem, was bei uns zu Hause los war, vor allem, was in den vorangegangenen Monaten los gewesen war, empfand ich die Atmosphäre in der Anichstraße auf angenehmste Weise entspannt. Meinetwegen hätte niemand etwas sagen müssen, und niemand hätte mir zuhören müssen, und wenn ich plötzlich verstummt war, dann weil mir klargeworden war, was für eine Last das Reden ist. Ich war in den dauerhaften Frieden eingekehrt. So sah ich das.
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