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Carl:»Cousins und ich vereinbarten, daß Makoto die Ausbildung bekommen sollte, die er sich wünschte, egal, was es koste. Mein Teil war es zu bezahlen. Außerdem ließ ich mir von Cousins unterschreiben, daß er mir viermal im Jahr ausführlich berichte, wie es um Makoto stehe, und daß er, sollte etwas Außergewöhnliches vorfallen, mich unverzüglich davon in Kenntnis setze. Ich verließ Japan. Cousins hat sich an unsere Abmachung gehalten. Makoto holte im Eiltempo alle seine Prüfungen nach und begann bereits im Herbst 1946 mit seinem Studium der Mathematik an der Kaiserlichen Universität in Tokio. In der kürzest denkbaren Zeit schloß er ab und bekam eine Stelle erst als Assistent, später als Dozent. Cousins hatte mich gebeten, mich nicht mit Makoto in Verbindung zu setzen, er befürchtete, der Junge werde in einen Konflikt stürzen, wisse zuletzt womöglich nicht, wohin er gehöre. Ich habe das akzeptiert. Ich habe Makoto fast zehn Jahre lang nicht gesehen. 1955 traf ich ihn auf dem Mathematikerkongreß in Tokio. Er war die Sensation der Tagung. Alles drehte sich um eine seiner Theorien.«
Aus purem Instinkt heraus habe er, referierte Kurabashi bei dem Kongreß, die Terme der Reihe einer bestimmten Modulform mit den Termen der Reihe einer bestimmten elliptischen Gleichung verglichen und festgestellt, daß diese identisch waren. Er berechnete weitere Reihen und fand jedesmal identische Entsprechungen. Warum die beiden Objekte, die von entgegengesetzten Enden der Mathematik herstammten, eine Korrelation aufwiesen und worin diese ursächlich bestand, konnte er nicht sagen. An immer neuen Reihen von Modulformen und elliptischen Gleichungen hatte er seine Berechnungen angestellt, und immer war seine Vermutung bestätigt worden: M-Reihe und E-Reihe waren identisch. Die Vermutung einer Beziehung zwischen der modularen und der elliptischen Welt, mit schüchterner Selbstgewißheit von diesem jungen japanischen Wissenschaftler vorgetragen, der auch gar keinen Hehl daraus machte, daß diese Idee seiner Intuition entsprungen war, führte zu heftigen Auseinandersetzungen während des Symposions. Jede weitere Demonstration versetzte zwar jedesmal aufs neue alle Anwesenden in Erstaunen; eine Vermutung aber sei, belehrte uns Carl, vom Beweis — und nur darauf komme es in der Mathematik an — ebenso weit entfernt wie der Traum der Nacht von der Wirklichkeit des Tages.
Carl sprach dabei hauptsächlich zu Frau Mungenast hin. Nach dem Essen hatte er sie gebeten, sich zu uns zu setzen.
Das Wildgulasch vom Wilden Mann war vorzüglich gewesen. Noch vor dem Essen, während Carl und ich unten am See saßen, war Frau Mungenast nach Innsbruck hinuntergefahren und hatte in der Konditorei Hetzenauer Kuchen besorgt. Carl mochte Kuchen, Frau Mungenast mochte Kuchen und ich auch. Linzertorte, Sachertorte, Kardinalsschnitte, dazu Espresso und für Carl und Frau Mungenast einen Mandellikör; Carl rauchte eine Zigarette und blies uns den Rauch ins Gesicht, worum wir ihn als ehemalige Raucher gebeten hatten.
«Mathematik«, dozierte er,»ist zugleich Wissenschaft und Kunst. Die Kunst der Tautologie. Der Beweis, dem alle Sehnsucht gilt, ist eine Gleichung. Eine Gleichung aber ist immer tautologisch. Sie besagt: Es ist, was ist. Und mehr nicht. Unwiderlegbar und läppisch. Was auf der linken Seite steht, wird auf der rechten Seite bestätigt. Und wenn rechts eine Null steht, können links noch so viele Teile aufgeführt sein, sie verpuffen, wenn die Gleichung stimmt, zu null. Als ob in null alles enthalten wäre. Aber in null ist nichts enthalten. Mathematik ist elegantester Nihilismus. Aufgrund ihrer Apriorität genießt sie eine Art Unanfechtbarkeit. Dabei ist sie nicht nur sinnlos, sondern auch unpraktisch — auf letzteres ist sie sogar stolz. Schon der Kubikinhalt eines knorrigen Eichenstammes ist rechnerisch fast unzugänglich — wozu also die Theorien komplexer Veränderlicher?«Er selbst habe die Mathematik, obwohl sie ja sein Beruf gewesen sei, immer wie eine Liebhaberei betrieben, immer im Bewußtsein, daß sie nichts, aber auch gar nichts bedeute.»Nein, ich korrigiere mich«, sagte er leise,»die Mathematik war ja gar nicht mein Beruf! Sie zu lehren war mein Beruf, mich mit den Studenten herumzuärgern, über sie zu spotten, mich über sie zu freuen, in seltenen Fällen über sie zu staunen, die Lehrveranstaltungen für ein Semester zu planen und vorzubereiten, das war mein Beruf. Fachschaftssitzungen abzuhalten, meiner Sekretärin Briefe zu diktieren, an das Ministerium oder an die Malerfirma, die unsere Büroräume über die Semesterferien ausmalen sollte — das war mein Beruf. Die Mathematik war mein Hobby, nicht mehr und nicht weniger. Sie zu einem Hobby zu degradieren, das ist die einzige Rettung vor ihr. Du bringst es zwar nicht sehr weit, im besten Fall zum Universitätsprofessor wie ich, aber sie gewinnt keine Macht über dich und dein Leben und das Leben als solches. «Genau das geschähe nämlich, wenn die Mathematik zur Metapher werde. Zur Metapher für die Welt.»Das haben Metaphern nämlich so an sich: daß sie größenwahnsinnig sind. Sie sind die geistige Lieblingsspeise der Jugend. Als junger Mathematiker hat man den Ehrgeiz, sich ausschließlich mit jenem Bereich seiner Wissenschaft zu befassen, der auch philosophische Relevanz besitzt. Schau sie dir an, wie sie alle Gödels Theorem verehren. Die meisten, weil sie nichts davon verstehen. Sie plappern falsch nach: Ein System könne aus sich selbst heraus nicht bewiesen werden. Etwas kann sich selbst nicht verstehen. Das gilt ihnen als Rechtfertigung ihrer eigenen Dummheit und Ignoranz, aus der heraus sie dem gesunden Menschenverstand jegliche Erkenntnisfähigkeit absprechen. Die Metapher ist das Opium des Hochnäsigen. Metaphern sind Idiotenleim. Sie haben die Tendenz, sich zum Sinnbild für alles aufzuschwingen. Tatsächlich für alles!«Dieses» alles «aber sei ein Begriff, sei lediglich ein Begriff, nicht mehr; ein höchst abstrakter Begriff dazu, er enthalte kein Stück Leben, nicht ein Stück Welt. Und weil die Mathematik nun einmal die ausgefeilteste Art sei, mit dem Abstrakten umzugehen, es vorzuführen wie ein Dompteur seinen Tiger, darum biete sie sich als Metapher für dieses» alles «an.»Aber wenn du das zuläßt«, flüsterte er nun nur noch,»dann bist du angeschissen! Dann wird dir alles tautologisch. Dann ist für dich eins wie das andere. Und alles läuft auf die Null hinaus. Auf nichts. «Er räusperte sich mühsam, und etwas außer Atem kam er zum Schluß:»Mathematisch gesehen, kann man durchaus brauchbar zwischen mehreren Nichtsen verschiedener Mächtigkeit unterscheiden; philosophisch gesehen mag das Nichts sogar ein attraktives Etwas sein, zu dem sich schwarzes Gewand und weiße Gesichter assoziieren lassen; in der Wirklichkeit aber ist Nichts einfach bloß — nichts.«
«Das habt ihr bei diesem Mathematikerkongreß in Tokio besprochen?«
Er blickte mich erst irritiert, endlich triumphierend und trotzig an.»Wir beide hatten eine Auseinandersetzung, denke ich. An deren Ende mich Makoto fragte: ›Wer bin ich?‹ Und ich ihm antwortete: ›Genaugenommen nichts.‹«
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Bei unserem letzten Spaziergang hinunter zum Lansersee dachte ich, er gefällt sich in der Rolle eines Mephisto.
Er war überaus gut gelaunt gewesen, als wir das Haus verließen.»Sieh dir das an!«rief er.»Das ist mein Wetter, alles auf einmal!«Während des Frühstücks hatte Frau Mungenast die Fenster geöffnet, der Föhn kündigte sich in heftigen, warmen Streifen an; sie wußte, wie gern Carl und ich ihn mochten. Gegen die warme Luft vom Patscherkofel stemmte sich aber ein Schneewind von der Nordkette, und über unserem Haus trugen sie ihre Rauferei aus. Dazwischen schickte die Sonne ihre Spots, als wäre sie in der Rolle des Ringrichters. Carl hatte es eilig gehabt hinauszukommen.»Du wirst noch sehen«, sagte er, als ich ihn über den Weg nach unten zur Bahnlinie schob,»die Jahreszeiten, die Wetterstimmungen, der Regen, die Sonne, der Wind, der Schnee, die Wechsel, das alles gewinnt an Bedeutung mit dem Alter. Eigentlich müßte ich sagen, es findet erst seine wahre Bedeutung. Und manchmal scheint es, als habe alles andere keine Bedeutung mehr. Frag einen alten Mann nicht nach dem Wetter, du stürzt ihn damit in Verlegenheiten.«
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