Bis zum Ausbruch des Krieges hatte Carl in unregelmäßigen Abständen England besucht und hatte sich dort mit Major Prichett getroffen — bei schönem Wetter aus alter Gewohnheit auf der Bank vor dem Ententeich im Kensington Garden. Ab September 1939 flog Carl zweimal im Monat nach Lissabon — was ohne Probleme möglich war, Portugal war neutral, und die Beamten am Flughafen kannten ihn bereits, für sie war er ein ostmärkischer Kaufmann mit reichsdeutschem Paß, der in Lissabon lebte und den Deutschen gute Dinge aus aller Herren Länder brachte. In Lissabon berichtete Carl einem Verbindungsmann, den Prichett schickte — der allerdings so gut wie gar nichts von physikalischen oder chemischen Dingen verstand, weswegen es wenig Sinn hatte, mit ihm zu diskutieren, welcher Stellenwert den Berichten von Wilhelm Jobst und Eberhard Hametner zukam. Nun teilte er dem Verbindungsmann mit, er müsse dringend nach London reisen; Prichett solle ihn am Flughafen erwarten.
Diesmal trug Prichett Uniform. Er brachte Carl in ein Hotel außerhalb der Stadt, wo dieser noch nie gewesen war. Am selben Abend fand ein Empfang bei Winston Churchill statt, zu dem Carl zusammen mit Prichett eingeladen war. Dieses Zusammensein hatte privaten, überdeutlich privaten Charakter — unter den Gästen befand sich auch Charlie Chaplin. Nach dem Essen bat der Premierminister Carl in die Bibliothek, wo Major Prichett und zwei weitere Herren, beide in Zivil — sie stellten sich nicht vor und wurden nicht vorgestellt — auf ihn warteten. Churchill bat Carl, in der gleichen Ausführlichkeit zu wiederholen, was er dem Major mitgeteilt hatte. Carl legte Jobsts Informationen in allen Einzelheiten dar, schilderte den Fall Hametner (erwähnte allerdings nicht, daß er mit ihm befreundet war; Prichett hatte ihm dazu geraten; er könnte sich damit — im besten Fall — unliebsame Kommentare zuziehen), beschrieb dessen Position an Manfred von Ardennes Forschungslaboratorium für Elektronenphysik, faßte alle Hinweise zusammen, die er von Hametner und dessen Frau Helen — einer der anonymen Herren ergänzte:»Geborene Abelson, vor Hametner mit Professor Geoffrey Brown vom Cavendish-Laboratorium in Cambridge liiert«— bisher erhalten hatte, und sagte, als einer der anonymen Herren ihn fragte, ob er der Meinung sei, Hametner lüge, ohne zu zögern:»Yes«.
Am nächsten Morgen gegen fünf Uhr wurde an die Tür von Carls Hotelzimmer gepocht; draußen stand die Polizei; er wurde als enemy alien verhaftet und nach einem Tag und einer Nacht unter offenem Himmel im Hof einer Polizeistation in ein Internierungslager auf der Isle of Man gebracht (ein Gedanke war übrigens: Jetzt werde ich Wilhelm Jobst nicht mehr sehen, alles hat sein Gutes). Nach vier Tagen wurde er auf das Schiff Dunera verfrachtet und zusammen mit Hunderten anderen Bürgern des Deutschen Reiches, viele davon Kommunisten, Sozialdemokraten, aber auch Juden, die vor Hitler geflohen waren, nach Australien deportiert, wo er für die nächsten drei Monate in dem mit Stacheldraht und Wachtürmen gesicherten Lager Tatura / Victoria gemeinsam mit sechzehn anderen eine Baracke bewohnte. Schließlich wurde er noch einmal um den halben Globus gefahren, diesmal nach Kanada in ein weiteres britisches Internierungslager, das allerdings im Vergleich zum australischen wie ein Fünfsternehotel war. Dieser Aufenthalt dauerte nur eine knappe Woche. Er wurde in das Büro des» Direktors «geführt, und dort wartete Major Prichett zusammen mit einem Herrn in Zivil auf ihn. Dieser Herr kam Carl bekannt vor. Als er lächelte und ihm die Hand entgegenstreckte, wußte er, wer es war: J. Robert Oppenheimer.
Carl:»Prichett versicherte mir, er sei, sobald er erfahren habe, was mit mir geschehen war, augenblicklich mit Margarida in Verbindung getreten, um ihr zu sagen, daß sie sich nicht sorgen müsse; zweitens sei er von Pontius zu Pilatus gerannt, um mich rauszuholen, was ihm aber leider erst nach einem knappen Vierteljahr gelungen sei. Irgendwie habe ich ihm nicht geglaubt. Aber wenn wir schon bei Pontius Pilatus sind: Was ist Wahrheit? Vor allem: Wen interessierte eine alte Wahrheit, wenn es inzwischen neue Wahrheiten gab, die um so vieles bombastischer waren. Während wir friedlich und unwissend wie Schafe in der australischen Steppe unsere Unfreiheit bei Kaninchensuppe genossen, war Amerika in den Krieg eingetreten. Und Oppenheimer? Was hatte der hier verloren? Die Deutschen, erklärte er mir, seien dabei, die Atombombe zu bauen, das wisse man aus absolut verläßlichen Quellen — eine davon war wohl ich gewesen; kein Geringerer als Albert Einstein habe Präsident Roosevelt angefleht, den Deutschen zuvorzukommen. Und Roosevelt habe das eingesehen und das größte Waffenentwicklungsprogramm der Menschheitsgeschichte gestartet. Und die wissenschaftliche Leitung dieses Programms sei ihm, Oppenheimer, übertragen worden. Und er wolle die besten Köpfe um sich scharen — Physiker, Chemiker, Elektrotechniker, Mathematiker —, und einer dieser Köpfe sei ich. Wenn ich mich aufraffen könnte, mich ihnen anzuschließen, würde es für mich ein leichtes sein, ein Permit zu bekommen, und nach einem Affidavit eines unbescholtenen Amerikaners würde man mir einen Paß ausstellen und so auch mich in kurzer Zeit zu einem Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika stempeln. Fast ein Jahr lang war Oppenheimer unterwegs — durch die USA, durch England, Kanada, Mexiko, wo immer die Klügsten der Klugen saßen, um zu tun, was man ihnen in Europa nicht mehr zu tun erlaubte; dieser fragile Mann ließ sich von Universität zu Universität chauffieren, von Labor zu Labor, von Institut zu Institut; er hatte die Anwerbung der Wissenschaftler, die den inneren Kreis des Manhattan Project bilden sollten, niemand anderem überlassen; mit jedem einzelnen, den er in seiner unmittelbaren Umgebung haben wollte, hatte er persönlich gesprochen, er hatte geglüht vor Begeisterung, als wäre sein Blut mit Uranstaub angereichert. — So bin ich also dazugestoßen. Was hatte Hametner in Göttingen zu mir gesagt? ›Sie haben gar keine andere Wahl, Candoris‹ — als mich in den immerwährenden Ausnahmezustand dieses irisierenden Mr. Oppenheimer zu begeben, hatte ich den Satz für mich vervollständigt. Darin besteht das Schicksal eines Mathematikers: Systeme zu vervollständigen. Und auch wenn uns der verehrungswürdig spielverderberische Kurt Gödel ausreichend bewiesen hat, daß Systeme nie vollständig sein können, versuchen wir es doch immer wieder. Als Trinity auf der jornada del muerto in der Wüste von New Mexico gezündet wurde — übrigens mitten hinein in das Gequake von Tausenden Wüstenfröschen, die nach dieser stürmischen Regennacht aus ihren Löchern geschlüpft waren, um sich zu paaren —, da gehörte ich zu den zweihundertsechzig Auserwählten, die niederknieten wie Moses vor dem brennenden Dornbusch und den Kopf in den Sand steckten, damit sie vom Blitz nicht geblendet würden.«
6
Nachdem sie einen Nachmittag lang im Rumpf der verwundeten C-47 gesessen hatten — Makoto Kurabashi mit geradem Rücken auf der Werkzeugkiste, Carl auf dem Mittelstück einer Fallschirmspringerbank, die einer der Soldaten mit dem Schweißbrenner in drei Teile zerschnitten hatte, damit in jedem der provisorischen» Büros «des DMAD eine Sitzgelegenheit stünde —, fragte ihn Carl, was er weiter vorhabe, wo er zum Beispiel die heutige Nacht verbringe. Makoto hob die Arme und drehte sich, ohne sich von seiner Sitzgelegenheit zu erheben, um die eigene Achse, was genauso Himmel wie Erde heißen konnte oder einfach nur: Ich weiß es nicht. Carls Kollegen, die mit ihm das Büro teilten, Captain Hersh und First Lieutenant Zoreg (nach der Kapitulation Deutschlands waren beide am ALSOS-Einsatz beteiligt gewesen, dessen Ziel es war, herauszufinden, wo die Atomforschung der Nazis am Ende tatsächlich gestanden hatte — nämlich, verglichen mit dem Manhattan Project, noch nicht einmal in den Kinderschuhen: in einem Bierkeller in Haigerloch), hatten sich am Nachmittag freigenommen — was einfach nur hieß, daß sie, anstatt an diesem Ende des Flugplatzes, an einem anderen Ende herumsaßen; zu tun gab es dort genausowenig wie hier, aber es war mehr los. Wären sie zusammen mit Carl in der Maschine gewesen, als Sergeant Cousins Makoto Kurabashi brachte, das Gespräch hätte in anderer Form stattgefunden; nicht unbedingt gleich als ein Verhör, aber gewiß nicht als Rätselraten über die mögliche Anzahl von Haufen aus fünf realen beziehungsweise beliebig vielen fiktiven Maiskeksen der Firma Billings & Co. Was wäre mit Makoto Kurabashi geschehen? Sergeant Cousins hätte ihn nach der vereinbarten Zeit abgeholt, hätte ihn wahrscheinlich in den nächsten Tagen Soldaten mitgegeben, die ihn irgendwo in der Stadt — soweit man dieses Brandfeld überhaupt noch so nennen konnte — ausgesetzt hätten. Und weiter?
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