Er habe zuwenig von Kernphysik verstanden, um die Tragweite dieser Entdeckung abschätzen zu können, sagte Carl. Aber er habe an der Art und Weise, wie der Artikel formuliert war, gespürt, daß hier einer die Sätze in Eile niedergeschrieben hatte, zitternd gleichermaßen vor Begeisterung und Entsetzen; und er erinnerte sich an die Gespräche mit dem Freund Eberhard Hametner in Göttingen, als der versucht hatte, ihm darzulegen — auch er zitternd vor Begeisterung und Entsetzen —, daß in dem winzigsten Winzigen unvorstellbare Energien gebunden seien, die eines Tages zu befreien allerdings nur eine Institution das Geld aufbringen werde, nämlich das Militär. — Dafür, dachte Carl, würde sich Major Prichett sicher interessieren. Prichett sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an, sagte, auch in England verstehe man wissenschaftliche Aufsätze zu lesen, inzwischen sogar, wenn sie in deutscher Sprache geschrieben seien; das hier wisse man bereits alles. Aber er lobte ihn auch; Carl bohre genau an der Stelle, für die man sich interessiere.
Carl hielt sich nicht an das Versprechen, das er Prichett gegeben hatte, mit niemandem über seinen Auftrag zu sprechen. Carl hatte —»selbstverständlich!«— Margarida von Anfang an alles erzählt.»In ihren Augen war ich nun ein Widerständler. Sie war stolz auf mich. Ich wußte, daß sie stolz auf mich sein würde, und deshalb hatte ich ihr erzählt, daß ich von nun an eine Art Agent gegen Nazideutschland war. Daß mir irgend etwas zustoßen könnte, nun, daran wird sie schon gedacht haben, aber geglaubt hat sie es nicht. Sie hielt mich immer für einen alten Mann. Für einen sehr alten Mann. Für einen Mann, der in seinem Inneren immer schon so alt war, wie ich jetzt erst geworden bin. Und so einer stirbt nicht, bevor er nicht auch äußerlich dieses Alter erreicht hat. — Ich war damals dreiunddreißig …«
4
Carl ließ seinen Vertrag an der Universität Lissabon nicht weiter verlängern und übersiedelte — allein — im Frühsommer 1939 nach Berlin. Er mietete ein Büro, von wo aus er den Handel mit amerikanischem Whiskey (über das Kontor in Lissabon) organisierte — sehr erfolgreich übrigens, wie Senhor Costa Caeiro voll Sorge und Bewunderung zugeben mußte —, wohnte aber im Hotel, weil er vor den Behörden weiterhin als seinen Wohnsitz Lissabon ausweisen wollte — das hatte ihm Prichett geraten. Er knüpfte Kontakte zu Wissenschaftlern — was ihm als» Göttinger «nicht schwerfiel. Zwei Männer seien, hatte ihm Prichett gesagt,»zum Einstieg «besonders wichtig: Paul Rosbaud und Manfred von Ardenne.
Rosbaud war wissenschaftlicher Lektor beim Julius Springer Verlag, in dem die Zeitschrift Naturwissenschaften erschien; er hatte für den Aufsatz von Hahn und Straßmann das Dezemberheft in letzter Minute umgestaltet — die Neuigkeit müsse so schnell wie möglich in die Welt hinaus. Er stammte aus Österreich; er habe sich, wie er in breitem Berlinerisch in die Runde verkündete, seit Jahren danach gesehnt, endlich wieder einmal in den sieben Wiener Dialekten zu sprechen — ottakringerisch, meidlingerisch, hietzingerisch, hernalserisch, leopoldstädterisch, josephstädterisch und alsergrundlerisch. Rosbaud ließ keine Gelegenheit aus, ein Fest zu feiern; außerdem hatte er im Verlag einen wöchentlichen Jour fixe eingerichtet, an dem sich vor allem Autoren des Verlags, aber auch Gäste aus dem Ausland sowie aufgeschlossene Dilettanten trafen. Er schien jeden interessanten Menschen zu kennen, der Deutschland noch nicht verlassen hatte. Carl nahm er in den Kreis auf, als wäre er ein alter Freund. Über Rosbaud lernte Carl Wissenschaftler kennen, die an den Kaiser-Wilhelm-Instituten von Berlin und Heidelberg experimentierten, aber auch Mitarbeiter des Amtes für Technik der NSDAP wie den nachgerade monströs ehrgeizigen Professor Drescher-Kaden (dessen Lebensziel es war, Dekan der Universität Göttingen zu werden; was er 1940 auch wurde, nur war diese Universität dann nicht mehr, was sie weiland gewesen war) oder Otto Haxel vom Marinewaffenamt oder Heinz Große-Allenhöfel, den persönlichen Assistenten von Abraham Esau, dem Präsidenten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Und er lernte Wilhelm Jobst kennen, einen jungen, eierköpfigen Physiker, der gerade von der Universität Jena nach Göttingen gewechselt war, aber oft» in der Hauptstadt zu tun «habe, wie er mit flatternden Augenbrauen und in wichtigtuerischem Geheimniston Carl verriet. Jobst sah in Carl einen Vertreter des» goldenen Göttinger Zeitalters«, einen aus der» alten Garde«, womit er ja wohl nur jene Wissenschaftler meinen konnte, die zu einem großen Teil von seinesgleichen aus Göttingen vertrieben worden waren — Jobst war selbstverständlich Mitglied der NSDAP, aber auch Mitglied der SS im Rang eines Obersturmführers, er hatte an der Universität Jena den sogenannten» Assistentensturm «gegründet, eine Vereinigung des akademischen Mittelbaus, die in ihren Statuten als Ziel die Definition einer deutschen Physik, einer deutschen Chemie und einer deutschen Mathematik angab. Er wollte Carl imponieren; seine streberische Eitelkeit würde sich, dachte Carl, vielleicht ausnützen lassen.
Manfred Baron von Ardenne — neben Rosbaud der zweite, den Prichett als Anlaufstelle genannt hatte — war Besitzer und wissenschaftlicher Leiter des Forschungslaboratoriums für Elektronenphysik in Berlin-Lichterfelde, das in der Öffentlichkeit den sagenhaften Ruf einer modernen Hexenküche genoß, spätestens seit der Funkausstellung von 1931, als er das erste vollelektronische Fernsehen vorstellte, womit es der Baron, der sich rühmte, der Enkel von Fontanes» originaler« Effi Briest zu sein, auf das Titelblatt der New York Times schaffte — was als nächstem» Deutschen «erst Adolf Hitler gelang. Ardenne, geschickt in der Akquisition von Aufträgen, hatte sich gleich nach dem Erscheinen von Otto Hahns Artikel mit dem Reichspostminister Ohnesorge in Verbindung gesetzt und ihn auf die ungeheure Bedeutung der Hahnschen und Straßmannschen Entdeckung aufmerksam gemacht. Ohnesorge verfügte nämlich auch über den Etat der Forschungsanstalt der Post, der beträchtlich war. Die Deutsche Reichspost schloß mit Ardenne einen Vertrag über ein Projekt» für die technische Entwicklung von Verfahren und Anlagen auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung«, dessen Gegenstand unter anderem der Bau von Zyklotronen für das Institut in Berlin-Lichterfelde war. Als Carl dies Rupert Prichett bei einem Besuch in London erzählte, wurde der Major blaß.
Am 1. September marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Daraufhin erklärten England und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Ende September meldete Carl nach London, im Forschungszentrum des Heereswaffenamtes habe unter der Leitung von Abraham Esau und Oberst Schumann — nach dessen eigenen Angaben ein Nachfahre des gleichnamigen Komponisten und außerdem überzeugtes NSDAP-Mitglied der ersten Stunde — eine Versammlung von neun Kernphysikern stattgefunden, darunter Walther Bothe, Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg, Gerhard Hoffmann, Professor für Experimentalphysik aus Leipzig und — Wilhelm Jobst. Ergebnis dieser geheimen Sitzung: Gründung des sogenannten Uran-Vereins. — Nächste Meldung nach London, nur wenig später: Die Deutschen verbieten die Ausfuhr von Uranerz aus der Tschechoslowakei — außer dem Uran der Belgier, das aus der Kongo-Kolonie stammte, besaß sonst kein Land in Europa wesentliche Mengen dieses Metalls. — Nächste Meldung: Die I.G. Farbenindustrie AG übernimmt in großem Stil die Zulieferung von gasförmigen Uranverbindungen und schwerem Wasser an den Uran-Verein. — Dann: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin wird zum wissenschaftlichen Zentrum des Uran-Vereins. Sein bisheriger Leiter, der Holländer Peter Debye, wird abgesetzt, er verläßt Deutschland; sein Nachfolger wird Werner Heisenberg — was um so bemerkenswerter war, als es sich bei letzterem nicht um einen Eiferer aus der zweiten oder dritten Reihe handelte, sondern um einen der hervorragendsten Forscher auf dem Gebiet der Atomphysik, Nobelpreisträger des Jahres 1933. Aus Gesprächen mit Jobst erfuhr Carl, daß Heisenberg soeben eine theoretische Arbeit abgeschlossen habe, die den Unterschied zwischen dem Bau eines Uranmeilers, in dem die Kettenreaktion dosiert und auf beliebig lange Zeit gestreckt werden könne, und einer Uranbombe darstellte, bei der die Reaktion ungesteuert und innert dem millionstel Teil einer Sekunde einer Explosion entgegenlaufe, über deren Ausmaß sich vorläufig keine Aussagen treffen ließen, außer, daß sie gewaltig sein werde.
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