Wahrscheinlich vermutete Hametner, daß Carl mit englischen oder französischen Wissenschaftlern Kontakt hielt und an diese weitermeldete, was er ihm erzählte. Er sprach ihn nicht direkt darauf an. Carl meinte es jedoch zu spüren. Er vermochte aber aus dem wenigen, das er als eine Andeutung in diese Richtung interpretierte, nicht abzuschätzen, wie Hametner, falls er zur Auffassung gelangt war, Carl spioniere für die Feinde Nazideutschlands, diese Sache beurteilte. Hätte ihm Carl vor zehn Jahren gesagt, er würde eines Tages mithelfen, einem faschistischen Regime zu schaden, es wäre sonnenklar gewesen, wie der Kommunist Hametner darauf reagiert hätte: Er hätte ihm den Bruderkuß angeboten. Nun waren zehn Jahre vergangen. Es war auch nicht einfach, mit Hametner mehr als fünf Sätze zu sprechen. Sie hätten sich im Café treffen können, oder sie hätten über den Kurfürstendamm spazieren können oder sich in ein Kino setzen.»Nicht, weil ich fürchte, es belauscht einer, was wir reden«, wehrte Hametner solche Einladungen ab,»aber hinterher werden sie mich ausfragen, was wir geredet haben, und mit Ihnen, Candoris, werden sie vielleicht auch dieses Spiel spielen, und zuletzt können wir überhaupt nicht mehr miteinander reden. «Es war nicht nötig zu fragen, wer» sie «waren.»Es hat nichts mit Ihnen zu tun, glauben Sie mir. Außer mit Helen spreche ich grundsätzlich mit niemandem unter vier Augen. «Sie trafen sich beim Jour fixe im Springer Verlag. Dort kam es vor, daß Hametner Carl einen Witz erzählte und ins Lachen hinein, noch aus dem breiten lachenden Mund heraus, die eine oder andere Information weitergab, meistens nichts von Bedeutung. Carl hielt solche Vorsichtsmaßnahmen für kindisch und nicht angebracht.
Eines Abends aber formulierte Hametner überraschend deutlich:»Angenommen, Candoris, angenommen, ich wäre in der Lage, meinen englischen, französischen und auch amerikanischen Kollegen einen Ratschlag zu geben, in diesem Fall, in diesem Fall würde mein Ratschlag lauten: Sorgt euch nicht! Sie können es nicht.«
Helen litt nicht unter einem so ausgeprägten Verfolgungswahn wie ihr Mann; vorsichtig war sie trotzdem. Carl begleitete sie bei einem Spaziergang durch den Zoologischen Garten. Sie blickte sich andauernd um, schob einen Kinderwagen, in dem ihr und Eberhards zweites Kind, ein Mädchen, lag. Der Bub, inzwischen schon ein Volksschüler, ging neben ihnen her oder lief seinem Reifen nach. Die Kinder hatte sie mitgenommen, um dem Spaziergang einen harmlosen Anschein zu geben. Helen sprach es noch einmal aus — ohne» angenommen«, ohne Konjunktiv:
«Wir wissen, daß Sie Kontakte zu emigrierten Kollegen haben, Carl. Klären Sie diese bitte auf, daß Deutschland nicht in der Lage ist und für lange Zeit auch nicht in der Lage sein wird, Uran in gefährlichem Stil zu spalten. Eberhard wurde gebeten, den Kontakt zum Ausland herzustellen. Er geht davon aus, daß Sie auch mit dem englischen Geheimdienst in Verbindung stehen. Er und seine Kollegen befürchten, daß die Engländer mit Hilfe der Amerikaner Uranwaffen herstellen werden, eben weil sie meinen, Hitler sei bereits im Begriff, die Bombe zu bauen, und daß sie nicht davor zurückschrecken werden, diese neuen Waffen präventiv gegen Deutschland einzusetzen, aus Angst, Hitler werde ihnen sonst zuvorkommen. Was das bedeuten würde, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. «Im weiteren nannte sie Details, zeigte sich in einem erstaunlichen Maße kompetent und zitierte Aussagen von Kollegen ihres Mannes, die ihren Bericht überaus glaubhaft erscheinen ließen.
«Von wem wurde Eberhard gebeten, mit mir Kontakt aufzunehmen?«fragte Carl.
«Von den Kollegen, die guten Willens sind.«
«Und nun«, erzählte mir Carl,»nun fand abermals eine Umpolung statt. In mir. In meinem Kopf, weißt du. Wie damals, als mir Hametner geraten hatte, an eine amerikanische Universität zu gehen. Als er gesagt hatte: ›Candoris, seien wir ehrlich, Sie haben gar keine andere Wahl.‹ Und ich deshalb, nur deshalb, nur um — vor allem mir selbst — zu beweisen, daß ich eben doch eine Wahl hatte, Amerika abgesagt und mit meiner Professorin nach Moskau gefahren war. Nun dachte ich: Das Gegenteil ist wahr! Nimm einfach von allem, was er und Helen dir gesagt haben, das Gegenteil! Der Ratschlag an Hametners englische, französische und amerikanische Kollegen mußte also lauten: Sorgt euch! Sie können es! Sorgt euch in höchstem Maße! Sie können es sehr gut, sie sind nahe daran! Hametner ist übergelaufen, dachte ich. Nein, ein Nazi wird er nicht geworden sein, er nicht, dazu ist er zu intelligent; aber er tut bei ihnen mit. Und auch Helen tut bei ihnen mit. Das dachte ich. Und ich konnte ihn verstehen. Auf was alles hatte dieser Mann in seinem Leben verzichtet, nur wegen der Scheißpolitik! Keine Einladung an eine amerikanische Universität, keine seiner Qualifikation entsprechende Stelle in England, Gefängnis und Folter in Rußland, Gefängnis und Folter in Deutschland. Später — viel später, tausend Jahre später —, da war er ein angesehener Bürger der DDR, einflußreiches Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Ordinarius in Leipzig, Lenin-Preisträger, von Helen geschieden, verheiratet mit seiner Sekretärin, irgendwann in den siebziger Jahren erzählte er mir von den Verhören im Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße. Diese Fragen, die man ihm stellte! Sie sollten in eine Anthologie mit surrealistischen Texten aufgenommen werden. Die Beamten hatten ja nicht die geringste Ahnung, was sie einen Kernphysiker fragen sollten, sie hätten aus seinen Antworten nicht erkennen können, was von Bedeutung und geheim war und was belanglos. Es gibt eine verblüffend einfache Methode, doch zum erwünschten Ergebnis zu kommen. Man stellt ihm Fragen wie: ›Was ist Ihrer Meinung nach wichtiger — einen Telefonmast in Indien oder einen Telefonmast in Finnland aufzurichten?‹ Oder: ›Das Blau des Himmels kann bleiben, habe ich recht?‹ Oder: ›War Ostern in diesem Jahr eine Berühmtheit?‹ Und egal, was man antwortet, immer folgt: ›Ich wiederhole: War Ostern in diesem Jahr eine Berühmtheit?‹ Und so weiter. Es dauert gar nicht lange, und man gibt alles preis, was man für ein Geheimnis hält, und mehr wollten die Beamten ja gar nicht. — Mensch, Hametner hatte zwei Kinder und eine englische Frau! Helen hatte ihre Staatsbürgerschaft nach der Heirat behalten. Alle englischen Staatsbürger, die sich nach dem 1. September 1939 im Deutschen Reich aufhielten, wurden in Gewahrsam genommen; Helen durfte im Zoologischen Garten spazierengehen. Warum? Hametner hatte eine gutbezahlte Stelle an einem mit staatlichen Mitteln reichlich ausgestattetem Institut. Ein ehemaliger Kommunist! Man ließ ihm seine Familie, man gab ihm Gelegenheit, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Man sicherte seinen Kindern eine anständige Ausbildung zu. Er wurde unter Beobachtung gehalten, gut; er war nicht irgendein Linker gewesen, das darfst du nicht vergessen, er war aktives Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Stalin brachte die Kommunisten um, Hitler sperrte sie in Konzentrationslager, die Engländer und die Amerikaner ließen sie nicht herein, oder wenn doch, hielt man sie von den guten Jobs fern. Verrat? Wohl eher eine tragische Verstrickung aufgrund der Umstände. Und für die Umstände, nein, für die konnte man Hametner gewiß nicht zur Verantwortung ziehen, er hatte unter ihnen gelitten wie keiner von uns. Für seine Familie und sein Leben aber hatte er die Verantwortung zu tragen, er allein. ›Hametner, tritt vor: Was hast du aus deinem Leben gemacht?‹ ›Ich bin Kommunist gewesen und habe deshalb nichts machen können, aber meine Frau und meinen Sohn und meine Tochter habe ich durch meine Sturheit ins Unglück gestürzt.‹ So eine Bilanz sieht nicht gut aus, verdammt, nein, wirklich nicht. Also hatte er sich anders entschieden. Das war meine Meinung. — Diese Meinung war falsch.«
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