Sobald sich mein Vater entschlossen hatte, nur dieses eine Stück zu präsentieren, meinte er, Fehler und Schwächen daran zu entdecken. Er begann zu»überarbeiten«. Und ließ sich nicht beraten. Von niemandem. Die Chorproben wurden immer seltener, weil der Chorleiter oft keine Zeit hatte; die Zusammenarbeit mit Walfried An der Gassen kam völlig zum Stillstand — es gebe nichts mehr zu besprechen, war die Begründung meines Vaters. Die Korrekturen an seinem Prototyp waren vielfältig. Zunächst mischte er unter die Chorstellen das» Original«, nämlich den aus seinem Zusammenhang gelösten Satzfetzen des Steuerberaters. Der Chor war aber viel länger als der Satz, also vervielfältigte er den Satz und baute aus den Kopien eine Schleife, verdoppelte und verdreifachte diese Schleife schließlich sogar und breitete sie zu einer Art Soundteppich aus. Um dem Ganzen Körper zu geben, mischte er den Satz, nachdem er das Band auf ein Viertel seiner Geschwindigkeit heruntergefahren hatte, darüber; der Satz war nun zwar nicht mehr zu verstehen, so langsam war er, aber in der Funktion des Basses war er genau richtig. Zum Baß gehört — jedenfalls im Jazz — kontrapunktisch das Hi-Hat beim Schlagzeug, das den Rhythmus erzeugenden Baßtönen die Begrenzung liefert. Um diesen Effekt zu erzielen, vervierfachte er die Geschwindigkeit des Bandes — der Satz wurde zu einem stakkatoartigen Zwitschern und war ebenfalls nicht mehr zu verstehen —, und plazierte ihn als Schleife im Stereo sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, so daß er zusammen mit dem Baß in der Mitte und der unbehandelten O-Ton-Schleife als Teppich darüber ein stabiles Dreieck bildete. In diesen Rahmen setzte er den Chor — nachdem er auch an ihm einige» Verbesserungen «vorgenommen hatte.
Mit An der Gassen zerstritt er sich schließlich, weil der ihm zu anmaßend gegenübertrat. Er werde, sagte mein Vater, sein Musikstück in Darmstadt präsentieren; aber vorher werde es niemand zu hören kriegen. Niemand. Auch der Herr An der Gassen mußte einsehen, daß die Sturheit meines Vaters nicht zu brechen war. Er kannte ja die erste Fassung des Stücks und wird sich gedacht haben, allzuviel würde sich daran ohnehin nicht ändern. — Er täuschte sich gewaltig!
Darmstadt, Darmstadt. — Die Zuhörer glaubten zuerst an ein technisches Gebrechen. Daß irgend etwas mit dem Abspielgerät nicht stimmte. Nach einer halben Minute schaltete Ernst Thomas das Gerät ab und versuchte, den Tonkopf zu säubern. Aber daran lag es nicht. Mein Vater sagte nichts, er saß auf seinem Sessel, die Arme hochverschränkt und starrte grimmig in die Wand.
Was die Zuhörer so irritierte, war das Rauschen. Das Rauschen überdeckte die Musik; die klang von weither, so als sei ein Sender nicht richtig eingestellt. Zuerst meinten einige der Zuhörer, sie würden zum Narren gehalten —»den Teilnehmern der Darmstädter Ferienkurse kann man alles aufbinden …«; daß mein Vater und Herr An der Gassen sich tatsächlich einbildeten, sie könnten Bandrauschen als Musik verkaufen, nach dem Motto: Früher benutzten die Komponisten den vorhandenen Vorrat an Tönen, um sie in einem Kunstwerk neu zu ordnen, hier schafft ein Kunstwerk neue Klänge pur aus dem verwendeten Material. Tatsächlich probierte der vor Scham und Ärger zitternde An der Gassen diese Argumentation — bis ihm mein Vater kurzerhand widersprach: Das Rauschen sei Folge des oftmaligen Kopierens, das sei alles. Woraufhin An der Gassen auf sein Referat verzichtete.
In der allgemeinen Ratlosigkeit meldete sich einer der Seminarteilnehmer zu Wort. Wenn man leider schon nicht hören könne, was Herr Lukasser komponiert habe, ob er wenigstens bereit wäre, quasi als Ersatz, etwas auf der Gitarre vorzuspielen. Dieser Herr war der einzige, der hier offensichtlich genug von Jazz verstand, um zu wissen, daß mein Vater in dieser Sparte — einst — ein großer Mann gewesen war. Alle waren erleichtert, niemand wünschte sich eine Blamage. Eine Gitarre und ein Verstärker standen in einem der Räume — das Schloß Kranichstein beherbergte während des Jahres verschiedene Musikschulklassen —, man holte die Sachen, und mein Vater, vernichtet und überrumpelt, saß auf einmal inmitten eines Halbkreises, hatte eine minderwertige E-Gitarre auf den Oberschenkeln, und weil ihm gar nichts einfiel, nichts Originelles, keine Kunst, spielte er das alte Zeug, das er vor fünfundzwanzig Jahren in Wien im Embassy-Club in der Siebensterngasse gespielt hatte: Cole Porters In the Still of the Night , Ellingtons In a Sentimental Mood , Tschaikowskys Pathétique im Arrangement von Django Reinhardt, einen Walzer von Lanner, auch den Cowboysong, den er bei seinen Auftritten im Strohkoffer extra für meine zukünftige Mutter in sein Programm genommen hatte; spielte, was er draufhatte, sogar ein, zwei Schrammeln, spielte, was seine Finger draufhatten. Die Seminarteilnehmer waren begeistert, sie wollten mehr hören, immer mehr, noch niemals zuvor sei ein solcher Meister auf seinem Instrument zu den Ferienkursen eingeladen worden!
Aber mein Vater war tieftraurig, und am nächsten Morgen, als alle noch schliefen, verließ er Darmstadt und fuhr nach Hause. Das Tonband, an dem er fast ein Jahr geschnitten und kopiert hatte, war in seinem Koffer, eingewickelt in die frischen Sachen, die gar nicht zum Einsatz gekommen waren. Niemand hatte sein Stück bis zu Ende angehört. Warum auch? Rauschen ist Rauschen ist Rauschen, und wer zehn Sekunden kennt, kennt alles. Er weinte in den Armen seiner Frau. Und fing wieder mit dem Trinken an.
Den Chor gab er auf. Er unterrichtete weiter an der Schule, aber es freute ihn nicht mehr. Ein Jahr lang wollte er von Musik nichts wissen. Er betrat die Scheune nicht, und wenn im Radio Musik gesendet wurde, schaltete er aus oder verließ den Raum. Eines Tages besorgte er sich neue Saiten, spannte sie auf die Gibson auf und spielte wieder. Und er fing auch wieder an, in der Scheune zu basteln. Vielleicht reichte der Mut nicht aus; ich denke, der Mut hatte sich in Whisky aufgelöst — darf ich das sagen? — , am 11. Februar 1976 nahm sich mein Vater, Georg Lukasser, das Leben.
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Elf Sekunden Film: Ein Mann in weißem Hemd taucht zwischen den Demonstranten auf. Als hätte er sich aus der Hocke gestreckt. Er hebt einen Arm, reckt ihn weit über seinen Kopf und die Köpfe der anderen. Er blickt in die Kamera. Sein Arm färbt sich dunkel. Sein Hemd färbt sich dunkel, vom aufgekrempelten Ärmel über die Schulter und an der Seite. Wer immer wir auch sein mögen, er winkt uns zu. Blut quillt aus Streifen, die sich von den Handwurzeln bis in die Achselhöhlen ziehen. Das Gesicht des Mannes versinkt wieder in der Menge, aus der es vor elf Sekunden aufgetaucht war.
Elf Sekunden Schwarzweiß aus einer Reportage des japanischen Fernsehens vom Juni 1960, die das deutsche Fernsehen übernommen und bearbeitet hat. Berichtet wird von einer Großkundgebung der Tokioter Studenten gegen den bevorstehenden Besuch des amerikanischen Präsidenten Eisenhower. Zu hören sind fauchende Sprechchöre, im Vordergrund die verzerrte Stimme eines Mannes aus einem Lautsprecher. Darüber der deutsche Kommentar: Die Lautsprecherstimme, so heißt es, warne den Ministerpräsidenten, den Sicherheitsvertrag mit den USA zu verlängern. Die Kamera ist über den Köpfen der Menge positioniert, vermutlich auf dem Rednerpodium, sie hält starr auf ein engbegrenztes Feld. Es läßt sich nicht abschätzen, wie viele Menschen hier versammelt sind. Wenn man allerdings weiß, daß es fast eine halbe Million war, urteilte Carl, liege der Verdacht nahe, daß die Reporter angehalten waren, die Sache herunterzuspielen. Der Mann hatte sich während der Kundgebung mit einer Rasierklinge beide Arme der Länge nach aufgeschnitten. Als die Sanitäter zu ihm durchgedrungen waren, lebte er nicht mehr. Der deutsche Kommentator sprach von einem Selbstmord aus politischen Motiven, bei dem Mann handle es sich um einen» nationalistischen Kamikaze«.
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