Suka lag auf der Veranda. Sie war tot. Mund und Nase waren blutverschmiert, wo das linke Auge gewesen war, klaffte ein Loch. Zukrowski hatte ihr in den Kopf geschossen und den Kadaver vor mein Haus geworfen.
Ich holte das Gewehr. Ich wollte ihm die Mündung gegen die Stirn hämmern, bis dort auch so ein schwarzes Loch war. Sollte sich bei dieser Gelegenheit ein Schuß lösen, dann hätte sich bei dieser Gelegenheit halt ein Schuß gelöst. Als ich sein elendes Haus vor mir sah, schlug ich mit der Faust auf die Hupe. Der Jeep schlitterte über den Hof und stellte sich quer. Ich sprang heraus und rief, er soll aus dem Haus kommen. Die Tür flog auf, und ich war es, der die Mündung eines Gewehrs an der Stirn hatte. Zukrowski war bleich wie Mehl, er hatte das Gewehr im Anschlag, drückte sein Gesicht gegen den Kolben und stieß mit dem Lauf gegen meine Stirn, wie ich es bei seiner Stirn hatte tun wollen, dabei schrie er mit sich überschlagender Stimme.
«Spierdalaj, ty chuju! Zajebie cie na smierc! Scheißemann! Nazi! Scheiße! Fuck you! Kurwa! Fuckscheißemann! Chuj! You are a loser! You are a dickless donkey nazi! Wypierdalaj, bo odstrzele ci ten glupi leb! Ich ziel auf deinen Kopf, Nazi!«
Ich rannte zum Jeep zurück, drehte mich im Laufen immer wieder um, warf das Gewehr durch das offene Fenster ins Wageninnere. Er marschierte breitbeinig hinter mir her, ohne Eile, das Gewehr immer noch an der Wange. Und dann schoß er! Ja, er hat tatsächlich geschossen, dieses Arschloch! Das Projektil durchschlug meine Windschutzscheibe. Ich duckte mich hinter die Tür des Jeeps und kroch über den Beifahrersitz ans Lenkrad. Er fing wieder an zu brüllen. Ich sah ihn durch die Windschutzscheibe, das Gewehr lang vor ihm im Dreck, er stützte die Hände auf die Knie und schrie aus Leibeskräften und beugte sich vor, als würde er sich gleich übergeben, und was ich hörte, war weder Englisch noch Deutsch und wahrscheinlich auch nicht Polnisch, sondern ein absurder Kauderwelsch, den ihm pur sein Jähzorn eingab. Ich zitterte so sehr, daß ich Mühe hatte, den Rückwärtsgang einzulegen. Ich trat das Gaspedal voll durch. Der Jeep nahm einen Satz nach hinten, ich schlug das Lenkrad ein, die Reifen drehten durch, im Rückspiegel sah ich, daß Zukrowski das Gewehr wieder auf mich anlegte, sein zweiter Schuß knallte in den rechten vorderen Kotflügel, ich rutschte im Sitz nach unten, haute den ersten Gang hinein und raste davon, ohne etwas zu sehen.
An dieser Stelle war die Geschichte meines tintendunklen Amerikas an ihr Ende gekommen.
«Weiß ich nun alles über dich?«fragte Carl
«Ich bin durch«, sagte ich.
9
Der alte, gottbärtige Hofrat Mader fällt mir ein, von dem mir Carl erzählt hatte; der wenige Wochen nach Ende des Krieges im halbzerbombten Café Mozart in Wien darüber spekulierte, ob sein biblisches Ebenbild sich unter Umständen und in höchst besonderen Fällen vielleicht dazu überreden ließe (zum Beispiel von Präsident Truman, dem Entfacher des höllischen Feuers im Himmel über Hiroshima und Nagasaki), die Zeit zurückzudrehen, um uns Kreaturen eine zweite Chance zu geben. Carl hatte sich lustig über ihn gemacht. Er hat sich am Beispiel des Hofrat Mader über das schlechte Gewissen im allgemeinen lustig gemacht, dem ja bekanntlich die Tendenz innewohnt, dunkler zu malen als die Wirklichkeit, und in dessen atomarem Kern die Sehnsucht steckt, die Zeit außer Betrieb zu setzen: Würde der liebe Gott das Weltgeschehen tatsächlich zurückdrehen, wäre es dann nicht zielführend, wenn wir dies auch merkten? Damit wir wenigstens beim zweiten Versuch die richtigen Scheiben treffen?» Was für einen Sinn«, habe der Hofrat in die verständnislose neue Luft hinein gefragt,»hätte sonst der ganze Aufwand?«Und als wäre er vom lieben Gott persönlich eingeladen, seine Argumente vorzutragen, habe er mit ausgebreiteten Armen dargelegt:»Als Wilhelm II. das alles andere als ernstgemeinte Rücktrittsgesuch Bismarcks annahm, hatte er seine Gründe gehabt. Die mögen noch so dämlich und wichtigtuerisch gewesen sein, es waren immerhin Gründe. Warum sollten dieselben Gründe nicht abermals den Ausschlag geben, wenn der Kaiser bei einem zweiten Anlauf kein besseres Wissen mitbrächte, wenn ihm nicht höheren Orts eingehämmert worden wäre, welche Auswirkungen sein Entschluß haben wird?«— Das Kreuz des Abendlandes ist das schlechte Gewissen. Vor sechsundzwanzig Jahren ist mein Vater gestorben, vor zwanzig Jahren Margarida, vor achtzehn Jahren Maybelle; vor sechzehn Jahren hat sich meine Mutter aus der Welt verabschiedet; vor einem Jahr ist Carl gestorben, wenige Wochen zuvor hat David versucht, sich das Leben zu nehmen.
Heute habe ich meine Wohnung geputzt — als schabte ich ihr eine alte Haut ab. Weil ich Evelyn am Telefon mitgeteilt hatte, es sei zu Ende mit uns, deshalb habe ich die Wohnung geputzt. Sie sagte:»Es ist dir ernst, stimmt’s?«Ich sagte:»Natürlich ist es mir ernst. «Die Matratzen habe ich über die Treppe zu meinem Arbeitszimmer geschleppt und auf dem Dach in die Sonne gelegt, die Betten über das Geländer gehängt. Die Böden habe ich mit Seifenlauge gescheuert und mit Wachsmilch eingelassen. Die Fenster habe ich poliert, die Möbel in der Küche mit Essigwasser abgerieben. All die Gegenstände, die keinen anderen Zweck haben, als zu Markierungen der Erinnerung zu dienen, habe ich abgestaubt — darunter das Geschenk von Maybelle zu meinem dreiunddreißigsten Geburtstag. Es ist ein Buchschoner aus flaschengrünem Krokoleder mit Reißverschluß im Schnitt, geräumig genug, so daß auch größere Formate darin Platz haben, innen gefüttert mit Seide und versehen mit einem Fach für ein Notizbuch und einem schmalen Schlitz, in dem ein Bleistifthalter aus Bakelit mit einem Spitzer steckte, der mir leider verlorengegangen ist.
Seit einiger Zeit telefonieren Dagmar und ich wieder fast jede Nacht miteinander. Wir gliedern damit unser Alleinsein — das sie nicht und ich nicht mit Einsamkeit verwechselt haben möchten. Gestern nacht um eins wollte sie wissen, wer Maybelle Houston sei. Wie sie auf den Namen komme, fragte ich.
«Was denkst du!«spielte sie die Empörte.»Daß ich deine Bücher nicht lese? Wahrscheinlich habe ich nicht alle gelesen, aber dein erstes habe ich gelesen. Es ist einer gewissen Maybelle Houston gewidmet.«
Da habe ich auch ihr alles über Maybelle und mich erzählt.
Heute mittag rief sie an und sagte:»Wir sollten das nächtliche Telefonieren lassen. Es verdirbt mir den nächsten Tag, weil ich zuwenig Schlaf kriege, und es bringt nichts.«
Vor allem der Erinnerung zuliebe und weil ich doch wissen wollte, wie sich so ein Satz anfühlt, zitierte ich Maybelle und sagte:»You can’t do that to me!«
Noch etwas — nämlich, um diesen Teil abzurunden, bevor ich mit dem letzten beginne: Am 16. September 2001, ein halbes Jahr nach Carls Tod, es war ein Sonntag, rief nachts um zwölf — jawohl! — Chucky an. Ich weiß bis heute nicht, wie er zu meiner Nummer gekommen war, im Telefonbuch steht sie nicht. Auf dem Display konnte ich sehen, daß er, bevor ich nach Hause gekommen war, bereits sechzehnmal meine Nummer gewählt hatte. Ohne Begrüßungsfloskel sagte er, er habe mich im Fernsehen gesehen und müsse dringend mit mir sprechen. Genau sagte er:»Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.«»He«, sagte ich,»wir kennen uns doch! Chucky! Wir müssen doch nicht Sie zueinander sagen. «Das ignorierte er. Also sagte ich:»Worüber wollen Sie mit mir sprechen, Herr Rottmeier?«»Über die Sendung«, sagte er.»Alles weitere nicht am Telefon.«
Ich hatte an diesem Abend an einer Fernsehdiskussion des ORF teilgenommen. Es ging um Afghanistan, um einen eventuell geplanten Militäreinsatz der USA gegen das Regime der Taliban als Folge der Terroranschläge vom 11. September. Ein Oberst des österreichischen Bundesheeres war eingeladen, ein ruhiger, sympathischer Mann, mit dem ich am Ende der Sendung Visitenkarten tauschte; weiters ein Journalist, der seit vielen Jahren Afghanistan, Usbekistan, Tadschikistan, den Iran, Pakistan und Indien bereiste und Bücher darüber schrieb und der jede Wortmeldung mit» Nein «begann, aber nicht im Sinne eines Widerspruchs, sondern als wolle er sagen: Jetzt im Ernst; weiters eine Ärztin, die für Ärzte ohne Grenzen tätig war und gleich in ihrem Eingangsstatement klarstellte, daß sie es für möglich halte, daß George W. Bush eine Atombombe auf Kabul werfe, natürlich nicht aus militärischen Überlegungen, dort unten sei ja eh nichts mehr kaputtzumachen, sondern einer nationalen Befriedigung willen. Neben mir saß eine Friedensaktivistin — als solche wurde sie jedenfalls vom Moderator vorgestellt —, eine attraktive Frau um die Vierzig, die uns ermahnte, keine» Denkvariante auszuschließen«, auch nicht — nach dem Prinzip cui bono? — , daß die Passagiermaschinen am 11. September von Agenten der CIA im Auftrag der amerikanischen Regierung auf die Türme des World Trade Center und auf das Pentagon gelenkt worden seien. Ich war wohl eingeladen worden, damit nicht eine reine Fachleutedebatte stattfinde. Man hatte uns vor der Sendung gebeten, unsere Argumente (wofür oder wogegen eigentlich?) in einem Kernsatz zusammenzufassen. Meiner lautete:»Selbstmördern kann man mit dem Tod nicht drohen.«(Als ich meinen Satz anbrachte, griff die Friedensaktivistin neben mir nach meiner Hand und drückte sie. Ich tat das gleiche mit ihrer Hand bei entsprechender Gelegenheit; ich spürte ihren Daumen über meinen Handrücken streichen, und das hatte mit Gewißheit nichts mit unseren Argumenten zu tun. Nach der Sendung fuhr ich gemeinsam mit ihr im Taxi in die Stadt, und wir setzten uns in der Bar des Imperial in eine Nische und tranken etwas, sie Rotwein, ich Jasmintee. Sie hieß Sabine und war verheiratet. Sie gab mir ihre, ich gab ihr meine Handynummer, und wir versprachen einander, anzurufen. Beim Taxistand vor dem Imperial küßten wir uns, öffneten dabei die Lippen, sie berührte meine und ich berührte ihre Zunge, ein schneidender Wind blies, der in unseren hohlen Mündern leise aufheulte. — Sie hat mich nicht, ich habe sie nicht angerufen.)
Читать дальше