Am vierten Tag schließlich war sie auch in ihrem Herzen mein Hund. Da war sie es in meinem schon lange.
Sie hatte tatsächlich etwas von einer Wölfin. Die spitze kurze Schnauze zum Beispiel. Die Stirn allerdings war nicht so flach wie bei ihrer wilden Schwester. Suka, fand ich, hatte eine Denkerstirn. Akkurat in der Mitte zwischen den Augen standen zwei Denkerfalten, an deren Außenwölbungen sich das Fell, an dieser Stelle sattbraun, aufspreizte und die weiße Haut hindurchschimmern ließ. Wenn sie am Boden lag, den Kopf auf ihren Pfoten, und zu mir emporblickte, bildete sich bisweilen eine dritte Falte, und die verlief horizontal, legte sich als ein Querbalken über die Denkerfalten, was sie nun nicht mehr wie eine Philosophin, sondern wie eine arme Sünderin aussehen ließ. Allerdings fand ich bald heraus, daß dieser Blick weder auf Reue noch auf Demut deutete, sondern eher auf eine Art Geistesabwesenheit, oder sollte ich besser sagen, auf eine Art Nicht-bei-mir-Sein, denn ihre Augen waren nicht auf mich gerichtet, wie ich gemeint hatte, sondern ihr Blick ging durch mich hindurch, eigentlich ein Aus-der-Welt-Sein, so als hinge sie Erinnerungen und Traumbildern nach, die tatsächlich bis in die Wolfszeit zurückreichten; in solchen Momenten reagierte sie nicht auf meine Stimme, erhob sich nicht, wenn ich von meinem Sessel aufstand — was sie sonst immer tat —, wandte nicht einmal den Kopf, wenn ich die Tür nach draußen öffnete — was sie sonst immer jubelnd als Auftakt zu einer Wanderung, als Auftakt zur wilden Jagd, interpretierte; auch wenn ich vielleicht doch nur die fünfzig Schritte den Hang hinunter zum Brunnen ging.
Suka war eine längst nicht mehr nachvollziehbare Mischung, eine Bastardin in der x-ten Generation; als wäre alles, was je Hund gewesen war, in ihre Gene eingeerbt worden. Wenn sie neben mir stand, konnte ich gerade meine Hand auf ihren Kopf legen. Ihr Fell war zwei-, genaugenommen dreifarbig, nämlich über den Rücken schwarz, an Bauch und Brust weiß, am Kopf aber, ebenso an den Pfoten und gegen die Spitze des Schwanzes hin breiteten sich braune Inseln aus, leopardenfleckig, von café noir bis café au lait . Der langbehaarte Schwanz ringelte sich, wenn sie straff stand, unedel nach oben; dies lasse (habe ich, wenn ich mich recht erinnere, bei Jack London gelesen) auf besondere Intelligenz schließen. Sie hatte warme, gütige, teilhabende Augen, etwas glubschig vielleicht, was jemanden, der sie nicht kannte — auch mich anfänglich —, zu dem Irrtum verleiten konnte, sie sei drollig. Das war sie nicht. Dazu fletschte sie zu oft und zu gern die Zähne; auch gegen mich, das bereitete mir am Beginn unserer Freundschaft Sorgen; bald aber erkannte ich, daß dies nicht Beißlust, sondern lediglich eine Marotte war. So gern sie auf unseren Wanderungen herumtollte, jeder Fährte begeistert nachschnüffelte und hinter Tieren aller Art herjagte (nicht hinter Kojoten, vor denen hatte sie einen heiligen Respekt; nicht Angst, eher so etwas wie Ehrfurcht vor der Verwandtschaft), am Spiel, also der Imitation der Jagd, hatte sie wenig Interesse. Wenn ich den Ball warf, den ich nur zu diesem Zweck besorgt hatte, trottete sie ihm zwar nach, klaubte ihn auch mit den Zähnen auf, stand aber ziemlich ratlos in der Welt und blickte zu mir herüber und ließ sich durch mein Zurufen nicht überreden, ihn mir zu bringen, damit ich das Spiel fortsetze; schließlich spuckte sie ihn aus. Öfter als dreimal hintereinander ließ sie sich zu diesem Zeitvertreib nicht bewegen; demonstrativ hockte sie sich hin und sah zu, wie der Ball an ihr vorüberrollte, und nicht ein Muskel in ihrem Leib zuckte. Es war mir nicht möglich, ihr irgend etwas beizubringen. Sie setzte sich nicht, wenn ich» Sitz!«sagte, sie legte sich nicht, wenn ich» Platz!«sagte, sie blieb nicht an meiner Seite, wenn ich es — sie aber nicht — für notwendig hielt. Das mochte ich an ihr, und zuletzt erteilte ich diese Befehle nur noch, um mich daran zu erfreuen, wie wenig sie sich darum scherte. Der Drang nach Selbstauflösung in Kameradschaft war ihrem Wesen völlig fremd. Nicht aber der Drang, mir ihre Empfindungen zu zeigen. Oft war mir nicht klar, was diese Empfindungen ausgelöst hatte. Ich gewöhnte mir schließlich doch an, in ihrer Gegenwart vor mich hin zu reden — nicht mit ihr sprach ich, das nicht; was ich direkt an sie richtete, blieb einsilbig, höchstens zweisilbig und ging weiterhin nur wenig über die Nennung ihres Namens hinaus; aber ich gewöhnte mir an, wenn ich an der Schreibmaschine saß, manche Formulierung laut vor mich hin zu rezitieren oder nachzuplappern, welche Handgriffe ich gerade vollführte, oder schleifenartig zu wiederholen, was ich als nächstes vorhatte. Ich weiß nicht, ob ich zu dieser Art von Selbstgesprächen auch ohne Hund irgendwann Zuflucht genommen hätte — ob das vielleicht jeder tut, der sechs Tage in der Woche keinen Menschen sieht, außer am Morgen für drei Minuten sein eigenes Spiegelbild, und keinen Menschen hört, nicht einmal aus einem Transistorradio. Suka hielt sich die meiste Zeit in meiner unmittelbaren Nähe auf. Gern lagerte sie mit ihrem Bauch auf einem meiner Füße, was auch ich sehr gern mochte. Die Wärme, die von ihrem Körper auf mich überging, beruhigte mich mehr, als es jedes Medikament vermocht hätte. Aber sie nahm keine Notiz von dem, was ich vor mich hin redete, jedenfalls ließ nichts aus ihrem Verhalten darauf schließen, es wäre anders. Es kam vor, daß sie plötzlich die Ohren aufstellte und in meine Richtung schaute, als hätte ich nach ihr gerufen, was ich aber nicht getan hatte; oder sie sprang auf, wedelte so heftig mit dem Schwanz, daß ihr Hinterleib wackelte; oder sie schnellte gar, wie vom Boden weggesprengt, auf meinen Schoß und führte sich auf, als wolle sie sich in meine Brust hineinwühlen, wobei aus der ihren ein warmes, wehmütiges, mehr katzen- als hundehaftes Knurren aufstieg, gegen das sie nur anzukommen meinte, indem sie sich davon frei bellte; und dieses Bellen hatte etwas eindeutig Empörtes an sich, etwas Ungeduldiges, Zorniges, als wäre sie selbst von diesem Liebesaufwallen überrascht und mahne sich, wieder die Contenance zu gewinnen. Irgend etwas in ihr war wohl der Auffassung, allzuviel von diesem Gefühl sei ungesund; sie sprang von meinem Schoß, verkroch sich ans andere Ende der Veranda oder zog eine Runde um das Haus. Ich finde kein anderes Wort: Sie war verlegen. Eine Vermenschlichung von tierischen Verhaltensweisen ist Illustriertenkitsch, das weiß ich auch, aber wenn so etwas mit einem geschieht, kann man, wenigstens im ersten Moment, nicht anders, als die Palette der eigenen Empfindungen auf die Kreatur zu übertragen und Vergleiche anzustellen; abgesehen davon, daß unsere Sprache ausschließlich menschlichen Bezug kennt, wir also korrekterweise über außermenschliche Natur nur schweigen dürften.
Der Analogieschluß von mir auf sie stellte sich oft genug als Irrtum heraus. Gähnen zum Beispiel; eine Beobachtung, die mich beschäftigte — ich will es erklären: Wir brachen für gewöhnlich gegen Mittag auf. Wenn ich in meine Schuhe schlüpfte und die langen Bänder zuschnürte, führte sie einen Freudentanz auf — übrigens nur mittags reagierte sie so; wenn ich morgens die Schuhe anzog, blieb sie gleichgültig, sie begleitete mich nur selten hinunter zum Brunnen; abends war es ihr ein Zeichen, sich zu erheben und, ohne einen Laut von sich zu geben, mir voraus den Hang hinaufzugehen —; mittags aber bellte meine Suka, die mit ihrer Stimme so geizte, trat mit ihren zu groß geratenen Pfoten gegen meine Schuhe, versetzte mir, der ich mich über die Schuhe beugte, mit ihrem Schädel einen Kinnhaken, schnappte mit den Zähnen nach den Schnürsenkeln, sprang in die Luft, drehte sich dabei, was übrigens nicht elegant aussah, sondern so, als wäre sie ziemlich lieblos geworfen worden. Suka war eine begeisterte Geherin; manchmal waren wir sechs Stunden unterwegs, und weil ich doch recht langsam dahinschritt, lief sie dauernd vor und zurück, absolvierte also alles in allem sicher die doppelte Wegstrecke; Anzeichen von Müdigkeit aber hatte ich nie an ihr bemerkt. Im Fall daß ich allerdings — und darauf will ich hinaus — unseren Spaziergang, weil ich Schmerzen hatte oder weil ich doch lieber noch eine Seite oder zwei schreiben wollte, auf nur eine halbe Stunde reduzierte, dann erschien sie mir, wenn wir wieder zu Hause ankamen, erschöpft und tatsächlich hundemüde, sie ließ den Kopf hängen — und: gähnte. Gähnen konnte dieses Wesen! Sie stellte sich breitbeinig vor mich hin, streckte die Vorderpfoten weit von sich, reckte das Hinterteil in die Luft, ging vorne nieder und sperrte das Maul so weit auf, daß ich ihr über den rosagerippten Gaumen bis weit in den Rachen hineinschauen konnte. Sie fing an zu zittern, erst zitterte der Schwanz, dann zitterten die Hinterbeine, die Flanken, die Schulterblätter, am Ende die Vorderläufe, sie stellte ihre Pfoten auf, zeigte die Krallen, als würde der Überschuß dieser bebenden Kraft über sie in die Luft abgeleitet. Dabei gab sie einen singenden Laut von sich, ähnlich dem, den sie bei Vollmond gegen den Himmel schickte. Und den Rest des Tages war sie schlecht gelaunt; das heißt, sie mißachtete mich, gab sich ignorant gegenüber allem. Als wollte sie mich dafür bestrafen, daß ich sie um ihre geliebte Wanderung geprellt hatte. Mit der Zeit kam ich allerdings zu der Auffassung, daß meine Interpretation falsch war. Suka war weder müde, noch wollte sie mich mit ihrem Gähnen provozieren, noch war sie schlecht gelaunt. Das Gähnen aus Müdigkeit war ein anderes, ein völlig anderes; sie benötigte dafür keine besondere Körperhaltung, sie gähnte im Liegen oder im Sitzen oder im Stehen, wie wir es auch tun, und danach schlief sie meistens ein. Auch ihre schlechte Laune — natürlich hatte sie manchmal schlechte Laune — äußerte sich anders, nämlich aggressiv und bissig — nicht daß sie mich verletzt hätte, aber ein Loch in mein Hosenbein gebissen hat sie mir bei solcher Gelegenheit schon. Was die Gründe für ihre schlechte Laune waren, ist schwer zu sagen; manchmal war es ihre Reaktion auf meine schlechte Laune, manchmal kam es mir so vor, als wäre sie frustriert, weil sie bei der Jagd nach irgendeinem kleinen Tier erfolglos geblieben war, wobei galt: je kleiner das Tier, desto bitterer die Niederlage; oder aber es gab keinen ersichtlichen Grund für ihre Allüre, es ging ihr eben alles auf die Nerven — warum nicht manchmal auch einem Tier? Der Freudentanz vor unseren Spaziergängen aber, so sehr er mich rührte, ich glaubte, er diente doch in erster Linie dazu, Adrenalin in die Muskeln zu pumpen, also Energie aufzutanken für den langen Weg. Das Gähnen nach einem zu früh abgebrochenen Spaziergang war dagegen so etwas wie Energieabfuhr. Und ich vermutete, auch ihre plötzlichen stürmischen Liebesbezeugungen waren nichts weiter als Energieabfuhr und wurden weder von meinen Worten noch von deren Klang, noch von irgendwelchen anderen Äußerungen meinerseits ausgelöst. Dieser Gedanke ließ mich ziemlich jämmerlich zurück, das muß ich zugeben — als einen, der nicht geliebt, auf den bloß reagiert wird. Allerdings hielt sich diese mechanistisch-materialistische Einschätzung des Tierischen nicht sehr lange in mir. Ich gab sie bald wieder auf und war mir dabei durchaus bewußt, daß ich mich vom Intellektuellen zum Schamanen wandelte, daß ich mich vom Klaren weg zum Dumpfen hin bewegte, und zwar kriechend, verschämt vorbei am hellgetünchten Tor der Aufklärung, hin zu den roten Höhleneingängen der Magie.
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