«Ich wohne im Sechzehnten«, sagte Chucky.»Treffen wir uns zum Mittagessen im Café Vorstadt, Ecke Herbststraße Haberlgasse. Um zwölf.«
«Das will ich nicht«, sagte ich.»Ich werde selbstverständlich nicht kommen.«
Eine Weile war es still. Schließlich fragte er:»Gibt es eine palästinensische Botschaft in Wien?«
«Herr Rottmeier«, sagte ich,»vor zweiundzwanzig Jahren in Frankfurt haben Sie mir einfach keine andere Wahl gelassen, als Sie zum Narren zu halten. Ich bitte Sie, dieses Spiel nicht noch einmal mit mir zu spielen. Damit auch ich nicht noch einmal so ein Spiel mit Ihnen spielen muß.«
Wieder ignorierte er, was ich gesagt hatte.»Sie sind ein bekannter Schriftsteller, man hat Sie im Fernsehen gesehen. Ich möchte nur, daß Sie mich zur palästinensischen Botschaft bringen. Alles weitere ist nicht Ihr Problem.«
Ich legte auf. — Was auch immer folgen wird, dachte ich, den weitaus größeren Teil meines Lebens werde ich in jedem Fall nach meinem Willen und meinem Plan geführt haben, auch wenn beide meistens doch nur aus purer Wirrsal bestanden hatten.
Am Anfang meiner Unternehmung dachte ich noch, es wird sich ein richtiger Zeitpunkt finden, um vom Tod meines Vaters zu erzählen. Aber diese Tragödie läßt sich in keine Dramaturgie zwängen. Ich kann das nicht. Sie sträubt sich gegen einen Zusammenhang. Sie widersetzt sich gar der Chronologie. Ich will nun hier von ihr berichten, und so als wäre sie eine Geschichte für sich. Und das ist sie ja auch.
Womit beginnen? Und wann? — In San Diego 1964.
Während der Tournee mit Chet Baker war mein Vater im Süden von Kalifornien dem Komponisten Harry Partch begegnet, und der hatte ihn zu sich in sein Haus eingeladen, wo sich die beiden einen Tag lang und bis tief in die Nacht hinein über Musik unterhielten. Chet Baker und die übrigen Mitglieder der Band, Joel Jahoda, Chris Turner und Marcus Kreil, hatten ursprünglich mitgehen wollen, waren aber im Suff abgestürzt oder hatten einfach Schiß gekriegt, weil Partch im Ruf stand, alle anzuschnorren, die sein Haus betraten. Das Gegenteil war der Fall, Mr. Partch war ein liebenswürdiger, aufmerksamer Gastgeber, der Rücksicht darauf nahm, daß mein Vater keinen Alkohol trank. Er zeigte ihm die Instrumente, die er selbst gebaut hatte, weil er auf den herkömmlichen Instrumenten seine Mikrotonleiter aus dreiundvierzig Intervallen per Oktave nicht bedienen und vor allem nicht die Klänge erzeugen konnte, die er in seinem Kopf hörte. Er spielte ihm vom Tonband einige seiner Kompositionen vor — The Wayward, The Bewitched, Delusion of the Fury … Mein Vater war erschüttert. Er war wirklich erschüttert. Ihm war zumute, als hätte dieser Mann, der viele Jahre als Landstreicher durch die USA gezogen war, ihm klipp und klar bewiesen, daß alles, was er bisher gemacht habe,»Scheiße «sei. Aber gleichzeitig habe er zum erstenmal in seinem Leben die Musik gehört, nach der er immer gesucht habe. Partch hatte ihm erklärt, daß die Inspiration zu vielen seiner Stücke beliebige Gespräche gewesen seien, die er zufällig mit angehört habe. Er sei von den konventionellen Tonleitern, auch der dodekaphonischen, abgekommen, als er versucht habe, die Melodik von Sprechstimmen wiederzugeben. Der Ursprung aller Musik sei die menschliche Stimme; jedes Instrument ahme einen Aspekt der menschlichen Stimme nach, und die der menschlichen Stimme ureigene Ausdrucksform sei das Gespräch. Der Gesang sei bereits eine Abstraktion, ein Filtrat; auch der Gesang ahme die gesprochene Sprache nach, vergrößere, übersteigere und isoliere die jedem natürlichen Sprechen innewohnenden Melodien — nichts anderes leiste der Gesang. Das Gespräch, je näher am alltäglichen Verkehr, um so besser, sei die Urmusik; ihr spüre er in seinen Kompositionen nach, erklärte Harry Partch meinem Vater. Die Melodien eines Gesprächs seien immer authentisch, immer originell, mögen der Inhalt belanglos oder die Sprecher Lügner sein — in diesen Fällen hörten wir eben die Melodien der Belanglosigkeit und der Lüge.
Als mein Vater später am Gymnasium unterrichtete und soviel Freude an der Leitung des Chores hatte, kam ihm der Gedanke, mit Harry Partchs Theorien zu experimentieren; zunächst gar nicht mit der Absicht, daß dabei Musik herauskomme, er hatte einfach» Lust zu basteln«— Lusthaben bedeutete bei meinem Vater immer Zwang. Er besorgte sich ein Aufnahmegerät und ließ es bei den Proben mitlaufen. Aber nicht der Gesang interessierte ihn, sondern was die Chormitglieder in den Pausen miteinander redeten. Er vermutete nämlich, daß Menschen, die sich zusammenfanden, um zu singen, in den Gesangspausen anders redeten als üblich, nämlich» irgendwie musikalischer«; daß die jedem natürlichen Sprechen innewohnenden Melodien in solchen Momenten» aufschwellen «und somit leichter zu erkennen und aus dem Zusammenhang zu lösen seien. Stunden über Stunden saß er zwischen dem Unterricht am Gymnasium und den abendlichen Chorproben in der Scheune, die er mit Hilfe einiger Chormitglieder zu einem Studio ausgebaut hatte, und hörte die Bänder ab auf der Suche nach einer» Urmelodie«.
Das erste Stück seiner» neuen Musik «trug den Titel:
Ich kann mir genausogut vorstellen, ich fahr von jetzt an mit dem Bus in die Stadt, weil, was soll ich mich durch das Churertor drücken und dann find ich eh keinen Parkplatz am Marktplatz.
Und das war bereits der gesamte Text des» Librettos«. Der Satz war von einem Mann gesprochen worden, der in Nofels wohnte und in der Stadt in einer Steuerberaterfirma arbeitete und im Chor eine der Baritonstimmen sang. Mein Vater hatte den Gesprächsfetzen aus gut zwölf Stunden Tonband herausgepickt. (Der Mann hatte den Satz zu meinem Vater gesagt und aus diesem Grund auf hochdeutsch; er wußte ja, daß mein Vater Schwierigkeiten hatte, den Vorarlberger Dialekt zu verstehen.) Er analysierte die Melodie dieses Satzes, entwickelte aus der Melodie eine zweite, dritte und vierte Stimme und setzte sie in Noten für den Chor. Die herkömmliche Notation ließ sich nur unzureichend verwenden; also zeichnete er die Melodiebögen mit verschiedenen Farbstiften auf Papier und sagte den Sängern, sie sollten sich nicht um Tonhöhe oder Takt kümmern, sondern jede Gruppe, die eine Stimme singe, solle selbst herausfinden, welche Tonhöhe und welcher Rhythmus für sie die geeigneten seien; Gespräche zwischen verschiedenen Leuten würden ja auch nicht vorher» gestimmt«, im Sinne von: heute reden wir in A-Dur oder in c-moll. Er erweiterte sein Equipment, indem er für wenig Geld vom Rundfunk drei ausgediente, aber intakte Aufnahmemaschinen erwarb und dazu ein Mischpult; so konnte er die verschiedenen Stimmen, die von jeweils fünf bis sechs Sängern und Sängerinnen erarbeitet worden waren, in einem Verhältnis zusammenbringen, wie es ihm behagte. Das Ergebnis war die Vorlage für das endgültige Stück, das schließlich mit dem Chor einstudiert wurde.
Es war eine Sensation. Zunächst nach innen. Der Chor und sein Leiter erlebten einen Motivationsschub, der dazu führte, daß eine Zeitlang nicht nur einmal in der Woche, sondern jeden Abend geprobt wurde. Die Partner mancher Chormitglieder protestierten; mein Vater lud sie ein, ebenfalls mitzusingen. Es sprach sich herum, daß in dem Dorf Nofels eine aufregende Musik erfunden werde; täglich riefen Leute an oder kamen vorbei, sie wollten mitmachen. Bald trafen sich in unserer Scheune ein- bis zweimal in der Woche fünfzig bis sechzig Männer und Frauen. Und mein Vater komponierte —»bastelte«— weiter, schürfte weiter Musik aus Gerede und verfeinerte das Verfahren, das gewonnene Erz zur Vielstimmigkeit zu veredeln.
Es gelang ihm — unterstützt durch meine Mutter —, den Leiter der Arbeiterkammer zu überreden, den Saal für eine Vorführung zur Verfügung zu stellen. Zwei Drittel des Programms bestand aus herkömmlicher Chormusik, ein Drittel aus» neuer Musik«— wobei auch der erste Programmteil für die meisten Zuhörer verrückt neu war, weil er aus Stücken bestand, die zwar den meisten bekannt waren — Am Brunnen vor dem Tore, In Muatters Stübele, Der Mond ist aufgegangen und andere —, die mein Vater aber jazzig arrangiert hatte. Der Abend wurde ein großer Erfolg. Wenn einige Zuhörer bei den» herkömmlichen «Liedern noch die Nase rümpften, weil sie ihnen zu» neumödisch «klangen, war die Begeisterung bei der tatsächlich neuen Musik einhellig — wahrscheinlich, weil diese Klänge gar nicht mit einer vorhandenen Vorstellung von Musik zusammengebracht wurden; was meinem Vater nur recht war.
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