Ich wusste gar nicht, dass du eine Brille hast.
Verrat es keinem, sonst verrat ich dich.
Am Morgen nahmen Martha und Leontine Helene in ihre Mitte. Martha trug den kleinen, ochsenblutroten Koffer, in den sie Helenes Wäsche gelegt hatten. Helene musste immer wieder stehen bleiben, ihr Leib zog sich zusammen, sie wollte sich nicht auf offener Straße krümmen. Blut floss aus ihr, es schien dicker als sonst. Der Wind pfiff, die Mädchen hielten ihre Hüte fest. Helene fühlte sich von innen nach außen durchnässt, bis zu den Nieren kroch die Nässe, sie zog sich an den Beinen entlang, und es war Helene, als erreichte sie ihre Kniekehlen.
Leontine sagte zu Martha: Du wartest hier mit ihr. Und Martha wartete mit Helene, sie legte einen Arm um Helenes Hüfte. Helene erschien Marthas Arm unangenehm schwer, ihr schien, als reize die Berührung den Schmerz und locke ihn. Marthas Arm war ihr lästig. Aber sie konnte nicht sprechen, sie wollte Martha nicht von sich stoßen. Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken, ihr wurde schlecht. Sie hatten lange nichts von der Mutter gehört. Der letzte Brief vom Mariechen war zu Weihnachten gekommen, alles sei in bester Ordnung, der Mutter ginge es besser, sie könne manchmal mit ihr spazieren gehen. Ein Ziehen riss Helenes Leib auseinander, sie knickte fast unmerklich ein. Martha hob jetzt ihren Arm und legte ihre Hand um Helenes Schulter, ungefragt versicherte sie Helene, dass sie es gleich geschafft hätten. In Marthas Gesicht war ein sonderbarer Ausdruck, den Helene noch nie gesehen hatte. War es Furcht?
Engelchen. Martha zog Helene an sich, sich an Helene. Sie streichelte Helene über das Gesicht. Helene wollte ihr sagen, dass das nicht nötig sei, es war ja nur Schmerz, nichts sonst. Sie musste ihn nur überwinden, ihm standhalten, warten. Leontine winkte vorn an der Straße, endlich hatte ein Taxi gehalten. Es begann zu regnen, die Passanten schlugen ihre Schirme auf. Leontine ruderte jetzt mit dem Arm, sie sollten hinüberkommen. Das Blut zwischen Helenes Beinen war kalt geworden. Martha und Leontine brachten Helene in das kleine Zimmer in der Achenbachstraße. Dort hatten sie die Betten wieder je an eine Wand geschoben und versicherten, dass es ihnen nichts ausmachte, für diese Woche in einem Bett zu schlafen. Sie brachten ihr Wasser und sagten, es sei wichtig, dass Helene möglichst viel ruhe. Es duftete nach Bergamotte und Lavendel. Helene wollte sich waschen, aber sie sollte nicht aufstehen. Im Flur schlugen Türen. Vielleicht der Baron?
Nein, Heinrich Baron sei wegen seiner Tuberkulose nach Davos gereist. Es sei ihm in der letzten Zeit so schlecht gegangen, dass Leontine ihm Empfehlungen und Rezepte ausgestellt habe. Statt seiner hätte jetzt das Ehepaar Karfunkel das Zimmer gemietet. Fanny sei froh, eine gute Miete zu bekommen, sie habe sich immerhin das Grammophon zurückholen können.
Helene legte sich auf das schmale Bett und schloss die Augen, es war zu hell.
Besser ist es, wenn du dich auf den Bauch legst, Engelchen, dann kann sich die Gebärmutter leichter senken. Helene drehte sich auf den Bauch. Das Kissen und die Matratze, einfach alles hier roch nach Leontine. Helene schloss wieder die Augen. Das Ziehen war nicht schlimm. Sie war nicht schwanger, das war gut.
Sie lag die ganze Woche auf dem Bauch und sog Leontines Geruch ein und übte Geduld.
Martha hatte herausgefunden, dass der Autobus von Ahlbeck nach Heringsdorf fuhr und der Schnellzug vom Bahnhof Heringsdorf Seebad um halb drei in Berlin am Stettiner Bahnhof ankommen würde. Also telefonierte Leontine mit einer Freundin in Ahlbeck und bat um Telegrammaufgabe: An Carl Wertheimer. Ankunft Sonntag halb drei, Stettiner Bahnhof. Küsse, Helene.
Am Sonntag hatte Leontine Dienst im Krankenhaus. Martha und Helene fuhren allein mit der Elektrischen hinaus nach Bernau. Dort warteten sie eine gute halbe Stunde auf die Eisenbahn. Einige der Zeitungsjungen liefen dem einfahrenden Zug entgegen und priesen den Menschen an den Fenstern ihre Sonderausgaben an. Der Zug dampfte und zischte, auch als er schon hielt. Berlin, alle einsteigen. Er war so überfüllt, dass Martha und Helene nur mit Mühe aufsteigen konnten. Die Pfeife trillerte. Und — Abfahrt. Der Zug war voller Berliner, die ihre Ostertage an der See und anderswo im Nordosten verbracht hatten und jetzt in ihre Stadt zurückkehrten. Sie ergötzten sich an ihren Zeitungen und tauschten Meinungen über die jüngsten Vorfälle in Schleswig-Holstein. Ein alter Mann sagte: Die hatten in Wöhrden gar nichts zu suchen. Was wollten die da überhaupt? Um den alten Mann herum fielen jetzt heftige Worte. Feiglinge sind das.
Von wegen Feiglinge, es geht um die Gerechtigkeit.
Mit Messern spielt man nicht.
Helene hielt sich an der Stange fest. Sie hatten keinen Platz mehr bekommen. Der Schmerz war jetzt geradezu sanft, er hatte sich vom Unterleib in den tiefen Rücken zurückgezogen, dort pochte er in Maßen, die Helene gut ertrug. Die Menschen um sie her konnten gar nicht aufhören, jeder sprach zu jedem. Offenbar war dieser Eifer ansteckend, jeder Mann und selbst jede Frau wollte seine Meinungen und Argumente zum Besten geben.
Hinterrücks nenne ich die. Die Frau, die das sagte, wirkte beleidigt.
Wir lassen uns doch keine Versammlung verbieten, rief ein Mann und sein Nachbar stimmte ihm zu, abschlachten erst recht nicht. Martha und Helene blieben bis zum Stettiner Bahnhof an der Tür stehen.
Carl wartete am Bahnhof, er winkte mit den Armen, als habe er Flügel. Der Zug ächzte und stand schließlich. Sie stiegen aus, Carl rannte auf sie zu, er gab Martha die Hand und schloss Helene in seine Arme.
Hab ich dich vermisst.
Helene drückte ihr Gesicht fest an ihn, die Glätte seines Pelzkragens, sie wollte nicht, dass er sie ansah. Die Menschen strömten an ihnen vorbei.
Eine ganze Woche an der See und ich sitze in meiner Kammer und frage mich, ob Hegel die deutsche Sprache von ihrem ursprünglichen Gebrauch entfremden musste, um seine Gedanken adäquat zu äußern. War das nötig? Carl lachte. Wo habt ihr Leontine gelassen?
Sie musste eher zurück, ihr Professor Friedrich hat ihr telegraphiert, er benötigte sie dringend.
Lass dich ansehen, erholt siehst du aus. Carl betrachtete Helene wie eine zu kaufende Aprikose, er kniff ihr zärtlich in die Wange. Vielleicht kleine Augenringe. Ihr werdet doch nicht ohne mich getanzt haben?
Und ob. Martha drückte Carl den kleinen Koffer in die Hand.
Frühling und Sommer vergingen wie im Flug. Helene arbeitete in der Apotheke, legte ihre Reifeprüfung ab und wartete auf die Ergebnisse. Carl saß von früh bis spät zwischen den Büchertürmen an seinem Schreibtisch, ging er hinaus, so nur um eine der schriftlichen und mündlichen Prüfungen hinter sich zu bringen. Am Ende des Sommers glaubten sie beide, dass ihnen das Leben zu Füßen lag. Zwei Professoren buhlten um Carls Aufmerksamkeit, er musste sich nur entscheiden, ob er lieber weiter Hegel lesen oder doch der allgemeinen Strömung folgend sich tiefer mit Kant und Nietzsche auseinandersetzen wollte. Er schrieb Briefe nach Hamburg und Freiburg, wo er von Professoren wusste, deren Arbeit ihn begeisterte. Nachdem sein summa cum laude bekannt geworden war, erreichte ihn eine Einladung aus Dresden, er möge sich doch dem Problem der Allgemeingültigkeit in Kants Ästhetik widmen. Aber Carl wartete noch auf Antwort aus Hamburg und Freiburg.
Du weißt, dass wir heiraten müssen, ehe ich aus Berlin weggehe?
Carl drückte Helenes Hand in seiner. Sie überquerten die Passauer Straße. Es roch nach Laub. Das lichte Gelb der Lindenblätter holte die Herbstsonne in die dunklen Äste. In der Nürnberger Straße war das Laub zu Haufen gekehrt. Helene lief mitten durch einen der Haufen, dass die Blätter über ihre Schuhspitzen flogen und das dürre Laub raschelte. Der Ahorn glühte grün und rot, gelb und grün leuchteten die Blattadern, brauner Brand vom Rande her. Braunes Gold von Kastanienblättern. Helene bückte sich und hob eine der Kastanien auf. Schau mal, wie glatt die ist und was für eine schöne Farbe. Sie strich mit dem Daumen über die Rundung und hielt Carl die Kastanie hin.
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