Vom Hof her hörte er Stimmen. Ob sie noch manchmal lächelte? Wenn sie gelächelt hatte, hatten sich Grübchen in ihren Wangen gebildet. Die hatte Peter im Gedächtnis, ihre Grübchen. Sie hatte selten gelächelt. Peter kniete sich an die Ritze. In der blauen Stunde sah er seine Mutter, wie sie über den dünnen Teppich frisch gefallenen Schnees lief, sie band sich ihr Kopftuch um und öffnete die Wagentür. Was war ihm von seiner Mutter geblieben? Peter musste an den Fisch denken, den komischen Fisch aus Horn. Niemand wusste etwas mit dem Fisch anzufangen, der Onkel nicht, die Tante nicht. Peter hatte den Fisch lange betrachtet, jeden Abend, er hatte ihn geöffnet und ihm in den Bauch geschaut, aber da war nichts, nur ein Hohlraum. Die Mutter dort unten hatte ihr Kopftuch zugeknotet. Von hier oben sah es nicht so aus, als lächele jemand, und die Abschiedsworte mussten kurz und knapp sein. In der Hand trug die Mutter ihr Täschchen und das Einkaufsnetz. Sollte sie das Geschenk wieder mitgenommen haben? Vielleicht hatte sie an kein Geschenk gedacht, und es war lediglich Proviant für die Reise, den sie in dem Netz trug. Peter war der Hohlraum im Bauch des Fisches unheimlich gewesen. Vielleicht war es drei Jahre her, vielleicht erst zwei, da hatte er den Fisch mit zur Küste genommen und ihn dort ins Meer geworfen. Blöder Fisch, er wollte nicht untergehen, er schwamm auf den Wellen. Die Krümmung des Horizonts, die gefiel Peter. Man konnte sie besonders gut von der Steilküste im Osten sehen, vom Fischland aus. Vielleicht war der Rücken der Mutter etwas gekrümmt? Ganz leicht nur, so, als gräme sie sich. Sie sollte sich grämen, Peter wünschte es sich. Er konnte sich nichts anderes denken, als dass sie sich grämte. Aber das sollte ihm gleichgültig sein, nur eines wollte er ganz sicher: Er wollte sie sein Leben lang nicht mehr sehen. Peter sah, wie die Mutter den Griff der Tür festhielt und hinaufstieg, in den Wagen. Der Onkel schloss ihre Tür und ging hinüber zur anderen Seite, um selbst einzusteigen. Peter hörte den Wind in den Pappeln. Die Tante öffnete die Pforten des Tors. Der Motor wurde gezündet, der kleine Lastwagen fuhr eine Schleife über den Hof und zur Ausfahrt hinaus. Die Tante sprach mit Hasso, sie schloss das Tor. Peter legte sich auf den Rücken. Das Stroh kitzelte ihn im Nacken. Die Dunkelheit besänftigte, er war ganz ruhig.
Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Germanistik an der FU Berlin. Unter anderem erhielt sie den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis 2004 und die Roswitha-Medaille der Stadt Gandersheim 2005. Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Zuletzt erschienen von ihr» Liebediener«(1999),»Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen«(2000) und» Lagerfeuer«(2003).
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Roman
Eine idyllische Kindheit in der Lausitz am Vorabend des ersten Weltkriegs, das Berlin der goldenen Zwanziger, die große Liebe: So könnte das Glück klingen, denkt Helene. Aber steht ihr die Welt wirklich offen? Helene glaubt unerschütterlich daran, folgt ihren Träumen und lebt ihre Gefühle — auch gegen die Konventionen einer zunehmend unerbittlichen Zeit. Dann folgt der zweite große Krieg, Hoffnungen, Einsamkeit — und die Erkenntnis, dass alles verloren gehen kann. Julia Franck erzählt in ihrem großen neuen Roman ein Leben, das in die Mühlen eines furchtbaren Jahrhunderts gerät, und die Geschichte einer faszinierenden Frau.
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