An einem Februartag, an dem die Sonne von einem blauen Himmel strahlte und der auf den Straßen liegende Schnee schon rotbraun von der Asche war, stand Helene in der Apotheke vor ihrer Waage und wog für eine Kundin Salbeiblätter. Ein Pfund sollte es sein. Helene stieß die kleine Schaufel in das Glas und schüttete eine Schaufel nach der anderen in die Waagschale. Vielleicht wollte die Kundin in dem Salbei baden. Die Glocke läutete mit der sich öffnenden Tür. Helene blickte auf. Der kleine Junge, der lange vor den Bonbongläsern gestanden hatte, verließ, die Hände in den Hosentaschen, die Apotheke. Von draußen drang der Brandgeruch von Kohle und Benzin herein. Es war mittags, außer ihrer Kundin wartete nur noch eine ältere Dame auf Bedienung. Das Telefon klingelte. Der Apotheker erschien in der Tür des Hinterzimmers. Für Sie, Helene, rief er und sah sie erfreut an. Es war der erste Anruf, den er in all den Jahren für sie entgegennahm. Ich übernehme, gehen Sie nur. Der Apotheker drängte Helene zur Seite, Helene ging zum Telefon.
Ja bitte? Sie sagte es wohl zu leise und jetzt rief sie in das Rauschen: Ja bitte?
Hier ist Carl. Helene, ich muss dich sprechen.
Ist etwas passiert?
Ich will dich sehen.
Wie bitte?
Kannst du früh Schluss machen?
Es ist Mittwoch, da geh ich doch mittags. In einer Viertelstunde komm ich hier weg.
Helene musste sich ihr linkes Ohr zuhalten, um ihn besser zu verstehen.
Ausgezeichnet. Carl schrie. Wir treffen uns am Romanischen Café.
Wann?
Ein lautes Rauschen unterbrach sie.
Liebe! Um eins am Romanischen Café?
Um eins am Romanischen Café. Helene hängte den Hörer auf. Sie hatte den Hörer so fest auf ihr Ohr gepresst, dass jetzt die Schläfe wehtat. Als sie wieder nach vorne kam, wickelte der Apotheker eine Schachtel Veronal ein und nahm die Münzen der älteren Dame entgegen.
Sie dürfen sich schon umziehen, Helene, sagte er freundlich und mit einem listigen Lächeln, als stünde es in seiner Macht, ihr ein Treffen mit dem Liebsten zu ermöglichen.
Helene überquerte den Steinplatz. Tauwetter, unbeständig. Sie fragte sich, warum Carl sie so dringend sehen wollte. Es konnte sein, dass ihm der Philosoph aus Hamburg geantwortet hatte. Der aus Freiburg hatte ihm kurz vor Weihnachten eine ablehnende Antwort beschieden. Von Carls summa cum laude wäre er zwar beeindruckt, von Hegel dagegen weniger. Seine Assistentenstellen seien alle besetzt. An der Fasanenstraße blieb Helene stehen. Hinter ihr klingelte ein Fahrrad. Plötzlich glaubte sie, es könne Carl sein, der bei jedem Wetter fuhr. Sie drehte sich um, es war aber nur ein Bäckersjunge, dem die Straße zum Fahren wohl zu matschig erschien. Helene trat einen Schritt zur Seite, sie stellte sich auf einen kleinen Eishügel, dessen Ränder schmolzen, und ließ den Bäckersjungen vorbei. Die Räder spritzten ihr Schneeasche auf den Mantel. Nun stand noch die Antwort Cassirers aus. Schon im Januar hieß es, dass Carl in Berlin alle Türen offen stünden. Er konnte wählen, zwei Professoren rissen sich um ihn. Noch lieber aber wollte er einen eigenen Forschungsplatz aufbauen. Es hatte in den letzten Wochen nicht so ausgesehen, als warte er noch ernsthaft auf eine Antwort von diesem Cassirer aus Hamburg. Was konnte es sonst sein, das Carl so eilig erschien, weshalb er nicht bis zum Abend warten wollte? Vielleicht wollte er sie treffen, um den am Wochenende anstehenden Besuch bei seinen Eltern mit ihr zu besprechen? Sie fürchtete sich vor dem Besuch. Am Abend zuvor hatten sie sich fast gestritten. Helene hatte gesagt, sie könne nicht mit leeren Händen zu seinen Eltern, sie wolle ihnen ein Geschenk kaufen. Carl hatte das nicht richtig gefunden. Das Geld bräuchten sie dringend für andere Dinge, für Essen, Bücher und nicht zuletzt für das gemeinsame Leben, einen Umzug, eine richtige Wohnung. Helene wollte seinen Eltern eine kleine grüne Vase schenken, die sie bei Kronenberg vorn an der Ecke im Schaufenster gesehen hatte. Eine grüne Vase, hatte Carl ungläubig gefragt, und es hatte Helene so geschienen, als spotte er. Noch heute Morgen, als sie sich verabschiedeten, hatte Carl zu ihr gesagt, seine Eltern erwarteten kein Geschenk. Carl hatte sie geküsst. Seit Jahren seien sie neugierig, Helene endlich kennenzulernen. Schließlich wüssten die Eltern, dass sie nicht gerade reich waren. Carl hatte mit dem Rücken zu ihr seine Bücher zusammengesucht und für den nächsten Morgen bereitgelegt und dabei etwas gemurmelt. Was hast du gesagt? Das hatte Helene nachfragen müssen, und er hatte sich umgedreht und mit einem beiläufigen Tonfall gesagt: Sie wissen nur nicht, dass du bei mir wohnst. Helene hatte sich hinsetzen müssen. Es waren gut drei Jahre, die sie jetzt mit ihm in seiner Kammer lebte. Jeden Monat versuchte sie, von ihrem Geld soviel Essen wie nur möglich für den gemeinsamen Haushalt zu kaufen, wo doch Carl kein Geld für die Miete von ihr annehmen wollte, weil seine Eltern dafür aufkamen. Was sollte sie seinen Eltern also am Sonntag vorspielen? Dass sie noch bei ihrer Tante lebte?
Carl hatte sie beruhigen wollen und ihr versichert, dass er es ihnen sagen wolle, an diesem Sonntag.
Aber das war in Helenes Augen das Schlimmste. Er konnte unmöglich die langangekündigte Verlobte zum ersten Mal mit nach Hause bringen und während des Essens sagen, wir kennen uns erst vier Jahre und haben uns vor zwei Jahren die Ehe versprochen, aber wir wohnen übrigens schon mehr als drei Jahren zusammen. Helene rieb sich die Augen.
Schau, du wolltest mich nie zu ihnen begleiten, wie hätte ich ihnen erklären sollen, dass du zwar mit mir lebst, sie aber nicht kennenlernen möchtest?
Jetzt bin ich schuld?
Nein, Helene, mit Schuld hat das nichts zu tun. Es wäre ihnen unhöflich erschienen. Wie hätte ich ihnen erklären sollen, dass du dich nicht traust?
Helene hatte etwas erwidern wollen, es war ihr unangenehm, dass sie sich nicht traute. Sie hatte ihre Augen gerieben, bis Carl zu ihr kam und ihre Hände festgehalten hatte. Was glaubten seine Eltern, wer Carls Wäsche wusch und flickte, wer dafür sorgte, dass er am Abend ein warmes Essen bekam und die Wohnung belebte, die Spatzen auf dem Dachsims fütterte und die Orchidee in ihrem Glaskasten goss, während Carl jeden Sommer mit seinen Eltern in die Ferien über die Monti della Trinità an den Zürichsee fuhr, wo sein Vater an der Eidgenössischen Sternwarte seine Forschungen verfolgte, Zykloiden errechnete und Sonnenflecken kartographierte, während die Mutter mit ihrem Sohn Konzerte besuchte? Seine Schwester begleitete diese Reisen seit ihrer Heirat nicht mehr. Carl hatte Helenes Hände geküsst und ihr versichert, dass sie am Sonntag alles klären würden. Gemeinsam. Es wäre doch nur eine Bagatelle, die sie da am Sonntag klären müssten, gemeinsam, schließlich ging es um ihr gemeinsames Leben und all das, was noch vor ihnen lag.
Helene musste beim Gehen aufpassen, dass sie nicht ausrutschte. Unter dem schmelzenden Schnee lag an manchen Stellen noch Eis. Vor der Gedächtniskirche musste sie lange warten, die Autos fuhren langsam, sie schlidderten auf der Fahrbahn. Carl war ein guter Fahrradfahrer, er würde aufpassen, vielleicht hatte er das Fahrrad auch an der Bibliothek stehen lassen. Die große Uhr am Kurfürstendamm zeigte auf zehn vor eins. Helene war unruhig, sie stellte sich unter die Markise vor die riesigen Schaufenster des Romanischen Cafés.
Bestimmt wollte Carl ihr eine frohe Botschaft übermitteln. Vielleicht war ihm eine andere Stelle angeboten worden? Noch war er nicht entschieden, und er hätte sie gewiss gefragt, welche sie für die beste halte. Aber wenn er den Vormittag in der Bibliothek gewesen war, wie er es am Morgen angekündigt hatte, so konnte sich dort nichts Weltbewegendes ereignet haben. Helene lächelte nervös. Ihr fiel ein, wie Carl sie abends manchmal beim Lesen unterbrach, weil er ihr einen ungeheuerlichen Gedanken mitteilen wollte. Helene schaute an beiden Seiten der Gedächtniskirche vorbei, auf die andere Seite der Kreuzung. War dort nicht ein Mann auf dem Fahrrad mit einer Mütze, wie Carl sie trug? Aber es konnte sein, er war längst aus der Bibliothek zurückgewesen und hatte vom Viktoria-Luise-Platz aus angerufen. Weil er den Postboten getroffen hatte. Und der Postbote hatte ihm den Brief aus Hamburg gebracht. Hamburg sollte eine schöne Stadt sein. Manchmal träumte Helene davon, in einer Stadt mit Hafen zu leben. Sie liebte große Schiffe. Es erschien ihr als eine Benachteiligung ihrer Geburt, weder am Meer noch in den hohen Bergen geboren worden zu sein. Sie kannte die Berge nur aus der Ferne, und es waren kleine Berge, die Lausitzer Berge, eher Hügel. Das Meer stand ihr klar und deutlich vor Augen. Sie hatte es sich für Carl in den prächtigsten Farben ausgemalt. Aber gesehen hatte sie es noch nie.
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