Sie sagte sich, sie wolle zu Hause sein, wenn er käme. Wenn er käme, könnten sie gemeinsam essen; er würde seine Hand auf ihre Wange legen, wenn er nur käme.
Sie zog ihre Schuhe aus. Die Vermieterin wollte sie nicht mehr stören und um heißes Wasser bitten. Also setzte sie sich ins Bett, wickelte ihre kalten Füße in die Decke und versuchte in dem neuen Buch zu lesen, das Carl ihr vor zwei Tagen mitgebracht hatte, doch kam sie über das erste Gedicht nicht hinweg. Sie las es immer wieder, jede Zeile mehrmals, und hatte sie die letzten Zeilen laut vor sich hingesagt, Von fernen Stunden krank / und leerst die Schale, / aus der ich vor dir trank, begann sie wieder mit den ersten: Was dann nach jener Stunde / sein wird, wenn dies geschah, / weiß niemand, keine Kunde / kam je von da. Helene verstand nur einen Bruchteil der Worte, ihr Sinn hing irgendwo dazwischen, halb noch in Gedanken, halb ganz verschlossen, wo doch ihr Herz klopfte und sich die Augen verengten. Als gäbe das eine Gewissheit, die sich ihr mit dem wiederholten Lesen aufdrängte und Besitz von ihr nahm. Einmal stand Helene auf. Sie fror. Unter dem Waschtisch befand sich ein Korb und über dem Korb hing das Unterhemd von Carl, das gewaschen werden musste. Sie zog sein Unterhemd auf die Haut, seinen Pyjama darüber. Über Nacht zählte sie den entfernten Glockenschlag. Als aus dem Morgendunkel die ersten Geräusche im Haus zu hören waren, blieb sie an der Wand auf dem Bett sitzen und dachte, es müsse etwas geschehen, damit sie aufstehen, sich waschen und ankleiden könne. Der Apotheker hatte gestern zu ihr gesagt: Bis morgen. Sie konnte ihn nicht warten lassen. Helene hörte Schritte auf der Treppe, ihrer Treppe, der letzten, die nur zu ihr hinauf in die Dachkammer führte. Es klopfte leise. Helene wusste, dass Carl nicht vergesslich war, er hatte den Schlüssel stets bei sich, sie wollte nicht öffnen. Es klopfte lauter, Helene schaute auf die Tür. Ihr Herz schlug schwer, es war über Nacht ganz müde geworden vom Schlagen. Helene wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, sie musste aufstehen, sie stand auf, sie musste zur Tür gehen, sie ging zur Tür, sie musste öffnen, sie öffnete.
Vor der Tür stand die Vermieterin, sie trug noch ihren Morgenmantel. Fräulein Helene, sagte sie und blickte dabei seitwärts zum Boden. Helene hielt sich an der Türklinke fest, sie war so schwach, dass der Boden sich ihr leicht entgegenwölbte und bewegte, er drehte sich, er tanzte vor und zurück. Die Vermieterin hatte Mühe, so früh am Morgen sprachen manche Menschen nur ungern. Mein Telefon hat geklingelt, Herr Wertheimer hat mir gesagt, dass sein Sohn nicht mehr kommen werde, er sei verunglückt.
Welcher Sohn, ging es Helene durch den Kopf.
Sie wusste, dass Carl es war, der verunglückt war, sie ahnte es schon, ehe sie die Schritte auf der Treppe gehört hatte und die Tür hatte öffnen müssen. Aber welcher Sohn, von welchem Sohn sprach die Vermieterin jetzt? Helene sagte Ja, sie wollte ihren Kopf nicht unnötig bewegen, kein Nicken, kein Zurseitelegen, schließlich konnte er beim Drehen von ihren Schultern fallen.
Ich habe den Professor Wertheimer gefragt, ob Sie bereits informiert sind. Er sagte, das könne er sich nicht vorstellen. Ich sagte ihm, ich würde mich darum kümmern, ich könne zu Ihnen hinaufgehen. Der Professor Wertheimer sagte, er wisse nicht, wo Sie wohnen, aber wenn ich mich kümmern könne, dann wäre das gut. Er fragte mich, ob ich eine Adresse von Ihnen hätte, ich sagte, ich müsse da erst nachschauen. Er weiß wohl noch immer nicht, dass Sie hier wohnen?
Helene hielt sich mit beiden Händen an der Klinke fest.
Er ist tot. Die Vermieterin sagte es wohl für den Fall, dass diese Nachricht untergegangen wäre. Das wollte ich Ihnen gesagt haben.
Helene atmete tief ein, einst würde sie ausatmen müssen. Ja.
Helene schob, sich noch immer mit beiden Händen an der Klinke festhaltend, die Tür zu, bis das Schloss hörbar schnappte.
Wenn ich etwas für Sie tun kann, hörte sie die Vermieterin auf der anderen Seite der Tür sagen, Helene, lassen Sie es mich wissen?
Helene antwortete nicht mehr. Sie setzte sich auf das Bett und nahm das Buch auf ihren Schoß, sie musste blinzeln: Ich kannte deine Blicke und in des tiefsten Schoß sammelst du unsere Glücke, den Traum, das Loos. Sie las jetzt laut, als lese sie vor und gelange das Gedicht nur auf diese Weise aus ihr hinaus. Es glückte ihr nicht, die Stimme auch nur ein wenig zu heben oder zu senken. Helene las das Gedicht noch bis zum Ende, ein letztes Mal, die Nacht war ausgeklungen. Dann klappte sie das Buch zu und legte es auf den Tisch. Helene öffnete das Fenster. Kalte Luft kam herein. Am Himmel standen die ersten hellen Streifen des anbrechenden Tages. Ein Rosa leuchtete in diesen Streifen, blass und zart. Sein Unterhemd musste sie nicht ausziehen. Helene wusch sich und zog ihr Kleid wieder an. Ihre Schuhe waren noch nass, sie hatte vergessen, Zeitung hineinzustopfen. Der Mantel roch nach dem Rauch des gestrigen Tages.
Es sollte Helene an diesem Morgen nicht gelingen, bei ihrer Arbeit anzukommen. An der letzten Ecke, sie konnte schon das vertraute Schild der Apotheke sehen, bog sie ab. Sie ging die Straße hinunter, sie entfernte sich von der Apotheke. Es gab keinen Entschluss in ihr, wohin sie gehen wollte, auch keinen Gedanken, wohin sie gehen konnte. Sie setzte einfach einen Fuß vor den anderen. Wagen fuhren, Menschen gingen ihrer Wege, die Straßenbahn bewegte sich, womöglich quietschte sie, und doch erschien es Helene so, als liege die Stadt still. Ihr war nicht der Atem ausgegangen, sie war nur still.
Dass es so einfach war, einen Fuß vor den anderen zu setzen, weckte in Helene eine Erinnerung, die sogleich wieder verschwand. Helene überquerte Straßen, sie musste nicht mehr nach links und rechts schauen. Das Rosa hatte den Himmel erleuchtet, jetzt war die Welt in Rosa getaucht, ein gelbes Rosa, auch wenn es ihr nicht stand. Aus blauen Häusern wurden violette. Im nächsten Augenblick war der Morgen da, von Rosa keine Spur. Der Apotheker würde sich fragen, wo sie blieb. Aber sie war ja da. Sie konnte ihn über ein Telefon anrufen und sagen, dass sie heute nicht kommen könne. Sollte er sich nur wundern, sie war sonst nie krank, aber heute, heute konnte sie nicht. He lene setzte einen Fuß vor den anderen. Morgen? Was war das für ein Tag, morgen. Was konnte morgen sein? Helene wusste es nicht. Sie stand vor der breiten Steintreppe in der Achenbachstraße. Otta öffnete ihr und sagte, Martha schlafe noch, Leontine sei vor einer Stunde fortgegangen, sie habe zur Arbeit gemusst.
In Marthas Zimmer nahm Helene am Waschtisch Platz. Es würde nur wenige Stunden dauern, bis Martha aufwachte. Sie hatte Nachtdienst gehabt. Helene wartete nicht. Sie saß einfach da und ließ die Zeit vergehen. Sie wartete nicht auf Martha und nicht auf Leontine. Helene wartete auf nichts mehr. Es war beruhigend, dass die Zeit trotzdem verging.
Martha brachte ihr später einen Tee, sie holte ihr etwas zu essen, sie telefonierte für sie mit dem Apotheker. Wenn Martha saß, hielt sie sich am Tisch fest, wenn sie ging, berührte sie die Wand. Helene wusste, dass Martha ein Gleichgewicht fehlte, schon länger. Helene betrachtete den Dampf über dem Teeglas. Martha sagte etwas. Helene senkte ihren Kopf, bis ihr Kinn auf der Brust lag, so konnte sie ihn am besten riechen, Carl, dessen Geruch ihr aus ihrem Ausschnitt entgegenkam. Nur leicht, so, dass Martha es nicht bemerkte, hob sie einen Arm. Auch unter der Achsel saß sein Geruch. Mit seinem Unterhemd haftete er an ihr. Martha sagte ihr etwas jetzt lauter, so laut, dass Helene endlich zuhören sollte, sie müsse etwas trinken, sie solle auch etwas essen. Das konnte sich Helene nicht vorstellen.
Sie konnte sitzen, sie wusste nicht, ob sie schlucken konnte. Sie versuchte es, sie schluckte, sie stellte das Glas zurück. Das konnte für den Morgen reichen, vielleicht.
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