Carls Mutter ging nun in den angrenzenden Saal. Meterhohe chinesische Vasen und Möbel im Biedermeier-Stil standen dort. Die breite Flügeltür stand offen, die auf die Terrasse führte. Der See lag unter ihnen. Mit der lauen Feuchtigkeit des Frühlings stieg der Geruch von frischgeschnittenem Gras zu ihnen herauf, vermutlich schnitt der Gärtner, auch wenn man ihn nicht sah. Es war eher ein etwas wilder Park als ein Garten; wohin sie auch blickte, einen Zaun konnte Helene nicht erkennen. Einzig die hölzernen Bögen eines Rosengartens blinkten weiß aus dem etwas abwärts liegenden Rondell.
Setzen wir uns? Carls Mutter zog einen der Stühle zurück und rückte das flache Kissen zurecht, damit Helene Platz nahm. Der Tisch war für drei Personen gedeckt. In der Mitte des Tisches stand eine Schale voller Erdbeeren, die wohl aus einem südlichen Land kommen mussten, wo die einheimischen Erdbeeren noch nicht reif waren. Die Erdbeeren lagen auf einem Bett aus jungen Buchenblättern. Ein ausladender Sonnenschirm spendete Schatten. In den Rhododendren und den Wipfeln der alten Laubbäume zwitscherten Vögel. War das der Ort, den Carl an jenen Sonntagen aufgesucht hatte, wenn sie rausgefahren waren und Helene sich in das Gartenlokal zum Lesen gesetzt hatte? Helene hatte sich keine Vorstellung davon gemacht, wohin Carl verschwand, wenn er zu seinen Eltern ging. An der ockergelben Hauswand rankte Wein, die Blätter wirkten noch jung und weich. Kam Carl aus dieser Farbenpracht, wenn er sie im Gartenlokal abholte? Vielleicht hatte er an diesem Tisch und auf diesem Stuhl gesessen, und sein Blick fiel wie Helenes auf den verblühenden Apfelbaum. Roch seine Mutter schon immer nach diesem feinen, süßen und ungewöhnlich leichten Parfum? In den großen Kübeln und Töpfen, die auf der Terrasse standen, streckten Fuchsien ihre ersten Blüten empor und entlang der nach unten breiter werdenden Treppe in den zum Wasser abfallenden Garten wuchsen große Farne von einem nahezu unwirklich hellen Grün. Die Farben blendeten Helenes Augen. Helene setzte sich mit Bedacht, der Stuhl knarrte und wackelte leicht. Die Tischdecke war mit feinen Blumen bestickt, wie es das Mariechen nicht schöner hätte machen können. Helene strich vorsichtig mit ihrer Hand über die Stickerei.
Möchten Sie Ihre Hände waschen, sich ein wenig erfrischen?
Helene erschrak, sie beeilte sich, die Frage zu bejahen. Erst auf dem Weg zurück ins Haus warf sie einen heimlichen Blick auf ihre Hände, ihr fiel aber kein Schmutzrand unter den Nägeln und auch sonst nichts Verdächtiges auf.
Das Bad war aus Marmor, selbst der Badeofen hatte ein marmornes Gehäuse, die Seife duftete nach Sandelholz. Helene ließ sich Zeit. Man würde draußen auf sie warten. Auf dem Kaminsims lag eine Hornbrille. Helene erkannte die Hornbrille. Es sah aus, als habe Carl sie nur eben hingelegt, um sich auf dem Liegestuhl auszustrecken und die Augen zu reiben. Als Helene den Weg zurück zur Terrasse gefunden hatte, hörte sie schon von weitem eine männliche Stimme, die sie an Carl denken ließ.
Die äußere Ähnlichkeit von Carls Vater mit seinem Sohn verschlug Helene die Sprache, sie nickte nur zur Begrüßung, ihre Lippen formten ein Lächeln, während Carls Mutter ihren Gatten vorstellte und auch Helenes Namen nannte.
Die drei setzten sich. Viel Zeit habe ich nicht, sagte Carls Vater, als seine Frau ihm Tee einschenkte. Er sagte es nicht zu Helene, er sagte es in seine Tasse und warf einen Blick auf die große Armbanduhr, die er trug.
Sie sind sehr hübsch, sagte Carls Mutter, und etwas schüchtern ob ihrer Verwunderung fügte sie hinzu: Und so blond.
Blond ist sie, ja. Carls Vater schmatzte beim Trinken aus seiner Tasse, es klang, als spüle er sich den Mund mit dem Tee aus.
Und so hübsch, sagte Carls Mutter wieder.
Jetzt lass mal das arme Kind, Lilly, du machst sie ja ganz verlegen.
Studieren Sie, wenn ich fragen darf? Der Professor stellte auch diese Frage, ohne Helene anzusehen. Er nahm eine der Erdbeeren und steckte sie in den Mund. Seine Frau schob ihm einen kleinen Obstteller mit einem noch kleineren Obstmesser zu, wohl, damit er beim nächsten Mal Verwendung dafür fand, und ehe Helene antworten konnte, sagte die Gattin: Nein, Carl hat es uns doch erzählt, sie hat Krankenschwester gelernt.
Krankenschwester? Der Professor brauchte einen Augenblick, ehe er weitersprechen konnte. Nun, als Krankenschwester sind Sie sehr nützlich. Eine Freundin von unserer Ilse…
Ilse ist unsere Tochter, erklärte Carls Mutter.
Aber Carls Vater ließ sich nicht unterbrechen… hat auch Krankenschwester gelernt, heute ist sie Ärztin.
In London, ergänzte Carls Mutter und fragte, ob sie Tee nachschenken dürfe.
Helene trank ihren Tee, sie wollte nicht erzählen, dass sie in einer Apotheke arbeitete und ungefragt erklären, wie sie sich mit Carl eine Zukunft vorgestellt hatte. Sie hatten die Idee gehabt, gemeinsam nach Freiburg oder Hamburg zu gehen, dort hätte Helene studiert. Vermutlich Chemie, Pharmazie oder Medizin, Carl war für Chemie, sie für Medizin, das Naheliegende nach der Arbeit in der Apotheke wäre vielleicht Pharmazie gewesen. Helene allein fehlte das Geld für ein Studium. Aber unabhängig davon war ihre hehre Vorstellung zu studieren in weite Ferne gerückt, es schien Helene, als gehörte dieser Wunsch zu einem anderen, früheren Leben, nicht mehr zu ihr. Helene wünschte sich nichts mehr. Visionen, da sie gemeinsam entwickelt, gemeinsam erwogen und gemeinsam erkoren worden waren, gab es nicht mehr. Sie waren mit Carl verschwunden. Denjenigen, der ihr Gedächtnis teilte, gab es nicht mehr. Helene sah auf. Wie lange mochten sie schon schweigen? Carls Vater hatte die halbe Schale Erdbeeren ohne Benutzung des Obstmessers verspeist. Aus der Kanne tröpfelte ein letzter schwarzer Grund und die anfangs so spürbare Freude und Aufregung von Carls Mutter schien an diesem Tisch erloschen zu sein.
Nun, dann. Carls Vater nahm die Serviette ab, die er sich oben in das Hemd gesteckt hatte, er legte sie neben das unbenutzte Obsttellerchen und das kleine Messer.
Mein Mann arbeitet viel.
Das stimmt nicht, ich arbeite nicht viel, ich arbeite gern. Der Professor legte seiner Frau zärtlich die Hand auf den Arm.
Er hat dort oben eine kleine Sternwarte. Carls Mutter zeigte hinauf zu der höher liegenden Terrasse, über deren Brüstung einige Fernrohre ragten.
Eine kleine, sagte der Professor und stand auf. Er nickte beiden zu und wollte sich verabschieden, doch Helene stand mit ihm auf.
Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie Carl zum Sohn hatten. Er war ein wunderbarer Mensch. Helene wunderte sich über die Fröhlichkeit und Zuversicht in ihrer Stimme. Es klang wie ein Glückwunsch zum Geburtstag.
Carls Mutter weinte.
Er war ihr Liebling, sagte Carls Vater zu Helene. Helene musste wieder an die anderen beiden Söhne denken, von denen die beiden kein einziges Mal gesprochen hatten.
Carls Vater stellte sich jetzt neben den Stuhl seiner Frau, er nahm ihren Kopf in beide Hände und drückte ihn gegen seinen Bauch. Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihren langen, schmalen Händen. Etwas an dieser Geste erinnerte Helene an Carl, sein Nähertreten, wenn sie traurig und erschöpft gewesen war, die kalten, müden Füße, die er ihr gewärmt hatte.
Der Professor ließ seine Frau los. Ich werde Gisèle sagen, dass sie euch noch einen Tee bringt. Helene wollte ablehnen, sie wollte nicht mehr bleiben, sie konnte das Schweigen und die Farben nicht länger ertragen. Sie öffnete ihren Mund, aber kein Laut verließ ihre Kehle, und niemand bemerkte, dass sie aufgestanden war, um sich seinem Gehen anzuschließen. Der Professor gab ihr eine warme und feste Hand. Er wünschte ihr alles Gute und verschwand durch die Flügeltür ins Innere des Hauses. Helene musste sich wieder setzen.
Mein kleiner Liebling, sagte Carls Mutter mit einer Zärtlichkeit, die Helene einen Schauer über den Rücken scheuchte. Carls Mutter knetete ihr Taschentuch vor sich auf dem Tisch und beobachtete, in welchen Falten es auseinanderfiel. Am Ende ihrer langen Finger saßen ovale Nägel, deren weißer Halbmond schimmerte, sie waren von einer Ebenmäßigkeit, dass Helene nicht anders konnte, als auf die Hände von Carls Mutter zu starren.
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