Wenns weiter nichts ist, sagte der Arzt mit einem Augenzwinkern. Helene ahnte, dass er an die Wiener Fallstudien von Hysterie dachte. Als Helene sich wieder angezogen hatte, fragte der Arzt sie mit einem feinen Lächeln, ob er sie einmal zum Kaffee einladen dürfe.
Helene sagte nein, herzlichen Dank, nein. Nichts weiter. Sie ging zur Tür.
Einfach so nein? Der Arzt zögerte, er wollte ihr nicht seine Hand geben, ehe sie ja gesagt hätte. Helene trat aus der Tür, sie wünschte ihm einen schönen Tag.
Martha sollte bis zum Winterbeginn im Sanatorium bleiben und Leontine suchte eine Wohnung, damit sie bei Marthas Rückkehr nicht mehr in die Achenbachstraße ziehen mussten. So kam es, dass Helene ein unbeobachtetes Zusammentreffen mit Erich kaum verhindern konnte. Ihr fehlte die Kraft und der Wille zur ständigen Voraussicht, damit diese Begegnungen hätten vermieden werden können. Er presste seine Lippen auf ihre, er küsste sie, wo und wie es ihm gefiel. Sie wehrte sich, aber ohne Erfolg. Er zog sie in ein Zimmer, er steckte ihr seine Zunge in den Hals und neuerdings knetete eine seiner groben Hände dabei eine ihrer Brustspitzen. Es war ihm egal, wenn Cleo dabei zusah und ängstlich fiepte und eher flehend als fröhlich mit dem Schwanz wedelte.
Helene war froh, wenn sie in solchen Augenblicken Otta hörte, meist ließ Erich dann von ihr ab. Noch besser war es, wenn Fanny von ihrem kurzen Einkauf oder einer anderen Erledigung heimkehrte und Erich Helene ohne ein weiteres Wort losließ. Es gab Tage, an denen wich Helene instinktiv nicht von Ottas Seite, begleitete sie in die Küche und zum Einkaufen. Aber es gab andere Tage wie diesen, an dem sich Helene allein in der Wohnung glaubte, eine Zeitung nahm und sich in den Wintergarten setzte, zu dem Fanny die Veranda durch das Einsetzen von Glasfenstern hatte umbauen lassen. Aus der Stille näherten sich beschwingte Schritte. Erich kam, setzte sich ihr gegenüber an den niedrigen Tisch und legte einen Fuß auf sein Knie, das Bein im großen Winkel. Mhm. Er machte von Zeit zu Zeit unbestimmte Geräusche, mhm, so als sage sie etwas, mhm und mhm, stimme er ihr zu, mhmhm, mhmhm, vielleicht war es eher ein ablehnendes mhm, ein erwartungsvolles mhm, mhmhm, mhm, ganz, als leide er unter einem Reflex, mhm, wie ein Meerschweinchen, mhm, er sah zu, wie sie Zeitung las. Zehn wortlose Minuten genügten, Erich stand auf, nahm ihr die Zeitung weg und sagte: Ich weiß, was dir fehlt.
Helene zog die Augenbrauen hoch, sie wollte ihn nicht an sehen.
Erich fuhr mit der Hand von oben in ihre Bluse. Helene wehrte sich. Die Knöpfe ihrer Bluse sprangen ab, der feine Stoff darunter riss.
Pass doch auf, keuchte er und lachte und jedes zuvor noch unterdrückte Seufzen gedieh zum Schnaufen, zum Stimmhaften, Erich lachte und hielt jetzt Helenes Handgelenke fest, er ließ sich auf die Knie fallen und stürzte sich mit einem nassen, sabbernden Mund auf ihren nackten Oberkörper. Torso, ging es Helene durch den Kopf, und sie musste an die anatomischen Modelle denken, anhand deren ihnen in der Ausbildung der menschliche Körper gezeigt worden war, wo das Herz schlug ohne Kopf und Denken. Gliedmaßen hatten mit ihrer Funktion ihre Bedeutung verloren. Purpur und Violett war eine Farbe vor den Fenstern.
Helene versuchte seine Schultern von sich wegzudrücken, mit dem ganzen Körper, sie wollte sich losmachen, aber Erich war schwer wie ein Stein und lutschte besinnungslos an ihrer Haut. Er wollte sie aussaugen, jeden Flecken ihres Körpers benetzte er mit seinem tranig riechenden Speichel. Da er ihre Handgelenke umklammert hielt und sie in den Sessel drückte, versuchte Helene durch ein Aufbäumen des Körpers, ihn von sich zu drücken. Doch es war, als reize ihn jede ihrer Bewegungen nur zu größerer Wildheit. Ungestüm leckte er mit der Zunge über ihr Gesicht, ihren Hals entlang und über ihre Brust. Helene wurde starr. Hab ich dich, hab ich dich, stammelte Erich ohne Unterlass.
Ich wollte die Alpenveilchen gießen, sagte plötzlich eine Stimme über ihnen. Fannys Stimme war nicht gerade fest, sie war schrill und klar. Fanny hielt eine Gießkanne aus Messing, klein, mit langer Tülle in die Höhe. Im nächsten Augenblick schlug sie mit der Gießkanne auf Erichs Kopf. Erich sackte nicht zusammen, verhinderte aber mit seinem Aufspringen, dass der nächste Schlag Helene erwischte, die Gießkanne flog jetzt auf den Boden. Erich hatte ihre Handgelenke losgelassen.
Fanny schrie. Was sie genau schrie, konnte Helene nicht verstehen. Es hatte mit Krethi und Plethi zu tun, wir sind hier doch nicht bei Krethi und Plethi, vermutlich hatte sie das geschrien. Das Purpur gewann Konturen, aber die Alpenveilchen ließen keins ihrer Blätter hängen. Helene hielt sich mit beiden Händen ihre Bluse zu, stand auf und machte, dass sie in ihr Zimmer kam. Dort presste sie ihre kalten Hände auf die glühenden Wangen, etwas stieß ihr von innen an den Schädel, zu weich war das, zu fest die Stirn.
Sie hörte Fanny und Erich noch bis spät in die Nacht streiten, aber das war nichts Ungewöhnliches. Helene ging arbeiten, sie kam nach Hause und ging Fanny aus dem Weg.
Helene verfluchte ihr Dasein, sie schämte sich für ein Leben, das sie ohne großes Dazutun atmen, arbeiten, und mit der Zeit wieder Flüssigkeit zu sich nehmen und schlafen ließ. Sie schämte sich, weil sie etwas dafür konnte, sie wusste, wie der Tod herbeizuführen war, schnell und unauffällig. Was war da schon ein Schmerz, was kleine Übelkeiten, wo sie doch endlich sein würden. Helene wusste, dass sie nicht überraschend gefunden werden wollte, man sollte sich weder mit ihr noch mit ihrem Tod auseinandersetzen, sie wollte nicht, dass Martha und Leontine und jemand, den sie nicht kannte, der ihr nicht einfiel, irgendjemand, aus Anlass ihres Todes über Verantwortung und gar Schuld nachdenken musste. Das unbemerkte Verschwinden, das endgültige Davonkommen, das war schon etwas schwieriger. Letztlich durften Leben und Gedenken der anderen nicht mehr interessieren, auch davon musste Abschied genommen werden, jeder blieb sich selbst der alleinige Verantwortliche. Wie oft hielt Helene die Gifte in ihren Händen, verabreichte sie das eine in kleinen schmerzstillenden und das andere in schlafförderlichen Dosen. Die Schachtel Veronal, die sie für alle Fälle aus der Apotheke mitgenommen hatte, war aus ihrem kleinen, ochsenblutfarbenen Koffer verschwunden. Helene hatte weniger Otta im Verdacht, sie vermutete, dass Fanny während ihrer Abwesenheit in ihren Sachen schnüffelte und beim Anblick der Schachtel nicht hatte widerstehen können. Aber im Krankenhaus gab es genug. Nicht nur Morphine und Barbiturate, schon das Spritzen von ein wenig Luft konnte, so es gelang, tödlich wirken. Das Leben erschien Helene als sinnloses Weiterleben, ein unabsichtliches Überleben, ein Überleben von Carl. Wollte sie die Scham begrenzen, weil es ihr anmaßend und kokett erschien, im Besitz des Lebens sich für selbiges zu schämen, so sagte sie sich, dass ihre Erinnerung an Carl dessen vollkommenes Verschwinden ein wenig aufhalten, hinauszögern würde. Die Vorstellung gefiel ihr — solange sie lebte und in Liebe an Carl dachte, wie auch seine Familie, so lange gab es noch eine Spur seiner Existenz. In ihr und mit ihr und durch sie. Helene beschloss, sie lebte, um ihn zu ehren. Sie wollte eines Tages wieder fröhlich sein und lachen, einzig aus Liebe zu ihm. Wenn er auch nichts mehr davon hatte. Helene glaubte an kein Wiedersehen in einer anderen Welt; es mochte sie geben, diese andere Welt, wohl aber ohne die hiesige Bindung einer einzelnen Seele an einen einzelnen Körper mit ihren ständigen Bedürfnissen nach einer Vereinigung mit anderen, einer Auflösung und Aufweichung der Verdammnis in das einzelne, alleinige. Deshalb ihr Denken, deshalb ihr Sprechen, deshalb ihre Umarmungen. Helene befand sich im Zwiespalt und Widerspruch. Sie wollte kein Denken, kein Sprechen, keine Umarmung mehr mit einem anderen Menschen, mit niemandem mehr. Aber sie wollte Carl weiterleben, nicht ihn über leben, ihn weiterleben; denn was anderes blieb von ihm als ihre Erinnerung. Wie sollte ein Weiterleben möglich sein, ohne Denken und Sprechen und Umarmen? Was zählte, war, den Mechanismus des Lebens nicht zu unterbrechen, das hieß, das Nötigste schlafen, das Nötigste essen, und Helene war erleichtert, dass ihr die Anstellung im Krankenhaus jeden Tag in überschaubare und regelmäßige Einheiten einteilte, ähnlich wie das Pendel der Uhr die Zeit überschaubar erscheinen ließ, ließ die Arbeit im Krankenhaus Helene ihr Leben überschaubar erscheinen. Sie musste nicht darüber nachdenken, wann ihr Leben ein Ende finden würde, sie konnte sich getrost an die Zeiten von Dienstbeginn und Dienstschluss halten. Dazwischen maß Helene Temperaturen, sie zählte Pulsschläge und reinigte Operationsbestecke. Helene hielt die Hände von Sterbenden und Gebärenden und Einsamen, sie wechselte Verbände, Binden und Windeln, ihre Arbeit war nützlich.
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