Draußen war die Luft voll Sonne, der Postbote ging pfeifend seines Weges, er schwang die Tasche vor und zurück, ein leichtes Schlenkern, vielleicht war er schon alle Briefe los, sein Blick streifte Helene, er pfiff freundlich durch die Zähne und nahm es zum Anfang einer bekannten Melodie. Zwei Kinder hüpften mit ihren Schulmappen auf dem Rücken das Pflaster ab, das eine fiel, das andere hatte es geschubst und rannte jetzt unter hämischem Lachen davon. Überall gab es Pfeifen und Pflaster und Hüpfen und Kinder und Wege, all das war keine Absicht, hatte mit Helene im Besonderen gar nichts zu tun, würde vermutlich so sein, wenn sie nicht wäre. Niemand meinte es schlecht mit Helene.
Die Hitze des Sommers ließ die Luft über dem Pflaster flimmern, flüssige Luft, die Bilder verschwammen und Pfützen wurden sichtbar, wo schon seit Wochen keine mehr waren.
Es roch nach Teer, auf der anderen Straßenseite wurde ein Holzzaun schwarz gestrichen, und der Boden unter Helenes Füßen gab leicht nach. Die Straßenbahn quietschte in der Kurve, sie fuhr langsam, das Quietschen zog sich, man hörte die Biege, das Schleifen und Funken, es hörte lange nicht auf. Helene mochte in letzter Zeit das Vage, das Ungenaue, sie lauerte ihm auf, doch sobald sie es zu erkennen glaubte, verflüchtigte es sich. Die Hitze verlangsamte das Treiben der Stadt, sie weichte die Bewohner der Stadt auf, dachte Helene, machte sie biegsam und sanft, sie erlahmte die Menschen. Je leichter Helene wurde, desto drückender lastete die Hitze auf ihr. Das war ihr nicht unangenehm. Helenes Körper war schmal geworden, nicht schwach. Sie hatte auf Leontines Empfehlungen hin im Bethanien eine Stelle bekommen und arbeitete nach Jahren zum ersten Mal wieder als Krankenschwester. Der Apotheker war erleichtert, geradezu entbürdet, hatte er doch zuletzt kaum noch gewusst, wovon er sie bezahlen sollte. Auch im Bethanien erhielt sie vorerst kein Geld, die ersten drei Monate galten als Probezeit, der Lohn sollte kommen, sobald sie ihre restlichen Papiere gebracht hätte. Helene lieh sich fürs erste etwas Geld von Leontine.
Helene war freundlich zu jedermann und sprach doch mit niemandem. Guten Tag, sagte sie im Zimmer sechsundzwanzig zu dem aufgedunsenen Mann, der im Sterben lag. Geht es Ihnen heute besser?
Natürlich, dank Ihrer Pillen gestern abend konnte ich endlich aufhören, mir Gedanken um mein Erbe zu machen, und etwas schlafen.
Die Patienten sprachen gerne mit ihr, nicht nur über ihr Leid, auch über ihre Verwandtschaft, die sich im Umfeld eines Sterbebettes besonders komisch verhalten konnte. So traute sich die Ehefrau des aufgedunsenen Mannes nicht mehr allein an sein Bett, stets kam sie in Begleitung seines jüngeren Bruders, dessen Hand sie mal suchte, mal verstieß, etwas war mit den Händen der beiden, und der Sterbende vertraute Helene an, dass er schon seit einigen Jahren von deren heimlichem Verhältnis wisse, sich aber nichts anmerken ließe, weil er sie guten Gewissens erben lassen wollte. Blieb so nicht alles in der Familie? Keiner der Patienten hätte es je gewagt, Helene zurückzufragen, wie es ihr ginge. Die Uniform schützte sie. Der weiße Kittel war ein stärkeres Signal als jede der Ampeln, die an immer mehr Kreuzungen der Stadt aufgestellt wurden und weithin leuchteten, anzeigten, wer gehen und wer stehen musste. Wer Weiß trug, durfte schweigen, wer Weiß trug, wurde nicht gefragt, wie es ihm ging. Die Höflichkeit war für Helene eine äußere Haltung, die ihre Verzweiflung kaum zähmte, eher fasste, die Anteilnahme am Leiden anderer stützte sie von innen. Sie dachte darüber nach, ob ihr aufgedunsener Patient wohl leichter sterben konnte, wenn er wusste, dass seine Frau ein Verhältnis mit dem Bruder hatte. Vielleicht bildete sich der Sterbende das Verhältnis nur ein, um den Abschied zu ertragen. Es fiel Helene leicht, sich die Namen der Patienten zu merken, ihre Herkunft, ihre Familiengeschichten. Sie wusste genau, in welchem Ton welcher Mensch gefragt werden wollte, und achtete es, wenn ein Kranker das Schweigen vorzog. Konnte Helene nachts einmal einschlafen, wachte sie vom Knirschen ihrer Zähne und vom Weinen auf. Nur wenn sie träumte, dass Carl zurückkam, sie umarmte und sich wunderte, weil er Helene und seine Familie in Schrecken und Trauer gestürzt hatte, und ein Missverständnis aufklärte, wo er doch gar nicht gestorben war, schlief sie gut. Doch war das Aufwachen nach solchen Nächten und die Rückkehr in ihr Leben, die Ankunft in so einen nächsten Tag ihres Lebens, einen selbstverständlichen, unerfragten, ungebetenen und gar nicht vorstellbaren Tag ihres Lebens schwer. Was war das, ihr Leben? Was sollte das sein, sollte es überhaupt etwas, es etwas, sie etwas? Helene versuchte zu atmen, leicht zu atmen, zu leicht. Ihr Brustkorb wollte sich nicht dehnen, kaum gelangte Luft hinein. Sie musste daran denken, wie es war, wenn man als Kind hinfiel, hinschlug, der Länge nach, und die Lunge durch den Aufschlag zusammenfiel, das Atmen wurde für eine Ewigkeit unmöglich, der Mund geöffnet, die Luft am Mund, aber der Körper sonst war dicht, verschlossen. Geläufig leben, äußerlich unbemerkt weiterleben, das fiel erstaunlich leicht. Sie war gesund, sie konnte jeden Finger einzeln strecken und beugen, sie streckte jeden Finger, alle Zehen beugen und strecken, weit auseinander, bis sie nach einer kurz geratenen Hand aussahen, den Kopf auf die Seite legen, ihr Körper gehorchte und die vegetativen Unregelmäßigkeiten waren keineswegs hinderlich, Helene konnte arbeiten, auch wenn sich das Herz manchmal überschlug und das Atmen schwerfiel.
Die anderen Schwestern verabredeten sich zu Bällen, sie unternahmen Mondscheinfahrten und fragten auch Helene immer wieder, ob sie mitkommen wolle. Im Umkleideraum probierten sie kurze Hosen an, mit denen man sich am Wannseestrand zeigen wollte.
Etwa so, die junge Schwester, die von allen kess genannt wurde, stellte ihre Hüfte aus und streckte dabei unverdrossen ihren Po aus. Die Geste gefiel Helene, sie musste an Leontine denken, etwas an der kessen Schwester erinnerte sie an Leontine. Burschikos, wie sie mit ihrem kurzen Haar und kurzen Hosen da stand und den anderen Schwestern ihren Po zeigte, dabei schaute sie streng und schelmisch in die Runde. Dann durfte eine andere das knappe Höschen anprobieren. Ob Helene nicht auch mal wolle, überhaupt müsse sie einmal mitkommen ins Strandbad. Helene lehnte ab, sie behauptete, sie habe bereits etwas vor. Sie erfand eine Tante, die sie pflegen müsse, sie wollte ihre Ruhe haben. Das Kichern und leichte Lachen der Schwestern war angenehm, solange es sie in Ruhe ließ, Hintergrund der Stille blieb, sobald es sie einbeziehen wollte, sich an sie wendete, Antwort und Teilhabe verlangte, strengte es an. Sie könne auch nicht schwimmen, gab die kesse Schwester preis, vielleicht vermutete sie, dass Helene nicht schwimmen konnte und sich aus Scham oder Unbehagen den Schwestern nicht anschließen wollte.
Das macht nichts, die meisten Mädels lernen in diesem Sommer erst schwimmen, nicht wahr? Ja, riefen die Schwestern unbeschwert im Chor. Helene mochte die anderen Schwestern, ihr gefiel deren Fröhlichkeit. Helene wollte kein Mitleid, kein ratloses Schweigen, sie erzählte keiner der Schwestern von Carl und seinem Tod.
Im Herbst sagte eine ältere Kollegin, Helene sehe ausgemergelt aus. Dürr. Man habe schon länger einen Blick auf sie. Ob sie krank sei. Aus dem Fragezeichen hörte Helene das Wort Schwindsucht. Sachte Hoffnung glomm auf. Helene verneinte, wurde aber zum Arzt bestellt, man wollte kein Risiko auf der Infektionsstation.
Helene war nicht krank, nur ihr Puls ging etwas schnell, das Herz manchmal unregelmäßig. Der Arzt fragte sie, ob sie Schmerzen habe, ob ihr etwas an sich auffalle. Helene sagte, manchmal habe sie Angst, ganz plötzlich, aber sie wisse nicht, wovor. Ihr Herz schlug schnell, so schnell, dass es sich überschlug und keinen Platz in ihrer Brust zu haben schien. Der Arzt hörte ein zweites Mal ihre Brust ab, fast zärtlich setzte er das kalte Metall auf ihre Brust, die sich nirgends mehr sanft erhob, unter der man die Rippen spürte, er lauschte auf ihr Herz und schüttelte den Kopf. Ein kleines Geräusch, das haben manche. Nichts Schlimmes. Die Angst, nun ja, vielleicht gebe es doch Ursachen? Helene schüttelte den Kopf. Sie wollte nichts von Carl erzählen. Nichts davon, dass sie seither nicht mehr blutete. Vielleicht trank sie einfach zu wenig. Wen ging das etwas an? Sie hatte Leontine im Frühjahr in der Charité besucht und sie gebeten, sie zu untersuchen. Aber Leontine hatte ihr versichert, dass sie nicht schwanger sei. Nur kurz hatte Helene eine Enttäuschung gespürt. Wovon hätte sie ein Kind auch ernähren sollen? Es war bloß ihr Herz, das manchmal verrückt spielte. Der Brustkorb, der zu eng schien. Ihre größte Angst war die Angst vor der Angst.
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