Helene trat unter der Markise hervor, sie wandte sich einige Schritte nach links zum Tauentzien, zur Fahrbahn hin, er mochte von dort kommen, prüfend sah sie sich um, mochte er bloß kommen, vier Himmelsrichtungen langten nicht an diesem Ort, sie wusste nicht, woher er kommen würde. Sie kannte die großen Schiffe von der Elbe bei Dresden. Die Uhr zeigte fünf nach eins. Plötzlich glaubte Helene zu wissen, warum er sie so eilig treffen musste. Erleichtert musste sie lachen. Er hatte die Ringe gekauft. Helene rückte ihren Hut zurecht. Dass sie daran nicht gedacht hatte! Er wollte sie überraschen, kein Zweifel. Womöglich wollte er sie drinnen treffen, drinnen im Lokal, und sie hatte es bloß nicht verstanden? Zur Feier des Tages wollte er sie zum Essen einladen. Helene schaute sich um. Sie konnte schlecht reingehen, dann würde sie womöglich seine Ankunft verpassen. Ein Auto hupte. Konnte diese Frau mit ihren zwei Kindern nicht schneller gehen? Die Verkehrsverhältnisse wurden aber auch immer schlimmer, und wenn dann noch so ein Wetter hinzukam. Helene sah zur Uhr hinauf. Es war viertel nach eins. Vielleicht war er aufgehalten worden. Es war nicht Carls Art, zu spät zu kommen. Wenn sie verabredet waren, stand er meist schon am ausgemachten Ort und erwartete sie. Helene blickte wieder in jede Richtung, sie wandte sich einige Schritte nach rechts, auch aus der Budapester Straße konnte er kommen. Der Platz um die hohe Kirche, die Gehwege, die Fahrbahnen, alles war unübersichtlich, trotz Sonnenschein. Litfaß säulen, Menschen, die vor den Kiosken Schlange standen. Der Schneematsch ließ die Wagen und Passanten schliddern, ein Kutscher musste seine Peitsche immer wieder schwingen, damit sich sein Pferd bewegte. Helene trat von einem Fuß auf den anderen, ihre Füße waren nass und kalt. Ihr fiel das gestürzte Pferd ein, am ersten Tag, als sie gerade in Berlin angekommen waren. Ob das Pferd gestorben war? Infarkt des Herzens, des Hirns, der Lunge. Eine Embolie. Sie hatte sich vorgenommen, ihre Schuhe noch diese Woche zum Schuster zu bringen. Heute wäre ein guter Tag gewesen, heute hätte sie Zeit gehabt. Weil sie kein zweites Paar Stiefel besaß, würde sie beim Schuster warten müssen, bis er sie genäht und frisch besohlt hätte.
Wenige Minuten vor halb zwei beschloss Helene, drinnen im Lokal zu schauen, wenn Carl bis um halb nicht da sein sollte. Vielleicht wollte er ihr einen Wunsch erfüllen und endlich mit ihr Rollschuhlaufen gehen, er war hinüber zu der großen Rollschuhbahn gegangen, um sich nach den Modalitäten einer Miete und eines Billets zu erkundigen. Es sollte teuer sein. Die russischen Mädchen aus Helenes Gymnasialkurs hatten häufig über die Rollschuhbahn und ihre neuesten Bekanntschaften gesprochen, sie trafen sich regelmäßig dort und drehten Pirouetten. Die Mädchen waren alle jünger als Helene, sie kamen aus guten jüdischen Familien. Rollschuhlaufen musste ein Vergnügen sein. Helene wartete, bis der lange Zeiger auf der Sechs, auf der Sieben und schließlich noch, bis er auf der Acht stand. Dann ging sie hinein.
Der Saal war gut besucht. Die Gäste saßen an den kleinen Tischen, sie vermehrten sich in den Spiegeln, die hoch hinauf bis unter die Decke reichten. Es war Mittagszeit, manche speisten Rouladen und Kartoffeln, es roch nach Wirsingkohl. Ein vornehmer Herr in Schwarz winkte einem zweiten, auffallend lässig gekleideten Herrn mit heller weiter Hose, Hosenträgern über einem ungebügelten Hemd und flachem, weißen Hut, es fehlte nur die Palette in der Hand; hier zog man sich gerne in eins der vornehmen Séparées zurück. Aus hohen Gläsern wurde Wein getrunken. Helenes Hals schnürte sich zu, sie blickte sich um, tatsächlich saß an manchem Tisch ein einzelner Gast, ältere und jüngere, aber kein Carl. Die Uhr über der getäfelten Bar zeigte Viertel vor zwei. Warum schlug ihr Herz so heftig? Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Helene trat aus dem Lokal hinaus auf den Kurfürstendamm. Es gab einen kleinen Menschenauflauf, eine ältere Dame rief immer wieder Dieb, Dieb. Andere hielten einen Jungen fest, er war wohl erst zehn oder zwölf. Er wehrte sich nicht, er weinte. Lausbengel, sagte einer der Männer, die ihn festhielten. Aber der alten Dame war das zu wenig. Sie schimpfte: Bengel wie dich sollte man einsperren, warte nur, bis die Polizei da ist!
Helene wollte nicht länger warten. Sie wusste, dass Carl nicht mehr kommen würde.
Vielleicht hatten sie sich missverstanden und er hatte eine andere Uhrzeit gemeint? Sie wusste genau, dass er um eins gesagt hatte. War es nicht möglich, er hatte etwas anderes gemeint? Vielleicht einen anderen Ort? Sie hatten sich schon häufig an dieser Ecke hier getroffen. Vielleicht wollte er sie heute woanders treffen und hatte versehentlich diesen Ort genannt, dabei aber an einen anderen gedacht? Helene wusste nicht, wohin sie sich wenden, wohin sie gehen sollte, sie spürte Angst und sagte sich doch, sie müsste keine Angst haben. Sie ging zum Kiosk und kaufte Zigaretten. Es war das erste Mal, dass sie sich Zigaretten kaufte. Sie hätte das Geld dringend für den Schuster benötigt, aber sie wollte jetzt nicht an einen Schuster denken, sie wollte eine Zigarette rauchen. Eine Zigarettenspitze besaß sie nicht, sie würde ohne rauchen müssen. Zwei Zündhölzer brachen ab, ehe es ihr gelang, die Zigarette anzuzünden. Ein Tabakstückchen löste sich und schmeckte bitter auf der Zunge. Es war nicht leicht, es mit den behandschuhten Fingern zu fassen zu kriegen. Helene wusste nicht mehr, in welche Richtung sie schauen sollte. Sie stand inmitten der vorübereilenden Menschen, deren Mittagspause wohl zu Ende war und die an ihren Arbeitsplatz zurückeilen mussten, manch einer mochte verabredet sein und musste hinüber zum Bahnhof laufen und einen Zug nach Westen bekommen.
Der Wind blies ihr entgegen, Westwind, von der Gedächtniskirche her. Helene wollte tief atmen, den Rauch einsaugen. Süden, Osten, Norden. Doch ehe sie den Rauch bis tief in die Lunge ziehen konnte, verschlossen sich schon die Bronchien und Helene musste husten. Also paffte sie. Wölkchen kamen aus ihrem Mund. Der etwas säuerlich bittere Rauchgeschmack verursachte eine angenehme Übelkeit. Sie nahm schnelle, kurze Züge, blähte ihre Backen so weit es ging und ließ schließlich den Stummel in den Matsch zu ihren Füßen fallen, wo er sofort erlosch.
Helene wusste nicht, wohin sie gehen und nach Carl suchen sollte. Sie lief den Tauentzien hinab zur Nürnberger Straße, sie lief um verschiedene Blöcke, vorbei an ihrer Schule, die sie seit einigen Monaten nicht mehr besuchen musste, und bog erst bei hereinbrechender Dunkelheit in die Geisbergstraße ein. Schon von der anderen Seite des Platzes her sah sie das schwarze Dach, kein noch so schwaches Licht brannte oben in der Kammer.
Dennoch ging sie hinauf und prüfte, ob jemand gekommen war. Die Tür zur Kammer war verschlossen. Das Zimmer lag so da, wie sie es am Morgen verlassen hatten. Helene zog ihren Mantel nicht aus. Sie ging die Treppe wieder hinunter, vorbei an jenem jungen Mann, der im dritten Stock wohnte und häufig seinen Schlüssel vergaß, weshalb er mit einem Stapel Papier, auf das ein zu bearbeitendes Theaterstück oder Drehbuch geschrieben sein mochte, bei seinen Vermietern vor der Tür saß und wartete, bis jemand kam und ihm aufschloss. Meist hielt er einen Stift in der Hand und kritzelte etwas an den Rand der vollgetippten Seiten. Helene lief die Bayreuther Straße hinunter bis zum Wittenbergplatz und über die Ansbacher Straße wieder zurück bis zur Geisbergstraße, zum Viktoria-Luise-Platz, hinauf bis unter das Dach und wieder raus auf die Straße. Der Untermieter aus dem dritten Stock hatte wohl inzwischen Einlass gefunden.
Helene fragte sich nicht mehr, weshalb Carl sie heute Mittag so dringend sprechen wollte, sie hoffte nur noch, dass er auftauchen und sie einander in die Arme fallen konnten. Er musste aufgehalten worden sein. Helene rauchte eine zweite Zigarette, bei der dritten Runde eine dritte, und schließlich hatte sie acht Zigaretten geraucht. Ihr war speiübel, Hunger verspürte sie keinen.
Читать дальше