Nein, Carl senkte den Kopf, nein, das ist die falsche Herangehensweise, Technik und Wissenschaft sind unmittelbare Kinder der göttlichen Erkenntnis. Es ist nur konsequent, dass der Mensch sich nicht dem Licht allein entzieht, dem Licht der Erkenntnis. Das lässt sich nicht trennen. Der Mensch zieht Lehren. Ob deshalb Gebete zu einem Gott etwas nützen, das weiß ich auch nicht. Ich wollte Gott keine menschlichen Züge verleihen, er spricht nicht, wie es heilige Schriften vorschlagen, er richtet nicht. Jegliche moralische Kapazität, alles Menschliche würde ich Gott absprechen. Gott lässt sich besser als Prinzip beschreiben, er ist das weltliche Prinzip. Der Glaube an ihn als die Metamorphose einer Person ist allein den Affekten des Menschen anzulasten. Carl zog an seiner Pfeife.
Die Katastrophen verursacht heute der Mensch, schau dir den Krieg und seine Helden an. Konnten wir uns von ihm erholen? Und was war schlimmer, die materielle Einbuße, der Verlust von Menschenleben oder die Kränkung? Leontine stand auf, sie ging zu dem großen Samowar, der als einziger Gegenstand noch auf der langgestreckten Konsole stand, und drehte den Hahn auf. Die Helden des Krieges waren andere. Das Wasser war zu heiß, sie hielt das kleine Glas nur an die Lippen, ohne trinken zu können. Sie sprach über den Rand des heißen Glases hinweg: Keine zehn Jahre später und schau, wie die Menschen seit Tagen an den Kiosken lauern und ihrem Händler die Vossische aus der Hand reißen. Wenn sie sich auf Remarque stürzen und seine Kriegsschilderungen aufsaugen, betrachten sie ihr eigenes Machwerk. Wir sind uns selbst genug.
Eben nicht, wären sie sich selbst genug, so hätten sie keinen Hunger, weder geistigen noch physischen. Carls Stimme verlor ihre Leichtigkeit, seine sonst einfach schnell gesprochenen Worte wurden nur noch halb ausgesprochen. Ich möchte mich korrigieren, ich möchte nicht behaupten, dass wir dem Menschen und seinen Affekten auch nur das Geringste anlasten sollten. Eher sollten wir nach dem göttlichen Prinzip schielen, das meiner Ansicht nach wie gesagt kein moralisches ist. Hören wir auf, den Menschen auf sein Gutes und Schlechtes zu belauern, haben wir Mitgefühl mit dem Sein des Menschen.
Du bist verrückt, Helene sagte es freundlich und unbestimmt, sie war sich dieser Annahme keineswegs sicher, sie richtete sich auf, streckte sich auf ihrer Chaiselongue und machte einen Katzenbuckel. Dann breitete sie ihre Arme aus und ächzte befreiend.
Für mich als Ärztin ist das Maß von Mitgefühl entscheidend. Ich möchte dem Menschen helfen, dass er lebt, möglichst gesund. Der Schmerz ist schlecht, also belauere ich den Menschen, ich untersuche die Ursache des Schmerzes, ich will sie beheben. Leontine trank einen kleinen Schluck vom schwarzen Tee und setzte sich wieder. Sie fuhr sich mit der Hand durch das kurze schwarze Haar. Sie rückte vor, saß am Rande des Polsters und stellte ihre Beine in der Weise nach außen, wie sie es schon als junges Mädchen getan hatte. Es war ein Rätsel, wo sie diesen grob gewebten Hosenrock aufgetrieben hatte, er erinnerte an die Jupe-Culotte, die Helene nur noch aus alten Modezeitschriften kannte. Leontine stützte den einen ausgestreckten Arm auf ihr Knie und mit dem anderen hielt sie, angewinkelt, den Ellenbogen nach außen zeigend, das Teeglas. Eine Herausforderung lag in ihrem Sitzen, eine Haltung, die Helene heute so aufregend wie früher, aber zum erstenmal unweiblich erschien.
Helene stellte ihre Füße auf den Boden und bückte sich auf der Suche nach ihren Schuhen. Carl, sagte Helene, insbesondere wenn du die Moral für ein Kennzeichen des Menschen hältst, sollten wir dieses ursprünglich menschliche Maß nicht verachten.
Ich verachte es nicht, ich schlage lediglich vor, es zu missachten.
Den Kopf zum besseren Sehen auf den Boden gelegt, langte Helene mit dem Arm tief unter die Chaiselongue. Ihr Gesicht war von Anstrengung verzerrt, sie blickte hinauf zu Carl: Lass uns lieber noch ins Kino gehen. Morgen arbeite ich bis sechs und die Schule geht bis zehn. Helene hatte ihre Stiefel gefunden, zog sie an und schnürte sie zu. Der November machte die Stadt grau, man musste sich warm anziehen und möglichst mehrmals in der Woche ins Theater oder Kino gehen, um die Farb losigkeit der Tage zu erdulden. Carl blieb auf seinem Stuhl sitzen und rauchte weiter. Es war unklar, ob er überhaupt gehört hatte, dass Helene ihm einen Vorschlag gemacht hatte.
Ich bewundere Sie, Leontine, deshalb lassen Sie mich Ihnen noch etwas erwidern. Meines Erachtens ist der Schmerz der einzige Zustand, den wir nicht mit den gewöhnlichen Affekten gleichsetzen dürfen. Der Schmerz ist es, der den Menschen dazu veranlasst, sich eine Zukunft vorzustellen, und sei es die Utopie, das Paradies. Wenn Sie als Ärztin das Leid des Menschen verringern, ist das gut für den Einzelnen, aber schlecht für Gott. Das Prinzip Gott baut auf den Schmerz. Erst wenn der Schmerz in der Welt ausgelöscht wäre, könnten wir von der Vernichtung Gottes sprechen.
Was ist, wollen wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in Friedenau ankommen? Martha stand schon in der Zimmertür und hoffte, dass Leontine sich endlich aus ihrem Gespräch mit Carl lösen konnte.
Leontine sah den mehr als zehn Jahre jüngeren Carl an, in ihren Ausdruck gelangte etwas von Traurigkeit und Ergeben. Ihre Stimme war zugleich tragend und fest, als sie sagte: Grausam. Sie machte eine Pause, schien sich besinnen zu müssen. Ihre Sicht ist grausam, Carl. Das ist der richtige Augenblick zum Aufbruch. In Leontines Stimme mischte sich eine gewisse Härte, die fast bitter klang. Wenn man Ihnen zuhört, möchte man meinen, dass die Priester, über Ihre Rabbiner weiß ich zu wenig, dass die Priester also mit ihrem Versprechen auf Linderung des Schmerzes die ersten Ketzer waren. Eine organisierte Bande, die Christen? Leontine schüttelte den Kopf. Verachtung trat in ihr Gesicht. Sie blickte weg, blickte zu Martha, die noch immer an der offenen Flügeltür wartete. Leontine stand auf, sie legte ihre Hand auf Marthas Arm. Komm, Martha, wir gehen.
Die beiden Frauen verließen das Zimmer. Man hörte sie im Flur leise, wenige und kurze Sätze reden. Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss. Helene traute sich nicht, Carl anzusehen. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus. Carl rauchte und saß da, seine schmale Gestalt sah im Gegenlicht wie die eines alten Männleins aus. Er war es nicht gewohnt, mitten im Gespräch verlassen zu werden. Helene verschränkte die Arme. Sie überlegte, was sie Aufmunterndes zu ihm sagen könnte, zugleich spürte sie, dass sie ihn nicht aufmuntern wollte. Er hatte ihren Einwurf vorhin schlicht überhört, vermutlich hatte er ihr nicht einmal absichtlich das Gehör verwehrt.
Um sechs könnten wir Pat und Patachon sehen, das schaffen wir noch. Helene sagte es fast beiläufig, sie war jetzt ebenfalls zur Tür gegangen und hoffte, dass er endlich aufstehen und ihr folgen würde.
Leontine hat die Kränkung angesprochen, Carl sprach jetzt langsam und blieb im Satz hängen. Sein Blick ruhte auf dem Stuhl, auf dem Leontine zuvor gesessen hatte. Es fiel ihm schwer, mit dem Verlust seines Gegenübers zu denken. Sie hat den Wunsch genannt, den Wunsch nach Helden, zumindest Heldentum. Ich halte es nicht mit dem Heldentum eines Arthur Trebitsch. Es gibt weder die Erlösung einer nordischen Rasse noch die jüdische Weltverschwörung. Tragisch ist, dass mit der Beendigung eines persönlichen Leids, sagen wir durch den Tod, bestimmte Ideen niemals, und vielleicht sogar keine einzige jemals, verloren gehen. Sie entwickeln sich außerhalb des Einzelnen, der an ihnen auf die winzige Lebenszeit hin gedacht hat, weiter. Der Urheber lässt sich nicht feststellen, weil dieses Gebräu menschlichen Geistes, vom Leid geprägt und befruchtet, im Zweifel an sich selbst, keinen Beginn und kein Ende besitzt. Diese Uferlosigkeit macht mich ganz schwach. Es gibt keinen Saum der Menschheit. Der Mensch vertreibt Gott von seiner Erde. Und ab in die Glutenkiste.
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