Helene hielt sich die Ohren zu. Sie war nicht aufgestanden, als einzige wohl weit und breit, sie beugte sich vornüber, das Kinn auf der Brust, das Gesicht ihrem Schoß entgegen und wollte am liebsten in ihrem Sessel verschwinden. Sie wäre gern gegangen. Es dauerte über eine Stunde, ehe sie den Saal verlassen konnten. Die Menschen verstopften die Ausgänge, blieben stehen, klatschten, liefen rückwärts, schoben sich und drängelten. Es war stickig geworden, Helene schwitzte. Der Aufruhr ängstigte sie. Jemand boxte ihre Schulter, es sollte wohl einem jungen Mann gelten, der rechtzeitig ausgewichen war. Helene ließ Carls Hand nicht los, Menschen drängten sich zwischen sie, immer wieder drohten sie auseinandergerissen zu werden. Helene war übel. Raus, dachte sie, nur raus.
Carl wollte die Friedrichstraße entlanggehen und unter die Linden. Das Wasser im Kanal war schwarz, oben fuhr eine S-Bahn vorüber. Helene beugte sich auf der Brücke über die steinerne Balustrade und erbrach sich.
Dir hat es nicht gefallen. Er fragte es nicht, er stellte es fest.
Du bist ja ganz verliebt.
Ich bin begeistert. Ja.
Helene suchte nach ihrem Taschentuch, sie fand es nicht. Der säuerliche Geschmack im Mund ließ die Übelkeit nicht vergehen. Ihr war ein wenig schwindelig, und so hielt sie sich am Stein der Balustrade fest.
Ist das nicht der Aufbruch, die wahre Moderne? Wir sind alle Teil des Ganzen, die Grenzen zwischen Wesen und Darstellung werden brüchig. Das Sein und sein Schein, sie nähern sich an. Die Menschen haben Hunger, hast du das nicht bemerkt, sie dursten nach der Welt, die sie selbst bestimmen.
Was redest du? Welche Welt bestimmen sie? Du sprichst von Begeisterung, der Pöbel brüllt. Mich ängstigt das, die gnadenlose Selbstherrlichkeit in allen Schichten. Helene musste aufstoßen, ihr Schwindel bäumte sich, auf und nieder, die Übelkeit, sie wandte Carl den Rücken zu und krümmte sich wieder. Wie schön rau und fest der Sandstein war.
Carl legte ihr jetzt seine Hand auf den Rücken. Liebe, bist du krank? Meinst du, die Königsberger Klopse waren schlecht?
Helene hing mit dem Gesicht gen Wasser und stellte sich vor, dort hineinzuspringen. Aus ihrem Mund zogen Fäden, ihre Nase lief, ihr Taschentuch fehlte.
Er konnte ja nicht wissen, dass ihr ein Taschentuch fehlte, bloß ein Taschentuch, um sich wieder aufzurichten. Also musste sie ihn fragen: Hast du ein Taschentuch?
Natürlich habe ich eins, hier. Komm, lass dir helfen. Carl sorgte sich um sie, aber Helene wurde wütend.
Wie kannst du so einfältig sein, wie das Begeisterung nennen? Du liest Schopenhauer und Spinoza und wirfst dich an so einem Abend in die Menge, als gäbe es kein Morgen, kein Ges tern, einfach gar nichts als das große Bad des kleinen Mannes.
Was hast du gegen den kleinen Mann?
Nichts. Helene bemerkte, wie sie die Lippen aufeinanderpresste. Ich achte ihn. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass sie selbst eine kleine Frau war. Aber was nützte das? Also sagte sie: Der Kleine ist der Kleine nicht, der Große nicht der Große. Vielleicht muss man wie du aus großbürgerlichen Verhältnissen kommen, um sich auf diese Weise am kleinen Mann zu erfreuen. Öffne deine Augen, Carl.
Carl umarmte sie jetzt. Lass uns nicht streiten, bat er.
Warum nicht, fragte Helene leise, ihr war ein Streit lieber als die ihr offenbare Entgeisterung Carls als Begeisterung anzuerkennen. Das Stück war eine einzige Aneinanderreihung von Gassenhauern.
Carl hielt Helene beschwichtigend seine Hand auf den Mund. Psch, psch, sagte er, als weine sie und wolle er sie trösten. Ich könnte es nicht ertragen, wenn wir uns entzweien.
Das werden wir nicht. Helene strich den Kragen seines Mantels glatt.
Ich liebe dich. Carl wollte Helene küssen, aber sie schämte sich für ihren sauren Mund. Sie neigte ihren Kopf zur Seite.
Wende dich nicht ab, Liebe. Ich habe nur dich.
Helene musste plötzlich lachen. Ich wende mich doch nicht ab, lachte sie. Wie kannst du das denken? Ich habe mich übergeben, mir ist schlecht, und ich bin müde. Lass uns nach Hause gehen.
Dir ist schlecht, wir nehmen ein Taxi.
Nein, lass uns gehen, ich brauche Luft.
Sie gingen lange durch die Nacht und schwiegen ebenso lang. Die schmalen Holzbrücken im Tiergarten knarrten und verströmten ihren modrigen Geruch. Im Dickicht raschelte es, die Ratten flohen vor ihnen über den Weg. Unter der Linde nahe der Schleuse blieben sie stehen, sie hörten die Affen aus ihrem Gehege in die Nacht brüllen.
Carl erschien es seltsam, als Erster das Wort an sie zu richten. Was er sagen wollte, hätte ohnehin in keinem Gespräch Platz gefunden. Er bückte sich und hob ein Lindenblatt auf. Unverwundbar, gibt es das? Er hielt sich das Lindenblatt vor die Brust, etwa dorthin, wo die meisten Menschen ihr Herz vermuten. Helene legte ihre Hand auf seine und führte sie vorsichtig zur Mitte hin. Sie sagte nichts. Carl ließ das Blatt fallen, er nahm ihre beiden Hände in seine und glaubte, sie müsste sein Herz in seinen Handflächen schlagen spüren. Ich könnte dich fragen, ob du meine Frau werden möchtest, hörte er sich sagen. Du bist jetzt einundzwanzig. Deine Mutter ist Jüdin, meine Eltern werden nichts gegen meine Wahl vorbringen.
Du könntest mich fragen. Ihre Augen verrieten nicht, was sie dachte. Forschend sah er sie an.
Dein Schuh ist offen, sagte sie, ohne zu seinen Füßen zu schauen. Offenbar war ihr das schon vor längerer Zeit aufgefallen. Carl bückte sich, er band seinen Schuh zu.
Du kennst meine Mutter nicht, meinen Vater nicht, niemanden.
Ich kenne Martha. Was kümmern mich deine Eltern, meine kümmern dich ebensowenig. Das hier ist etwas zwischen uns beiden, nur zwischen uns. Versprichst du mir, meine Frau zu werden?
Der Schrei eines Affen gellte zu ihnen herüber. Helene musste lachen, aber Carl sah sie ernst an, er wartete auf Antwort.
Sie sagte Ja, sie sagte es schnell und leise und im ersten Augenblick fürchtete sie, er könnte es nicht gehört haben, im nächsten hoffte sie es, weil es so schwach geklungen hatte und sie es gerne frei und voll gesagt hätte. Ein zweites Ja hätte das erste noch unentschlossener und feiger erscheinen lassen.
Carl zog Helene zu sich und küsste sie.
Rieche ich nicht vergoren?
Carl stimmte zu. Ein wenig, ja. Vielleicht habe ich zu lange gewartet?
Er nahm ihre Hand. Das Eis war gebrochen. Vielleicht schenkst du mir Kinder, sagte er und stellte es sich schön vor, wenn sie zwei, drei Kinderlein bekämen.
Helene war wieder ins Schweigen verfallen, sie gingen nebeneinander.
Könnte es sein, dass dir übel war, weil du ein Kind erwartest? Carl freute sich über seinen Einfall.
Helene blieb auf der Stelle stehen. Nein.
Was macht dich so sicher?
Ich weiß es, ganz einfach. Sie lachte. Glaub mir, eine Krankenschwester wüsste auch gut, wie sie dem abhelfen könnte.
Während Helene noch fröhlich war, war Carl schon erschrocken.
So etwas sollst du nicht sagen. Das möchte ich nicht. Du willst doch auch Kinder?
Sicher, aber nicht jetzt. Ich möchte die Schule beenden, ich ha be noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass ich studieren kann. Ich arbeite viel und bekomme kaum das Geld für eine Miete.
Wir. Du kannst dich auf mich verlassen. Schenkst du mir Kinder, schenk ich dir ein Studium. Carl meinte es ernst.
Willst du handeln?
Meine Eltern werden uns unterstützen.
Ja, vielleicht. Deine Eltern, die ich noch gar nicht kenne. Carl, ich muss dir etwas sagen. Ich schenke einem Mann keine Kinder. Kinder lassen sich nicht schenken. Die Christen schenken ihrem Herrn etwas, sie schenken Liebe. Vorhin, im Theater, da war vom Schenken die Rede. Ich halte das für Unsinn. Ich will mir auch kein Studium von dir schenken lassen.
Warum nicht? Mein Vater hat mir Geld in Aussicht gestellt, wenn ich das Examen mit Auszeichnung bestehe.
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