Wie ein Tier verkroch sich das Mädchen hinter dem Sofa, als Isabelle aufstand, ihr war kalt, sie schaute sich um, sah eine Decke, aber es ekelte sie, etwas anzufassen, ziellos ging sie hin und her, dann ans Fenster, sah die Kleider, wo Jim sie hatte fallen lassen, ein älterer Mann, anscheinend einer der Hausbewohner, öffnete das Törchen, blickte irritiert auf den Haufen, schob ihn mit einem Fuß zur Seite. Sie klopfte, nackt wie sie war, nicht ans Fenster, streckte sich aber, als er im Haus verschwunden war, nach dem Sicherheitsriegel und probierte, ob sich das Fenster hochschieben ließ. Es würde leicht sein hinauszuklettern. Sie schloß es wieder, zog den Vorhang halb zu, damit man sie nicht sehen konnte. Vom Sofa kam ein leises, gleichmäßiges Geräusch, Isabelle beugte sich vor, wo zwischen Lehne und Wand Sara kniete, ein Stück von der blauen Jacke im Mund, lutschend, kauend, das Gesicht verschwollen. Es war so still. Isabelle kam es vor, als ob einzig Sara sie daran hinderte zu gehen. Alle weiteren Schritte waren klar und einfach, sie mußte im Schlafzimmer nach etwas zum Anziehen suchen oder warten, bis es dunkel war, hoffen, daß niemand die Kleider fortnahm, dann nackt die wenigen Stufen hinauflaufen, die Kleider holen. Sie mußte das Kind zum Arzt bringen. Am Ende würde sie all das getan haben, wußte sie, es war sinnlos, etwas aufzuschieben. Aber es war nicht dunkel, und sie stand da, zitternd, wünschte, sie könnte dem eigenen Körper ausweichen, den sie vor sich sah wie auf den Fotos von Alexa, nackt und fremd.
Sara kroch hinter dem Sofa vor, einen Zipfel der Jacke fest in der Hand. — Dave, sagte sie, ohne aufzuschauen. Isabelle roch den Urin, bevor sie den dunklen Streifen auf dem Teppich sah. — Polly, sagte Sara und fing an zu weinen, lautlos, die Tränen liefen aus ihren Augen, als würde sie es nicht bemerken, Isabelle hörte, wie sie auf den Teppich tropften, wo die Schnipsel des Umschlags, der Farbfotos verstreut lagen, Büschel von ihrem Haar.
Im Schlafzimmer fand sie auf dem Bett ein T-Shirt und eine Jeans, beides schmutzig, Jims Geruch so intensiv, daß sie würgte, aber sie schlüpfte herein, hastig, spürte an ihrer Scham den harten Stoff, die Hose mußte sie hochkrempeln, am Bund mit der Hand festhalten, da war kein Gürtel, noch ein Unterhemd, das sie für Sara mitnahm ins Bad, wo sie kein Licht anschaltete, und sie mußte rufen, Saras Namen rufen. Aus einer der oberen Wohnungen hörte man ein Radio, viel zu laut, eine Stimme, die hell jubelnd aufstieg, irgendeine Arie, dann setzte das Orchester ein, jemand schrie etwas, und das Radio wurde leise gestellt. Über dem Rand der Badewanne lag ein Handtuch, sie hielt eine Ecke unter das warme Wasser, wollte rufen, aber es gab nur ein kleines, ängstliches Ausatmen, sie hielt die Hand vor die Augen, preßte sie gegen die Stirn, als hätte irgend etwas in ihrem Inneren sich gelöst, als zerbreche es, etwas, das man nie aufsammeln und kleben würde, weil man zu müde oder zu ratlos war, weil man wußte, daß ein Stück doch fehlte, daß es sich nie zu dem zusammenfügen würde, was man gewollt hatte. Jakob, dachte sie vorsichtig, als könnte er ihren Gedanken hören und sie hier sehen. Sie würde ihn nicht anrufen. Daß man ihr nichts ansah, hatte Jim gesagt. Sie wagte durch das Halbdunkel einen Blick in den Spiegel und schreckte zurück. Aber wenn sie sich kämmen würde, die Haare zusammenbinden, würde keiner merken, daß ein Büschel fehlte. Sie nahm das feuchte Handtuch und ging ins Wohnzimmer. Da lag Sara, die Jacke im Mund. — Sara, Isabelle flüsterte, kniete vor ihr. Umfing vorsichtig mit den Händen das Gesicht, aus dem sie die Augen leer anblickten. Griff mit der Rechten nach dem Handtuch, wischte über das verkrustete Blut. Stand auf, ging ins Bad, spülte das Handtuch aus, kehrte zurück. Jede Bewegung legte ein kleines Stück Zerstörung frei, die aufgeplatzte Lippe, die blutige Lücke, wo zwei Zähne fehlten, die Nase, die gebrochen war, einen Bluterguß, geschwollen. Vorsichtig hob sie das Kind auf, es fand mühsam auf die Beine, trottete dann hinter ihr ins Bad. Es ließ sich das Gesicht, die Hände mit warmem Wasser waschen, ein weiteres Handtuch, kalt, auf die Schwellung legen. Folgte Isabelle ins Wohnzimmer, zum Fenster, schaute zu, wie Isabelle nach ihrer Handtasche suchte, hinauskletterte. — Polly, sagte Sara. Isabelle nickte, log. — Komm, vielleicht ist sie wieder zu Hause. Sie lief die paar Stufen hinauf, es dämmerte schon. Die Kleider waren nicht mehr da, ein Stück blaugrünen Stoffs guckte aus der Mülltonne heraus, über dem Rest lag eine aufgeplatzte Mülltüte. Sara versuchte auf die Fensterbank zu klettern, rutschte zurück, versuchte es noch einmal, gab auf. Isabelle sah das verschwollene Gesicht, streckte die Hand aus, um ihr zu helfen. Sie mußte sich hineinlehnen, das Kind klammerte sich an ihre Hand, ließ plötzlich los und schaute sie mißtrauisch an. Aber was soll ich tun, dachte Isabelle, Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie drehte sich weg. Dann lief sie los.
Dave klingelte, klingelte noch einmal, reckte sich zum Fenster, klopfte, ging zurück auf die Straße und stellte sich auf die Zehenspitzen. Da war das Sofa, der Tiger darauf. — Sara, rief er, Sara, bist du da? Er starrte die Frau, die mit einer Hand eine viel zu weite Hose festhielt, mißtrauisch an. — Dave, wiederholte sie, du bist Dave, nicht wahr? Er nickte, verstand nur einen Teil dessen, was sie sagte, mit der freien Hand die Straße hinunterzeigend, — sie ist bei Jim, sagte sie, wiederholte noch einmal, bei Jim. Sie zitterte, Dave wußte nicht, ob er etwas tun mußte, aber da wandte sie sich ab, und zögernd fing er an, die Straße hinunterzugehen, zu Jims Wohnung. Er spürte ihren Blick, drehte sich noch einmal um, winkte hilflos, sie schüttelte den Kopf, anscheinend weinte sie, und er rannte los. Niemand öffnete, doch dann sah er das offene Fenster, beugte sich hinunter. — Sara, rief er leise, Sara, bist du hier? Auf dem Sofa bewegte sich etwas, unter einer Decke tauchte ihr Gesicht auf, ein heller Fleck. Er hockte sich auf die Fensterbank, sprang hinein. — Little cat, flüsterte er, was ist passiert?
Isabelle saß unten, noch immer in Jims Kleidern, es wurde dunkel, sie schaltete das Licht nicht ein. Irgendwann stand sie auf, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser, trug es hinunter, vergaß es, bis später ihr Blick auf den runden Arbeitstisch fiel, auf dem das Glas in einem schwachen Lichtstrahl stand, der durch die Blätter der Platane von der Straße ins Zimmer drang, unstetig, da ein leichter Wind die Blätter hin und her bewegte. Es klang, als würde es regnen, aber sie stand nicht auf, um nachzuschauen. Das Telefon klingelte, klingelte, hörte auf, bevor der Anrufbeantworter ansprang. Das Blinken signalisierte fünf Nachrichten. Bei jedem Auto, das vor dem Haus verlangsamte, bei jedem Geräusch, das hereindrang, hob sie den Kopf, aber dann war sie vielleicht eingeschlafen, denn plötzlich waren Stimmen in der Wohnung nebenan, in einem Aufruhr, aus dem sich erst allmählich einzelne Geräusche lösten, etwas, das gegen die Wand stieß, mehrmals hintereinander, eine Männerstimme, von Stille gefolgt, die sie dazu brachte aufzustehen, unmöglich zu sagen, wie lange das andauerte und wer Kräfte zu einem neuen Ansturm sammelte, sie stand auf, trank das Glas Wasser in einem Zug leer, roch den Geruch der Kleider, ihre Hand hielt mechanisch die Hose fest. Wieder klingelte das Telefon, diesmal sprang der Anrufbeantworter an, sie hörte Jakobs Stimme, — ich habe dich den ganzen Tag nicht erreicht, aber obwohl er besorgt klang, war seine Stimme so klar und glücklich, daß sie auf den Apparat zuging, — mit Bentham, sagte er, wir waren eigentlich nur spazieren und treffen Schreiber erst morgen, sie lauschte zur Wand hin, und Jakob zögerte, — es tut mir leid, ich hätte dich fragen sollen, ob du mitkommen willst, ein Pochen an der Wand lenkte sie ab, wie ein Klopfzeichen, — sei nicht böse, sagte Jakob, sie nickte mechanisch mit dem Kopf, ging auf die Wand zu und preßte ihr Ohr dagegen, hielt den Atem an. — Morgen oder übermorgen, sagte Jakobs Stimme, bevor die Verbindung abbrach und ein erneuter Schlag gegen die Wand, wie von einer Faust, sie zusammenzucken ließ. Die Hose rutschte über ihre Hüften, sie schluchzte, verfing sich mit dem Fuß in einem der Hosenbeine, stolperte, aber da war sie beim Telefon, wählte die drei Ziffern, die vorsorglich auf dem schwarzen Plastikgehäuse des Geräts klebten, umklammerte den Hörer, wiederholte die Adresse zweimal, bevor sie in die Frage nach ihrem Namen hinein auflegte und wieder den schweißigen Geruch des T-Shirts roch.
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