Magda war gerade aufgewacht. Mit großen, verwunderten Augen schaute sie ihn an, nahm vorsichtig seine Hände und führte ihn ins Bad. — Hast du kein Kodan? fragte sie und wusch, als er, unfähig zu sprechen, den Kopf schüttelte, mit lauwarmem Wasser vorsichtig die Wunden aus. — Die Hose kann in den Müll, konstatierte sie, vor ihm kniend. — Mein armes Herz. Er ließ sich zum Bett führen und zudecken.
In der ersten Abenddämmerung spürte er, wie Magda aufstand, sich hinausschlich, dann schlief er wieder ein. Als er aufwachte, fand er in der Küche Croissants und frische Milch, auf dem unbenutzten Teller lag ein Zettel, ein Lastauto war darauf gemalt und ein Fragezeichen. Er rief Peter an und fragte, ob noch leere Umzugskisten da seien. — Sechs Stück, sagte Peter, wozu brauchst du sie?
— Ich ziehe zu Magda, wenn es geht noch heute. Erstaunt bemerkte Andras, daß er ängstlich in das Schweigen horchte. — Peter? Bist du noch da? Warum sagst du nichts?
— Du ziehst zu Magda? Wirklich? Andras, ich fasse es nicht. Das ist ja großartig. Ich dachte schon, du willst bis an dein Lebensende Isabelle nachweinen.
Eine Stunde später klingelte es, und Peter stand vor der Tür, die leeren Kartons neben sich. — Ich muß gleich wieder runter, Sonja wartet im Auto. Peter zögerte, dann grinste er verlegen, umarmte Andras kurz, verschwand.
Nur das Wichtigste, dachte er, zwei Kartons mit Kleidern, zwei mit Büchern, zwei mit Papieren, den Rest räume ich dann auf. Als er beinahe fertig war, fiel ihm ein, was er geträumt hatte, einen ähnlichen Traum wie vor ein paar Monaten. Sie stand in einem kahlen Zimmer nackt im Neonlicht, älter und kleiner, als er sie erinnerte, eine alternde Frau mit einem Kinderkörper. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, sie verbarg es in den Händen.
Er würde, dachte Andras, ihr eine Mail schreiben und vorschlagen, ob sie nicht für ein paar Tage nach Berlin kommen wolle. Das neue Büro war immer noch nicht fertig eingerichtet, in Isabelles Zimmer, sie hatte ein eigenes Zimmer mit einem Fenster vor der Kastanie im Hof, standen die Kisten und der Computer unausgepackt, es war so viel zu tun, und warum sollte es nicht eine Art Neuanfang sein, new concept — new life , für sie auch. Es klopfte, klingelte nicht, sondern klopfte. Einen Augenblick durchfuhr es Andras, daß Isabelle vor der Tür stehen würde, und sein Herz schlug aufgeregt. Aber es war Herr Schmidt. Er hatte einen kleinen altmodischen Koffer aus Pappe in der Hand. — Ich dachte mir, daß Sie bald ausziehen, sagte er mürrisch in Andras’ erschrockenes Gesicht. — Es tut mir leid, Andras hob hilflos die Hand. — So ist das, sagte Herr Schmidt, gestern habe ich einen Koffer gefunden, heute ziehe ich aus. Es könnte auch anders sein. Ich habe am Bahnhof übernachtet, obwohl ich es nicht mußte. Die Imbißstuben sind sehr gut. Freundlich. Und dann der Koffer, leer, beim Briefkasten, Sie wissen doch, an der Brücke. Kein Zufall, dachte ich, also zieht er aus, und ich ziehe auch aus. Er griff nach dem Koffer und nickte und ging die Treppen hinunter. — Aber können wir Sie nicht irgendwo hinbringen? rief Andras. Und wollen Sie nicht den Kocher mitnehmen? Doch Herr Schmidt schüttelte den Kopf, winkte und stieg weiter vorsichtig die Stufen hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Er gab ihr eine Decke und sagte, sie dürfe auf dem Sofa schlafen, so wie ihr Bruder. Es war halb zehn Uhr abends, und ihm gefiel, wie sie dalag und vielleicht wirklich gleich einschlief. Um halb elf ging er noch einmal nach draußen, er schloß die Tür hinter sich ab, ging die Straße hinauf, und als er die Fenster der Hausnummer 49 dunkel fand, war er verärgert, als wäre sein Plan vereitelt. Er hatte einen Plan. Er würde morgen nach Glasgow fahren, seine Sachen waren schon gepackt, die Tasche stand griffbereit im Schlafzimmer, er mußte sich nur noch aufraffen. Pete, der Türsteher vom Broken Night , hatte ihn gewarnt, es seien zwei nicht so nett aussehende Männer dagewesen, um nach ihm zu fragen. Zufällig war Jim in ihn hineingerannt, auf der Iron Bridge, er schuldete Pete immer noch das Geld, er hatte nicht vorgehabt, ihm seinen Anteil zu geben, und dann war Pete so anständig und warnte ihn, hatte grinsend gesagt, es wäre eh nur eine kleine gute Tat gewesen, um sein Karma günstig zu stimmen, und was Jims Karma anginge, könne er ihm nur raten, aus der Stadt zu verschwinden, denn wenn er jetzt wiedergeboren würde, dann womöglich als Regenwurm oder als Spatz. Aber es gibt ja kaum noch Spatzen, dachte Jim, als er die Lady Margaret Road wieder hinunterging, nicht einmal das; ihm war, als hätte Isabelle ihn betrogen. Das Kind lag auf dem Sofa und schlief, anscheinend tat es nicht nur so, denn als Jim ein Feuerzeug dicht an seine dünnen Haare hielt, zuckte es nicht, atmete ruhig weiter. Schlief. Es sah sogar nett aus, es war nett, nach Hause zu kommen und ein schlafendes Kind vorzufinden, nur war es nicht sein Zuhause, morgen wollte er abhauen, und er trank ein Bier, ging ins Schlafzimmer, obwohl er meistens im Wohnzimmer schlief, damit er die Tür hörte, damit er die Sachen im Auge behalten konnte, aber auf dem Sofa schlief das Kind. Er zog seine Jacke aus, warf sie zu Boden und streckte sich auf dem Bett aus. Mitten in der Nacht hörte er das Kind wimmern, es hatte ihn aufgeweckt. Anscheinend war es aufgestanden, statt weiterzuschlafen, Jims Hand ballte sich wütend, ein Geräusch, als wäre es gegen den Tisch gestoßen, wahrscheinlich die Ecke des Glastisches, idiotisches Ding, der Glastisch, das Kind, und vielleicht war es durstig. Aber er war zu müde und zu faul, um aufzustehen, womöglich war es keine gute Idee gewesen, das Kind hierher zu bringen, wenn Isabelle nicht da war, er wußte nicht einmal, ob sie nicht weggefahren war. Er lauschte, ein leises Wimmern war zu hören. Dann schlief er wieder ein.
Etwas im Traum ließ ihn morgens hochschrecken, er duckte sich, vor irgend etwas, das häßlich war. Als er die Augen öffnete, stand vor ihm das Mädchen, so wie er es gestern gefunden hatte, ein spitzes Gesicht, nicht hübsch, und dann merkte er, daß sie roch. — Kannst du dich nicht waschen? Du stinkst. Sie zog sich einen halben Schritt zurück, als er sie musterte, bemerkte er einen dunklen Fleck auf ihrer grauen Hose, eine Art Jogginghose, oben zusammengeschnürt. Das war es, dachte er, sein Fehler, daß er falsche Entscheidungen traf, daß er nicht die richtige Entscheidung traf, Ben nicht wegschickte, Mae gegenüber zu nachgiebig war, und jetzt das Kind, das er sich aufgehalst hatte. Es stand ganz starr da, gleich fing es an zu heulen, und dann wollte es bestimmt etwas zum Frühstück, Milch und Cereals oder Brot mit Marmelade. Er richtete sich auf und sah belustigt, wie das Mädchen aufstand, ins Wohnzimmer floh, sich auf das Sofa setzte, die Hände auf den Knien und mit gesenktem Kopf, mit jedem Schritt, den er sich näherte, wurde es steifer. Wenn er sie berührte, würde sie entzweibrechen wie eine Porzellanpuppe mit einem Sprung. Aber plötzlich hob sie mit einem Ruck den Kopf und schaute ihn direkt an, gezielt, unnachgiebig. Er mußte wegsehen. Er ging ins Bad, zog sich aus, rasierte sich. Spitzte die Lippen, wie er es oft tat, als müßte er eines Tages von alleine pfeifen können, aber es kam nur Luft und Spucke. Als er geduscht hatte, war er noch immer wütend. Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüften, ging ins Wohnzimmer. Sie saß da, ohne sich zu rühren. — Steh auf, herrschte er sie an, sie gehorchte, verbissen, widerwillig. — Vielleicht machst du uns wenigstens Frühstück, oder wie stellst du dir das vor, daß ich dich bediene? Sara schob sich hinter dem Tischchen hervor, er trat ihr in den Weg. Atmete ihren Geruch ein, begriff endlich. — Shit, hast du in die Hose gemacht? Hast du in die Hose und auf mein Sofa gepinkelt? Jim faßte sie an der Schulter, wie ein Vogel, so mager, dachte er. Er zwang sie, den Kopf zu heben. Aber sie weinte nicht. Sie stierte vor sich hin, mit fast übermenschlicher Konzentration, weinte nicht. Stand da. Das letzte Hindernis, bevor er sich nach Glasgow aufmachte, sie und Isabelle, bevor er diese ganze beschissene Stadt hinter sich lassen konnte, die alles kaputtmachte, nichts übrigließ. Es war schon zehn Uhr. Jim wandte sich um. Etwas Helles tauchte vor seinen Augen auf, blendete ihn, er mußte die Augen schließen. Ein grelles, weißes Licht. — Wasch dich wenigstens, sagte er, ich habe nichts zum Anziehen für dich. Er ging in die Küche, hörte ihre Schritte, die Badezimmertür, die sie hinter sich schloß, Wasser. Setzte Teewasser auf. Suchte Kekse, Toast. Zog ein Tablett heraus, stellte zwei Becher darauf, grinste, Hisham wäre zufrieden mit ihm, kramte in aufgerissenen Packungen, die noch von Damian waren. War da nicht Honig? Kein Honig, aber ein Glas Marmelade, oben eingetrocknet, aber nicht schimmelig. Mae hatte Frühstück gemacht, wie es sich gehörte, mit Eiern und Schinken, sie hatte einen Toaster gekauft, ohne ihn zu fragen, einen Toaster, um morgens das Brot zu rösten. Er trug das Tablett ins Wohnzimmer, nahm die Dekke, faltete sie zusammen, roch daran, fuhr mit der Hand über das Sofa, nicht mehr schlafwarm, trocken. Sie hatte das Bad nicht gefunden und sich dann hingestellt, um in die Hose zu machen, das Sofa zu schonen. Fehlte nur Isabelle, dachte er. Isabelle, die Eier in der Pfanne briet und fragte, ob er Schinken wolle. Er goß die Tassen voll, löffelte Marmelade auf einen Keks. Sein Handy klingelte. Auf dem Display war keine Nummer, es war nur verdammte Neugierde, daß er antwortete, wieder eine seiner idiotischen, falschen Entscheidungen, er hoffte tatsächlich, Hisham könnte ihn anrufen. Aber da war nichts, nur ein Atmen in der Leitung, eine Frau, dachte er, mühsames Atmen und keine Antwort, als er fragte, wer da war, wer in der Leitung war, verdammt? — Wer ist da? rief er, und dann legte sie auf, und er rief: Mae? Bist du das? Mae?
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