— Ich möchte nach Hause gehen, sagte Jakob still. Er löste sich von dem Gitter, zögerte nur einen Augenblick, dann lief er los, ohne sich umzudrehen. Isabelle und Alistair standen reglos. — Was ist denn? fragte Isabelle hilflos und spürte, daß sie mit den Tränen kämpfte. — Was ist denn nur?
— Das solltest du wissen, erwiderte Alistair.
— Aber was war das mit Bentham, was hat das mit euch zu tun, die Fotos und all das?
— Was das mit uns zu tun hat? Wenn Engländer im Irak foltern und Kinder erschießen? Alistair zuckte mit den Achseln. — Wahrscheinlich nichts. Hauptsache, uns geht es gut. Er grinste Isabelle an, kalt, boshaft. — Es ist aber nicht deswegen, sagte Isabelle.
— Kann schon sein, sagte Alistair. Komm, wir gehen etwas trinken. Dann hat Jakob Zeit, sich zu beruhigen. Oder streitet ihr gar nicht?
Isabelle schüttelte den Kopf. — Wir streiten nicht. Jakob war schon um die Ecke verschwunden, sie dachte, daß er nicht nach Hause gehen würde. Wahrscheinlich wußte er nicht, wohin mit sich. — Worüber sollten wir auch streiten? Alistair trat auf sie zu, nahm ihr Gesicht in seine Hände. — Was du so denkst, sagte er, was wohl in deinem Kopf vorgeht?
Zwei Stunden lief Jakob durch Camden, in der Hoffnung, die Straße wiederzuerkennen, in der Miriam wohnte, aber er fand sie nicht. Schließlich fuhr er ins Büro zurück. Mister Krapohl räumte noch in der Bibliothek Bücher aus einem Regal in ein anderes, sonst waren alle gegangen, von Alistair und Isabelle keine Spur. Jakob überlegte, Alistair auf seinem Handy anzurufen, dann entschied er sich dagegen. Es ist nichts passiert, dachte er, aber er war unruhig. Auf seinem Schreibtisch lag ein Zettel von Maude, Mister Miller hatte angerufen und bat um Rückruf. Der zweite Zettel lag darunter, er war von Bentham. Lassen Sie uns nach Berlin fahren. Mir würde eine kleine Reise guttun, Schreiber ist begeistert. Wenn Sie einverstanden sind, fliegen wir morgen um elf Uhr von Heathrow. Wenn nicht, rufen Sie mich bitte kurz zu Hause an. Ich habe drei Flüge reserviert, falls Ihre Frau uns begleiten möchte.
Jakob hielt den Zettel in der Hand, dann faltete er ihn sorgfältig zusammen. Er sah Bentham so deutlich vor sich, als wäre er bei ihm. Dann packte er zusammen, was er an Papieren für die Reise brauchte.
Isabelle kam erst gegen Mitternacht, sie wirkte angetrunken, fiel ihm um den Hals und fragte nicht, wo er gewesen sei. Als er ihr sagte, er wolle morgen mit Bentham nach Berlin fliegen, schien sie zu erschrecken. Sie ging in die Küche und holte sich ein Glas Rotwein. — Wie lange denn? Jakob zögerte. — Nur zwei oder drei Tage. Ihr Gesicht sah klein aus. — Gleich morgen früh? fragte sie.
Sie ging zu Bett und schlief sofort ein. Er streichelte die Decke über ihrer Schulter, sie atmete gleichmäßig, und er schämte sich, daß er sie nicht gefragt hatte, ob sie mitkommen wolle. Zwei Anzüge und Hemden hatte er schon gepackt.
Am Morgen schlief sie noch, als er aufstand, er überlegte, sie aufzuwecken. Doch dann schrieb er nur auf einen Zettel, daß er sie später anrufen werde, legte Geld auf die Kommode in ihrem Arbeitszimmer — in der Schale lag nur eine einzige Zwanzig-Pfund-Note — und ging hinaus. Wie ein Dieb, dachte er, aber als er in die U-Bahn einstieg, war er aufgeregt und glücklich. Sobald sie in Tegel gelandet wären, würde er Isabelle anrufen.
— Ich weiß nicht, sagte sie, und als Andras ungeduldig fragte, — warum weißt du nicht, wie es dir geht? gab sie keine Antwort. Man hörte ein Rauschen in der Leitung, und es war schwer, sich vorzustellen, daß es nicht tatsächlich eine Leitung, etwas Dünnes, aber Solides gab, das sie auf irgendeine Weise verband. Andras drehte sich um, öffnete das Fenster, obwohl es draußen kühl war, herbstlich schon, und beugte sich ein Stück hinaus, als müsse er die Entfernung zwischen sich und Magda einmal noch vergrößern. Er hielt das Telefon fest umfaßt, damit es nicht hinunterfiel, und da Isabelle nichts sagte, hielt er, dachte er bei sich, ihr Schweigen in der Hand, hielt es aus dem Fenster, konnte es tragen, wohin er wollte. Sie sagte nichts. Und nachdem er den Fernsehturm betrachtet hatte, das im Tageslicht blasse Aufleuchten und Verlöschen der Reklametafeln, wandte er sich zurück, trat zum Tisch, an dem Magda saß, nahm ein Papier und einen Stift und schrieb, wenn du mich noch willst, ziehe ich zu dir . Magda lächelte, berührte leicht seine Hand und ging ins Schlafzimmer. — Isabelle, was ist mit dir? fragte er noch einmal. Sie sagte noch immer nichts, er konnte hören, wie sie atmete, flach, schabend, wie ein Tier, dachte er, das im Käfig hin- und herläuft, er ärgerte sich darüber. — Andras, kannst du mich besuchen kommen? Er spürte, wie das Telefon in seiner Hand feucht wurde. Drei Monate früher, er spürte einen stechenden Schmerz, wenn sie ihn drei Monate früher gefragt hätte, wäre er nachts ins Büro gelaufen, um einen Flug zu buchen. — Andras, sagte Isabelle, kannst du kommen?
— Ist etwas passiert? fragte er, geht es dir nicht gut? Ihr Atmen stockte, für einen Moment war es ganz still. Im Schlafzimmer raschelte etwas, vermutlich hatte Magda sich mit einem Buch hingelegt, wartete, bis er fertig telefoniert hatte. Vom Dachboden konnte er Schritte hören, armer Herr Schmidt, dachte Andras, was sollte aus ihm werden, wenn er auszog und die Besitzer anfingen, das Haus zu sanieren? Er ging wieder ans Fenster, schaute nicht hinaus, sondern drehte sich um und betrachtete das alte Sofa von Tante Sofie und Onkel Janos. Erinnerst du dich an das rote Sofa, wollte er sagen, aber er unterließ es. Sie wußte auch so, daß er nicht kommen würde. Zu spät, dachte er, nur war das nicht die richtige Beschreibung, denn die Zeit und was in ihr geschah war nie ein und dasselbe, nie eine Linie, die unregelmäßig verlaufen mochte, sich aber zurückverfolgen ließ. Die Zeit verbindet nichts, dachte er. Sie zerstückelt auch nichts; verbindet nicht, zerstückelt nicht, wie halten wir das nur aus. Als wäre, was Isabelle und ihn verband, ebenso ausgedient wie das Sofa, ein Gegenstand, der nicht länger gebraucht wurde, gleichgültig, wie viele Erinnerungen sich damit verknüpften. — Ich glaube nicht, sagte er, korrigierte sich. Nein, Isabelle, ich komme jetzt nicht nach London. Sie schwieg, dann lachte sie, lachte mit der vertrauten, geliebten Stimme, Schulranzenstimme, dachte er, noch einmal, und er sah das Mädchen mit dem roten Rock vor sich, rennend. — Zeichnest du viel? unterbrach er ihr Lachen. — Malst du wieder? fragte sie zurück, es war etwas unangenehm Scharfes in ihrer Stimme. — Ich ziehe zu Magda, sagte er, vielleicht fange ich bei ihr wieder an zu malen.
— Deswegen kommst du nicht?
Es gab Andras einen Stich ins Herz. — Und Sonja ist wirklich schwanger? fragte Isabelle, und ihr seid in die Potsdamer Straße umgezogen, und du ziehst zu Magda, nach Charlottenburg? Es wird nichts mehr so sein, wie es war, sagte sie, dann legten sie beide auf.
Magda war beim Lesen eingeschlafen, er deckte sie behutsam zu, schrieb ihr einen Zettel und ging hinaus. Auf der Torstraße war nur wenig Verkehr, er dachte, daß er Jakob anrufen könnte, dann tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein Auto auf, hupte, und Andras sprang auf den Bürgersteig, stolperte. Mit den Händen konnte er den Sturz aufhalten, so daß seinem Gesicht nichts passierte, aber sein Knie war aufgeschlagen, die Handflächen brannten, beide Ballen waren aufgeschürft. Eher verblüfft als erschreckt setzte er sich auf und betrachtete durch den Riß des Stoffes sein Knie. Anscheinend war er auf ein spitzes Steinchen oder eine Scherbe gefallen, aus einer etwa drei Zentimeter langen Wunde quoll das Blut, sammelte sich und lief, unter dem Stoff, das Schienbein entlang. In der Jackentasche suchte er nach einem Taschentuch, fand nichts, blieb sitzen, um abzuwarten, bis das Blut geronnen war. Es dauerte nicht lange. Als er vorsichtig aufstand, traten ihm Tränen in die Augen, ärgerlich schüttelte er den Kopf, aber er weinte doch und mußte über sich selbst lachen. Sein Herz pochte unruhig, als er die Straße wieder überquerte, humpelnd, lachend, tränenblind die Choriner Straße hinaufging.
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