Obwohl die Rasenflächen sich schon bräunlich verfärbten, war es so mild und angenehm in der Sonne, daß sie sich an den Teich setzten und Tee tranken, — natürlich, sagte Bentham, gibt es hier nur schlechten Kaffee und schlechten Tee; er aß die Hälfte von Jakobs Muffin und sah zufrieden aus. — Das ist natürlich lächerlich, wenn man an eine richtige Tee-Mahlzeit denkt. Wir sind früher gerudert und dann nach Hause gelaufen, wo unsere Haushälterin schon den Tisch gedeckt hatte, es gab Kuchen und Marmelade, Toast natürlich. Sie wollte, daß wir Obst essen. Sie hat damit geprahlt, wie gesund sie sei, daß sie nie krank wurde. Und wirklich hatte sie nie eine Erkältung. Aber dann entwickelte sich eine Geschwulst, und sie wurde wunderlich.
— Ein Tumor? fragte Jakob.
— Nein, nicht im Kopf, aber sie wurde trotzdem seltsam. Wir bemühten uns, möglichst lange darüber hinwegzusehen, bis sie eines Tages anfing, die Sofas und Sessel aufzuschlitzen. Sie sah es selbst am nächsten Morgen und schrieb uns einen Brief, in dem sie bat, daß wir nicht nach ihr suchen sollten. Graham war verzweifelt, und ich auch. Sie hatte Zeichen in einen Schrank geritzt, wir haben lange überlegt, ob wir ihn restaurieren lassen.
Er brach noch ein Stück Muffin ab und warf es einer Ente zu. — Schade, daß es kaum noch Spatzen gibt. Jemand hat mir gesagt, daß Spatz auf hebräisch dror heißt, Freiheit. Anscheinend sind sie ausgewandert. Seit ich ihren Namen kenne, ihren hebräischen Namen, meine ich, sind sie mir noch lieber.
— Und Sie haben sie wirklich nie gesucht, Ihre Haushälterin?
— Nein. Wir haben sie auf Umwegen unterstützt, Graham fand eine Möglichkeit. Wir haben den Schrank gelassen, wie er war. Die Vergangenheit findet immer Gegenstände, an denen sie sich ablesen läßt.
— Stimmt es, daß Sie Bensheim hießen? fragte Jakob.
— Ja, meine Eltern haben den Namen in Bentham anglisiert. Ich bin sogar vor ein paar Jahren nach Deutschland gefahren, um mir das Städtchen anzusehen. Ein hübscher Ort.
Der Wind wurde um weniges stärker, ein Junge setzte vorsichtig sein Segelboot ins Wasser, die weißen Segel neigten sich bedenklich, aber der Kiel hielt das Boot, und als seine Mutter lachend zu ihm rannte, war es zu spät, das Boot war schon auf Reise gegangen, es richtete sich auf und gewann an Fahrt. Der Junge aber begriff noch nicht, daß es ihm außer Reichweite geriet, stolz lachte er seine Mutter an, sie standen Hand in Hand am Wasser, und es war möglich, daß das Schiffchen das gegenüberliegende Ufer erreichen, sich dort an Land holen lassen würde. Jakob konnte die Augen nicht von der Mutter abwenden, sie erinnerte ihn an Miriam, hoch aufgerichtet stand sie da, und wenn es auch mit Tränen enden mochte, dachte Jakob, so würde sie ihren Sohn doch trösten können. Glücklich fühlte er, daß Bentham die Szene ebenso gut gefiel wie ihm, und einen Moment spürte er Benthams Hand auf seinem Arm.
— Die Landschaft dort ist im Frühling wunderbar, so anmutig und freundlich, daß ich mir ausgemalt habe, wie es wäre, jedes Frühjahr an der Bergstraße zu verbringen, man würde wohl jedes Jahr von neuem staunen, wie ein Mensch nur staunen kann. Das ist überhaupt das beste, Staunen über jede Art von Schönheit, auch wenn sie flüchtig, auch wenn sie käuflich ist. Ich habe es ernsthaft in Erwägung gezogen. Es gab ein kleines Haus, eine kleine Villa, in der ich als Mieter willkommen gewesen wäre.
— Und Ihr Lebensgefährte?
— Er war ganz einverstanden, unbefangener als ich, versteht sich. Dann ist er allerdings verunglückt. Ich hatte nie damit gerechnet, von uns beiden übrigzubleiben.
Bentham schwieg eine Weile. — Übrigbleiben scheint meine besondere Spezialität zu sein. Wenn man jemanden liebt, dann glaubt man mit all der Zutraulichkeit dieser Liebe an einen gemeinsamen Tod.
— Außer meiner Mutter habe ich nie jemanden verloren, sagte Jakob.
— Das reicht auch, denke ich, in Ihrem Alter? Es ist übrigens nicht so sehr der Schmerz, der zerstörerisch ist. Eher die Blindheit, die er mit sich bringt, der Wunsch, die Augen nicht zu öffnen, nichts zu sehen, was einen vom Bild des Geliebten entfernen könnte, und es dauert lange, bis man begreift, was zur Vergangenheit dazugehört, daß sie sich weder berühren noch verändern läßt, egal wie gewaltsam man sich in ihre Nähe drängt. Daß man alles verliert, wenn man nicht hinnimmt, was vergangen ist, aus dieser unbarmherzigen Distanz, die einen vor allem deshalb quält, weil sie die eigene Distanz zu den Dingen ist.
— Und zu denen, die lebendig sind?
Bentham lachte. — Sie meinen, das sei doch wichtiger? Da haben Sie recht. Aber jemand wie ich ist mit einer abwesenden Geographie aufgewachsen, mit einem Zuhause, das als Foto, als Adresse, als Name existierte, aber unerreichbar blieb. Ich kannte die Biegung des Treppengeländers in unserem Frankfurter Haus auswendig, nicht aus der Erinnerung, sondern von den Fotos, ebenso die Kommode, die im ersten Stock stand, darüber ein Spiegel. Für mich war das immer das Bild der Wohlproportioniertheit, einer sinnvollen Anordnung. In England gab es für mich nichts dergleichen. Man muß erst lernen, daß man zurückkommt und etwas Neues findet, das ist der Sinn der Zwiesprache mit den Toten, mit dem, was man verloren hat.
Jakob suchte die junge Frau und das Kind mit den Augen. Sie standen am anderen Ufer, der Junge hatte einen Stock gefunden und beugte sich, während seine Mutter ihn fest an der Hand hielt, so weit als möglich nach vorne.
— Ich kann mir nicht vorstellen, hier für immer zu leben, sagte Jakob unruhig. Dabei würde ich es gerne. Ich bin gerne hier.
— Warum sollten Sie auch hierbleiben?
— Es kommt mir so absurd vor, sich davon bestimmen zu lassen, wo man geboren ist.
Bentham lachte. — Aber man sucht es sich ja nur selten aus. Immerhin sucht man sich überhaupt manches aus. Er stand auf. — Hören Sie, jetzt gehen wir noch ein Stück, ich werde Sie mit dem Fazit meiner endlosen Rede wenigstens verschonen. Gibt es wahrscheinlich auch nicht, das Fazit, meine ich. Außerdem, offen gestanden, liebe ich diesen Park zwar, und schauen Sie nur, da stehen die beiden noch immer und warten auf die Ankunft ihres Schiffleins. Aber ein Whisky, das wäre jetzt gut, es ist so eine nette Gewohnheit.
Sie gingen Richtung Südosten, überquerten die Devonshire Street, Bentham einen halben Schritt voran, und Jakob schwieg, bis sie das Pub erreichten, wo ein alter Kellner Bentham mit einem knappen Kopfnicken begrüßte und zwei Whisky an den Tisch brachte.
— Maude wäre nicht erbaut, sagte Bentham. Nicht wegen des einen Whiskys, sondern weil sie weiß, daß ein zweiter folgen wird. Nett von Ihnen, daß Sie ein so geduldiger Begleiter sind. Und ich habe nicht einmal gefragt, wie es Ihnen und Ihrer Frau geht.
— Es geht uns gut, sagte Jakob, zögerte. Er lächelte. — Es geht mir wirklich gut. Bentham saß zufrieden, ein bißchen abwesend da, das Glas in der Hand. Ich bin glücklich, wollte Jakob sagen, aber der Satz war wie ein Holzpüppchen, das man behutsam aufstellte und das sich doch nur einen Augenblick hielt, bevor es umkippte. Nicht schlimm, dachte Jakob, man kann es im Gleichgewicht halten, muß nur ganz leicht nachhelfen, mit einem Finger. — Aber es ist verwirrend. Ich meine, die Vorstellung, daß sich das Leben wirklich verändert.
— Sie meinen, verändert, und man weiß doch nicht was und wie?
Aber Jakob fühlte, daß er auf unsicheres Terrain geriet, und verstummte. Mit einem Finger ganz leicht über Benthams Hand oder Gesicht streicheln, die schweren Lider und die Brauen, damit er sich später besser an sein Gesicht erinnerte, das war es, was er wollte. Es war Begehren und doch wieder nicht, nicht das, was er für Isabelle empfand, wenn er ihr Gesicht liebkoste, obwohl es ihm jetzt vorkam, als wäre auch dann jede Berührung ein Hilfsmittel des Auges. Er trank und spürte, wie der Alkohol wirkte, wie die Gedanken ihr Gewicht veränderten, so daß sie ihn in ihrer Klarheit nur verwunderten, ohne ihm weh zu tun. Daß er jemand war, der weder nahm noch gab, seine Anteilnahme echt, die Teilnahme aber bloß vorgetäuscht war. Er würde die Hand nicht ausstrecken, die altersfleckige Haut zu berühren; er spürte, daß Bentham von ihm nichts erwartete, und war traurig, ohne sich aufzuraffen, es zu ändern. Sein Glas war leer, er war zwar unbesorgt, aber er wußte, daß er später erschrecken würde.
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